Utøpilismus — Unternehmen als Retter von Mensch und Planet?

Erste Erkenntnisse zu den Chancen einer Wellbeing Economy

Franziska Winterling
Leadership und Organisation
6 min readFeb 22, 2021

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”A wellbeing economy is a vision of a sustainable future. We need an economy that prioritizes human and planetary wellbeing over the financial profit of an elite minority.” So lautet die Definition einer Wellbeing Economy durch die Organisation SEED (Smart Economics for the Environment and Human Development)¹. Als wir diese Beschreibung im Rahmen unserer Lernreise fanden, kam uns gleich die Assoziation zu einer Utopie. Denn der Zustand, das Wertesystem, welches die Wellbeing Economy anstrebt, scheint doch so weit von dem entfernt, in dem wir aktuell leben und wirtschaften, dass es beinahe etwas zu schön wirkt, um wahr oder auch nur möglich zu sein.

Seitdem sind wir tiefer in den Begriff und die Paradigmen einer Wellbeing Economy eingestiegen. Wir haben diese für uns klarer definiert und zu Implikationen und Modellen recherchiert, die eine Wellbeing Economy politisch, gesellschaftlich, unternehmerisch und auf individueller Ebene möglich machen würden. Unsere ersten Erkenntnisse auf dieser Reise möchten wir hier teilen.

Warum braucht es eine Wellbeing Economy?

Begriffe wie Zirkularität, soziale Gerechtigkeit und Klimaaktivismus sind gerade in aller Munde. Immer mehr Individuen, Organisationen, Regierungen und Unternehmen erkennen die Notwendigkeit, ihr Tun stärker im Sinne von Menschen und Planeten auszurichten. Doch mit diesen ersten Schritten und Versuchen scheint auch ebenso viel Kritik einherzugehen. Sich widersprechende Ansätze, Greenwashing-Vorwürfe, ans Licht gekommene Skandale und mehr — gerade in Branchen wie Fast Fashion, Lebensmittel und Mobilität — scheinen Entwicklungen zu mehr sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Nachhaltigkeit insbesondere für Unternehmen auch zu einem großen Risiko zu machen. Durch unsere Recherche möchten wir daher konkrete Wege erarbeiten und aufzeigen, wie Unternehmen starten können — sei es in einer Neugründung oder einem Transformationsprozess — und nachhaltige Praktiken für Mensch und Natur in ihren Strukturen und ihrem Handeln in den Mittelpunkt stellen können.

Ein entscheidendes Kriterium ist die Messbarkeit des Erfolgs. Um diesen nach den Prinzipien einer Wellbeing Economy neu zu definieren, haben sich zwei Kernthesen und Ziele aus unserer bisherigen Recherche herausgestellt. Für einige Staaten geht die zentrale Forderung einer Erfolgsmessung über das Bruttoinlandsprodukt hinaus. Ansätze wie die “Sustainable Development Goals” der UN oder der “Human Development Index” zeigen erste Alternativen auf. Für Unternehmen wird die sogenannte “triple bottom line” angestrebt. Diese bedeutet, dass auch unternehmerischer Erfolg nicht mehr allein am finanziellen Umsatz festgehalten werden sollte, sondern dass zwei weitere Maßstäbe ökologische Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit einbezogen werden, an denen das Unternehmen gemessen und bewertet wird. Wie diese Messbarkeit genau aussehen kann, ist aktuell in vielen Bereichen noch nicht ganz klar definiert. Wir werden darauf im folgenden noch genauer eingehen.

Was genau ist eine Wellbeing Economy?

Wann immer wir zu der Wellbeing Economy recherchierten oder forschten, fiel uns auf, dass das Thema extrem weitläufig und sehr komplex ist. Denn der Anspruch einer Wellbeing Economy ist es, eine neue wirtschaftliche Ordnung zu schaffen, in der Individuen ihr volles Potential verwirklichen können, Natur und Umwelt geschützt werden, Gleichberechtigung selbstverständlich in allen Bereichen unseres Lebens wird, und, und, und… Um eine solches Umstellung realisieren zu können, braucht es massives Umdenken bezüglicher unserer Definitionen von Erfolg, aber auch eine Transformation in sämtlichen Institutionen und Organisationen unserer Gesellschaft. Als Maßstab, wie eine solche Wirtschaft und Gesellschaft aussehen kann, helfen folgende Richtlinien, die die Wellbeing Economy Alliance als nicht verhandelbare Grundpfeiler beschreibt:²

1. Würde: jede:r hat die Mittel komfortabel, sicher und glücklich zu leben

2. Natur: ein regenerierender und bewahrender Umgang mit allen Elementen der Natur

3. Verbindung: das Gefühl von Zugehörigkeit und Institutionen, die dem allgemeinen Wohlbefinden dienen

4. Gerechtigkeit: bildet den Kern des wirtschaftlichen Systems, welches dazu beiträgt, dass die Unterschiede zwischen Arm und Reich massiv reduziert werden

5. Beteiligung: Bürger:innen setzen sich aktiv für ihre Gemeinschaften und lokale Ökonomien ein

In unserer Recherche möchten wir insbesondere darauf eingehen, was Unternehmen brauchen und tun können, um die Transformation zum Handeln im Sinne einer Wellbeing Economy zu schaffen. Die Wellbeing Economy Alliance selbst hat dazu sieben Dimensionen definiert, die Unternehmen in einer Wellbeing Economy bearbeiten sollten. ³

Wir haben diese Dimensionen wie folgt für uns verstanden:

  1. Business-Modell und Finanzierung: Hier geht es um einen integrativen Ansatz, in dem nachhaltige oder sozial gerechte Praktiken nicht nur Teil bestimmter Programme oder Spenden des Unternehmens sind, sondern im Kern dessen verankert sind, wie dieses sein Geld verdient und sich finanziert.
  2. Ownership und Governance: Ein Hauptanliegen dieser Dimension ist es, Entscheidungen zu dezentralisieren und alle Stakeholder des Unternehmens in diese einzubeziehen. Eine Möglichkeit, das umzusetzen, ist zum Beispiel ein Stewardship-Modell, in dem Einzelpersonen oder Kleingruppen die Stakeholder des Unternehmens, wie Umwelt, lokale Gemeinschaften, Kund:innen, Mitarbeitende, Investoren und Partner repräsentieren und gleichberechtigt in alle Entscheidungen einbezogen werden. Auch Stiftungsunternehmen und Verantwortungseigentum von Unternehmen sind viel diskutierte Ansätze.
  3. Partizipative Führung: Die Selbstorganisation von Teams spielt eine große Rolle in der Struktur von Wellbeing Economy Unternehmen. Um sicherzustellen, dass diese gelingt, ist es wichtig, dass alle Mitarbeitenden sich mit der Mission und dem Verantwortungsgefühl des Unternehmens identifizieren. Diese Dimension ist ein Schwerpunkt in unserer Recherche.
  4. Gemeinschafts- und Stakeholder-Engagement: Der Ansatz ist hier, dass Unternehmen sich nicht nur für sich selbst verantwortlich wahrnehmen, sondern auch für die Orte, an denen sie wirken, produzieren und ihre Produkte oder Services vertreiben. Eine Kernidee dieser Dimension ist es, dass Wellbeing Economy Unternehmer:innen zu Pionieren in ihren jeweiligen Industrien und Sektoren werden, die andere mitziehen und inspirieren können.
  5. Produkte und Services: In dieser Dimension liegt ein großer Fokus auf der Entwicklung von Produkten, die nicht nur Verkaufspotential und Kund:inneninteressen aufgreifen, sondern auch nachhaltige Materialien, Wiederverwendbarkeit und so weiter berücksichtigen. Ein weiterer Ansatz ist das Umdenken von Unternehmen wegzukommen vom “reinen” Verkauf von Produkten hin zum Anbieten von Serviceleistungen, beispielsweise statt des Verkaufs einer gewissen Anzahl von Leuchtmitteln, die Ausstattung eines Gebäudes mit Licht für einen bestimmten Zeitraum. Durch diesen Ansatz liegt es automatisch im Interesse der Unternehmen, qualitativ besonders hochwertige und langanhaltende Produkte herzustellen, da die Kosten für einen Austausch beim Unternehmen im Rahmen des angebotenen Services liegen.
  6. Impact-Messung: Hier liegt ein weiterer Fokus unserer Recherche, da Impact-Messung aktuell noch sehr individuell bei jedem Unternehmen selbst angesiedelt wird. Idealerweise sollte es übergreifende Standards geben, an die Unternehmen sich halten müssen. Diese müssen transparent gemacht werden, um Greenwashing und ähnliche Praktiken zu vermeiden.
  7. Wissensvermittlung: Ein Anliegen von Unternehmen in der Wellbeing Economy sollte es sein, ihre Systeme und Best Practices auch für andere zugänglich zu machen und so neue Standards zu setzen, die über den eigenen Erfolg hinausgehen.

Was hier verdeutlicht wird, ist die holistische Denkweise einer Wellbeing Economy. Es genügt nicht, sich einen Teilbereich vorzunehmen und das Erreichen dessen als Erfolg zu verbuchen. Vielmehr geht es um eine stetige Evolution, in der Unternehmen bei sich anfangen, Veränderungen umzusetzen und die so erarbeiteten Lösungen nach außen tragen, beziehungsweise Verantwortung auch für weitere Liefer- oder Produktionsketten, ganze Sektoren und so weiter übernehmen, um zu übergreifendem Wandel beizutragen.

Wie kann eine Wellbeing Economy in der Praxis aussehen?

Abbildung 1 — Recherche und Skizzen (Quelle: Eigene Darstellung)

Um unsere Recherche aus den luftigen Höhen der Utopie auf den Boden der Realität zu bringen, fokussieren wir unsere Recherche auf konkrete Beispiele, insbesondere wie unternehmerische Handlungen und Praktiken nachhaltige Veränderung hervorrufen können. Zwei Ansätze, mit denen wir in diesem Zusammenhang arbeiten, sind die “Teal Organisations” in Frederic Lalouxs “Reinventing Organizations” sowie Frithjof Bergmanns frühe “New Work, New Culture” Ansätze. Auch Purpose Stiftungen sind eine Bewegung, die wir uns in diesem Zusammenhang anschauen.

Wir haben Kontakt zu Unternehmen aufgenommen, die auf dem Weg zu verantwortungsbewussterem Handeln und gleichberechtigten Strukturen sind, um herauszufinden, wie sie ihre Transformation bewerkstelligen wollen.

Als drittes Standbein unserer Recherche arbeiten wir mit historischen und internationalen Beispielen, um daraus Chancen und Risiken für eine Wellbeing Economy heute ableiten und verstehen zu können.

Diese Recherche-Stränge werden wir in den kommenden Wochen noch weiter miteinander verbinden und sie hier auf dem Blog teilen. Dabei geht es uns auch darum zu zeigen, wie Ansätze einer Wellbeing Economy — auch wenn diese nicht vollkommen umgesetzt werden können und keinen unmittelbaren Zustand der Utopie hervorrufen werden — doch einen entscheidenden Teil der Transformation, insbesondere von Konzernen darstellen werden, die in den nächsten Jahren am Markt bestehen und erfolgreich sein wollen.

¹ SEED: “What does a wellbeing economy look like?”, http://www.smart-development.org/what-does-a-wellbeing-economy-look-like [abgerufen am 24.03.2021]

² Lisa Hough-Stewart, Katherine Trebeck, Claire Sommer, and Stewart Wallis: “What is a wellbeing economy? Different ways to understand the vision of an economy that serves people and planet”, 3. Dezember 2019, https://wellbeingeconomy.org/wp-content/uploads/2019/12/A-WE-Is-WEAll-Ideas-Little-Summaries-of-Big-Issues-4-Dec-2019.pdf [abgerufen am 24.03.2021]

³ Mira Bangel & Michael Weatherhead: “The Business of Wellbeing A Guide to the Alternatives to Business as Usual”, Januar 2020, https://wellbeingeconomy.org/wp-content/uploads/2020/01/The-Business-of-Wellbeing-guide-Web.pdf [abgerufen am 24.03.2021]

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