Von Holokratie bis OKRs — Welche Strukturen haben Netzwerkorganisationen?

Anina Schulz
Leadership und Organisation
9 min readMar 25, 2021

“It’s becoming harder for leaders and managers to perfectly outline a genius 5-year-strategy plan, as well as it is also impossible and ineffective for executives to weigh in on every little decision affecting the business.” — Max Lamers

Mit dieser Aussage fasst der Blogger Max Lamers, der sich mit Organisationsentwicklung beschäftigt, treffend die Grundherausforderung heutigen Leaderships zusammen, die neben dem Abbau bürokratischer Hürden in der Bewältigung steigender Komplexität liegt. In der IBM Global CEO Study gaben 80% der Topmanager*Innen an, dass ihr Organisationskontext komplexer wird, während sich dafür lediglich 50% gewappnet fühlten (vgl. small-business-tracker.com; o.J.).

Um ihre Wettbewerbsfähigkeit zu sichern, experimentieren in der freien Wirtschaft als auch im öffentlichen Dienst eine steigende Zahl von Unternehmen, die sich im Kontext einer komplexen und schnelllebigen Umwelt bewegen, mit netzwerkartigen Aufbau- und agilen Ablauforganisationsformen. Während wir in einem anderen Beitrag die Kultur solcher Organisationen beschreiben, ist im Folgenden mehr die Struktur von Netzwerkorganisationen anhand zweier Beispiele zu lesen.

Netzwerkorganisation ist nicht gleich Netzwerkorganisation

Beschäftigt man sich mit Netzwerkoganisationen (NWO), ist schnell festzustellen, dass es nicht “das eine” Konzept gibt, wie solche Organisationen aufgebaut sind. So ist oftmals von selbstorgansierten Teams, agilen Aufbauorganisationen, Objective and Key Results (OKR), Podularity, Schwarmorganisationen oder Holokratie zu lesen. Unser Ziel mit diesem Artikel ist es, repräsentativ zwei Ansätze vorzustellen: Den ganzheitlichen Ansatz der Holokratie und das Managementsystem der OKRs. Im Weiteren soll zudem beleuchtet werden, welche Rolle die Informationstechnik bei der Implementierung von netzwerkartigen Strukturen spielen kann.

Holokratie

Die Holokratie, im Englischen häufig auch Holacracy genannt, ist ein ganzheitliches „Betriebssystem“ (Pietrasch, 2019), das von dem US-amerikanischen Unternehmer Brian Robertson entwickelt wurde. Anstatt eine Struktur in Form personengebundener, hierarchisch angeordneter Positionen im Unternehmen zu nutzen, setzt Holokratie auf eine Struktur, in der Personen eine oder mehrere Rollen ausführen, die wiederum Teil einzelner, zweckorientierter Kreise sind (vgl. Pietrasch, 2019). Mehrere Kreise ergeben dann die Gesamtorganisation. Robertsons Beratungsagentur veröffentlicht auf der Seite Holacracy.org die frei verfügbare sog. Holokratie-„Verfassung“, in welcher die Regeln und Prozesse für Führung und operativen Betrieb in holokratischen Systemen definiert werden. Aus jener Verfassung werden die markanten Unterschiede zu traditionellen Unternehmensstrukturen deutlich, die in der hohen Autonomie der Rollen besteht.

Was genau bedeuten Rollen in der Holokratie?

Eigentlich nehmen wir immer und überall in unserem Leben unterschiedliche Rollen ein. Auch ändern sich unsere Rollen im Leben. Eine Mutter war zum Beispiel nicht immer Mutter. Auch wird das Kind irgendwann selbstständiger und kann selbst Verantwortung Tragen. Jede Rolle hat daher ihren eigenen Zweck, einen konkreten Handlungsbereich und Aufgaben und nicht zuletzt auch mit eingehende Verantwortung. Genau dieser Ansatz soll mit der Holokratie auch in das Unternehmen genommen werden. In Bezug auf Führung ist durch das Rollenprinzip nun die Verantwortung auf mehrere Personen im Unternehmen verteilt, Führung geschieht also durchaus temporär und wechselnd. Konkret befähigt und ermutigt also die Holokratie den/die Rolleninhaber*In, Entscheidungen aus dem Verantwortungsbereich der Rolle eigenständig zu fällen und somit die Macht von Mitarbeitenden außerhalb des Kreises, die fachlich häufig weniger kompetent sind, zu reduzieren (vgl. Röll, o.J).

Formalitäten und Transparenz gegen Chaos und Verwirrung

Damit die Holokratie bei wechselnden Rollen nicht im Chaos versinkt braucht es Fomalitäten und Transaprenz. Dafür verfügt jeder Kreis über verschiedene „Link“-/ bzw. Verbindungs-Rollen, die für die formale Abstimmung mit anderen (Sub-)Kreisen verantwortlich sind. Diese Rollen werden regelmäßig von den Mitgliedern des Kreises demokratisch gewählt (vgl. holacracy.org, 2015). Diese Form der Partizipation soll die Identifikation der Individuen mit dem Organisationszweck erhöhen.

Das Prinzip der Selbstorganisation zeigt sich weiter auch auf der Meta-Ebene. Die Kreise einer holokratischen Organisation treffen sich zu regelmäßigen Governance-Meetings, in denen die Struktur des Kreises weiterentwickelt wird. In solchen Meetings können Rollen verändert oder neu geschaffen werden oder aber auch anderen Kreisen zugeteilt werden — natürlich in Abstimmung mit diesen (vgl. Röll, o.J.). Ein Governance-Prozess in dieser Form ermöglicht eine hohe Flexibilität der Organisation. Mittels schneller Anpassung und Schaffung von Rollen oder Kreisen kann ein Unternehmen agiler als herkömmliche Strukturen auf Veränderungen der Umwelt reagieren. Zusätzlich verringert sich bei korrekter Implementierung die Gefahr, dass Transformationsprozesse von Vorgesetzten aufgrund der egoistischen Intention des Machterhalts blockiert oder aufgrund der Organisationskomplexität zu langsam bzw. falsch umgesetzt werden (vgl. Bernstein et. al., 2016).

Kritik am Holokratieansatz

Trotz dieser Vorteile wird häufig kritisiert, dass holokratische Organisationen aufgrund ihrer Prozessorientierung sowie der komplizierten Verfassung an die Menschen schwierig zu vermitteln sind und auch den individuellen Bedürfnissen der Organisationsmitglieder nicht hinreichend Beachtung schenken (vgl. Pietrasch, 2019). Zudem ist sie ein „ganzheitlicher“ Ansatz betrieblicher Organisationsformen, der demzufolge nicht nur in Teilbereichen, sondern überall in einem Unternehmen angewendet werden sollte, wodurch die Implementierung nicht nur verkompliziert wird, sondern ebenfalls auf den Unternehmenskontext in manchen Fällen überhaupt nicht anzuwenden möglich ist. Dass Holokratie nicht ganzheitlich angewandt werden kann, ist beispielsweise in Branchen mit hohem Anspruch an Compliance-Konformität der Fall, weswegen Bernstein et. al. im Harvard Business Review dazu aufrufen, trotz des Bestrebens Hierarchien abzubauen auch den Mut zu haben, sie zu verteidigen, sofern sie den „fundamentalen Zielen einer Institution“ (Bernstein et. al., 2016) dienen.

eigene Abb. (vgl.Cengiz, 2017)

Objectives & Key Results

Der oben vorgestellte, ganzheitliche Ansatz von Holokratie passt wie erwähnt nicht zu jedem Unternehmen und ist insbesondere in der Vermittlung an die Mitarbeitenden eine große Herausforderung. Aus diesem Grund versuchen viele namhafte internationale Unternehmen wie Google, Intel, Amazon oder Adobe netzwerkartige Strukturen in ihren großen Organisationen anzuwenden, die selbstorganisiertes Arbeiten mittels des Managementsystems Objective & Key Results in den Fokus rücken.

OKR sind ein somit ein Rahmenwerk, um in Organisationen eine Ausrichtung auf gemeinsame Ziele zu erreichen, während Individuen gleichzeitig autonom und damit selbstorganisiert agieren (vgl. Diehl, 2021). Im Rahmen eines i.d.R. dreimonatigen Zeitraums werden dazu 3–5 Objectives definiert. Objectives sind qualitative, ambitionierte Ziele. Diese sind durch jeweils 3–4 Key Results zu erreichen, welche als messbare, quantifizierbare und ebenfalls herausfordernde Ziele bezeichnet werden können (vgl. Lamers, 2016). Objectives sollten so definiert werden, dass sie kein dauerhaft anzustrebendes Ziel sind (z.B. Erhöhung der Umsatzrendite, Steigerung der Mitarbeiterzufriedenheit, …), sondern einen klar abgeschlossenen Zustand in der Zukunft markieren (z.B. Einführung von Funktion XY in einer App) (vgl. Murakamy GmBH, 2018).

eigene Abb. (vgl. Diehl, 2021)

OKRs vs. Scrum

Die oben genannte Beschreibung des OKR-Managementsystems ähnelt dem bekannten Projektmanagementtool Scrum, weswegen folgend drei wichtige Unterschiede zwischen den beiden Ansätzen dargestellt werden.

Zunächst ist der Bearbeitungszeitraum der OKRs mit drei Monaten deutlich länger gewählt als der gewöhnlich zwei Wochen andauernde Scrum-Sprint (vgl. Jedamczyk, 2019). Dies ermöglicht das Setzen ambitionierterer Ziele und eine eigenständigere Umsetzung der Mitarbeitenden. Ein weiterer Unterschied zwischen OKRs und Scrum ist die Rolle des sog. Scrum- bzw. OKR-Masters. Während der Scrum-Master das Team bei der gemeinsamen Lösungsfindung für fachliche Probleme methodisch unterstützt, gibt der OKR Master vor allem Hilfestellungen bei der Formulierung geeigneter Ziele bzw. OKR-Sets, was wiederum die Freiheit in der Umsetzung der Ziele steigert (vgl. Jedamczyk, 2019). Ein letzter Unterschied zwischen den beiden Systemen besteht in der Zielsetzung. Während Scrum-Sprints aufgrund der zeitlichen Komponente eindeutigere Ziele vorgeben, welche somit als „operative Ressourcenplanung“ (Jedamczyk, 2019) bezeichnet werden können, sind OKR-Objectives strategischer Natur und können somit offener sowie ambitionierter gesetzt werden. Trotz der strategischen Perspektive ist jedoch auch die Einbindung operativer Herausforderungen der umsetzenden Mitarbeitenden auch bei OKRs nicht ausgeschlossen.

Dennoch gilt für beide agilen Managementsysteme gleichermaßen, dass ihr Einsatz kein Allheilmittel zur Transformation schlecht organisierter Unternehmen in innovative Organisationen ist. Mittels OKRs werden selbstorganisiert arbeitenden Personen längerfristig in einer agilen Struktur zur Erreichung festgelegter Ziele gebunden. Sie stellen jedoch keinen ganzheitlichen Ansatz dar, wodurch sie nur ein Zwischenschritt auf dem Weg zur Netzwerkorganisation sein können.

Informationstechnologie als Schlüssel zur erfolgreichen Netzwerkstruktur

Während sich Menschen zunehmend auf kreative, kognitive Leistungen konzentrieren sollen, um ihre Organisation in VUCA-Umwelt wettbewerbsfähig und innovativ zu halten, werden sie häufig, auch in NWO von repetitiven, komplizierten und ermüdenden IT-Systemen in ihrer eigentlichen Arbeit ausgebremst. Dabei sollte mit einer Steigerung der Selbstorganisation und der Einführung agiler Strukturen auch das erstarkte Erfordernis nach ebenso agilen IT-Systemen einhergehen. Im Folgenden werden daher drei Bereiche präsentiert, mit denen die Informationstechnik eine erfolgreiche Organisation fördern anstatt ausbremsen kann.

Automatisierung: Viele Prozesse können inzwischen automatisiert werden, die Mitarbeitende im Alltag häufig noch ausbremsen. Ein Beispiel hierfür ist die Zeiterfassung im Unternehmen und die häufig daran gebundene Gehaltsabrechnung. Nicht nur hier gibt es inzwischen nützliche Tools, die den Aufwand verringern oder ganz abschaffen. So hat beispielsweise die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young (EY) eine Accounting-KI entwickelt, die Rechnungen auslöst, Buchungen vorschlägt und auf Inkonsistenzen in Rechnungen hinweist (vgl. Hmyzo/LinkedIn, 2021). Anhand dieses Beispiels wird auch deutlich, wie wichtig intelligente IT ist, um neben der Entfesselung von kognitivem Potenzial auch den Bedarf an Führung zu senken und damit die Autonomie der Mitarbeitenden zu stärken, was uns zum zweiten Punkt führt.

Autonomie: Ob, wer, was, wann macht, das ist häufig über linienförmige Delegation und gemäß der Unternehmensstruktur über „Approval“-Stufen geregelt. Auch hier kann IT beim Einholen der Bestätigungen unterstützen, beispielsweise durch automatische Anfrage an den verantwortlichen Owner, sofern eine Transaktion in einem ERP-System eine bestimmte Summe überschreitet. Doch auch hier müssen sich IT-Strukturen verändern, um den Anforderungen nach selbstorganisiertem Arbeiten und Autonomie, beispielsweise der eines Holokratie-Kreises, gerecht zu werden. Benötigt ein Mitarbeitender eine Software-Lizenz, um bei einem Projekt voranzukommen, so sollte der in NWO verfolgte basisdemokratische Ansatz auch in die IT implementiert werden und z.B. kollektive (oder gar keine) Bestätigungen einholen.

Kommunikation & Support: Um Kommunikationswege untereinander zu verkürzen und damit die Arbeit zu beschleunigen, können IT-Systeme mit Softwarelösungen unterstützen. So haben Microsoft Teams, Slack oder Spond das digitale Abstimmen, Diskutieren und Teilen von Informationen und Dateien simplifiziert. Gerade in NWO kommt einer schnellen und nicht immer formalen Kommunikation Bedeutung zu. Weiterhin kann die persönliche Vernetzung und die Umsetzung einer Lernenden Organisation mittels Vernetzung von Wissen (z.B: über das Portal Yammer) gefördert werden.

Organisationsstrukturen für den eigenen Kontext maßschneidern

Einzelne Menschen können nicht so gut und schnell agieren und entscheiden wie ein Netzwerk. Diese Idee stellt in Netzwerkorganisationsstrukturen daher das vernetzte, emanzipierte und verantwortungsbewusste Individuum in den Vordergrund, das ohne strikte Weisung die richtige Entscheidung treffen kann. Dabei gibt es verschiedene Ansätze; manche sind ein ganzheitliches „Betriebssystem“, manche sind andere Managementsysteme und lassen die Mitarbeitenden nur etwas Netzwerkorganisationsluft schnuppern. Letztendlich sollte die Schaffung agiler Unternehmensstrukturen ein iterativer Prozess sein, der sich so bestmöglich an den Unternehmenskontext anpasst. Eine 1-zu-1-Umsetzung gängiger Konzeptionen ist dabei kein Muss. So sollte die Menge an Regeln und Prozessen geschaffen und eine IT-Struktur designt werden, die ein Unternehmen bei der Umsetzung von netzwerkartigen Organisationsstrukturen tatsächlich fördert und sein Innovationspotential maximal entfesselt anstatt ausbremst. Eine Transformation zu wagen und diesen Punkt zu finden kann einem leider keine noch so gute Organisationsstruktur abnehmen.

Autoren: Justus Germer, Lucas Rohlf, Laura Krawietz, Anina Schulz

Quellen:

Bernstein, Ethan; Bunch, John; Canner, Niko; Lee, Michael (2016): Beyond the Holacracy Hype. In: Harvard Business Review 04/2016. Online: https://hbr.org/2016/07/beyond-the-holacracy-hype [abgerufen am 22.03.20201].

Cengiz, Stephanie (2017): “Holokratie” statt Hierarchie? Online: https://neustarter.com/magazine/holokratie-statt-hierarchie [abgerufen am 19.03.2021].

Diehl, Andreas (2021): Objectives and Key Results (OKR) — Einführung in die OKR Methode. Online: https://digitaleneuordnung.de/blog/okr-methode/ [abgerufen am 22.03.2021].

Hmyzo, Ewelina/ LinkedIn (2021): Kann KI uns helfen, weniger wie Maschinen zu arbeiten? Online: https://www.linkedin.com/posts/ewelina-hmyzo-19001a1a_kaesnstlicheintelligenz-ki-buchhaltung-activity-6779451235796824064-1A2p [abgerufen am 22.03.2021].

HolacracyOne LLC (2015): Holacracy Constitution, Version 4.1. Online: https://www.holacracy.org/constitution [abgerufen am 21.03.2021].

Jedamczyk, Nico (2019): OKR vs. Scrum. Online: https://www.osker.de/okr-vs-scrum/ [abgerufen am 22.03.2021].

Lamers, Max (2016): Building A High-Performance Culture With OKRs. Online: https://medium.com/culturestars/building-a-high-performance-culture-with-okrs-3407d3a94eb3 [abgerufen am 19.03.2021].

Murakamy GmbH (2018): OKR BEISPIELE: SO FORMULIERT MAN GUTE OBJECTIVES AND KEY RESULTS. Online: https://murakamy.com/blog/2018/10/19/okr-beispiele-so-formuliert-man-gute-objectives-and-key-results [abgerufen am 22.03.2021].

Pietrasch, Elisa (2019): Holacracy: Was Sie zum agilen Betriebssystem wissen müssen. Online: https://www.clevis.de/ratgeber/holacracy/ [abgerufen am 20.03.2021].

Röll, Juliane (o.J.): Holacracy: Ein Ansatz für Klarheit und effektive Zusammenarbeit in Teams und Organisationen. Online: http://structureprocess.com/de/was-ist-holacracy/ [abgerufen am 20.03.2021].

Small-business-tracker.com (o.J.): IBM-Umfrage: CEOs geben an, mit der wachsenden Komplexität von Unternehmen nicht fertig zu werden. Online: https://ger.small-business-tracker.com/ibm-survey-ceos-say-they-cant-handle-growing-business-complexity-619831 [abgerufen am 19.03.2021].

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