Hey, Felipe …

Jrene Rolli
Litteratur
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2 min readApr 28, 2019

Absender: Die Kaugummiverpackung

Ehrlich gesagt, war ich nicht erstaunt, dass du nach mir gegriffen hast. Die starke Kaumuskulatur deines Kiefers und der typische Duft von Wild Cherry in der Luft, der ruckzuck meine Nasenschleimhaut hochzog, verrieten es sofort. Auch in deinen noch kleinen Augen erkannte ich auf Anhieb: Wir gehören zusammen. Vor Jahren haben wir zueinandergefunden und sind uns seither treu. Wer mich im violetten Kleidchen liebt, liebt mich für immer.

Neben einem fruchtig-süssen Orangensaft landete ich auf der Kiosk-Theke. Dein müder Blick ignorierte die bereits frühmorgens bestens gelaunte Verkäuferin und wanderte lediglich auf die Twint-App im Handy. Ich verschwand in der «Fageta» und in deiner Kehle ereignete sich ein Sturzbach von Vitamin C, die Fruchtfleischfetzen wirbelten wild in deinem Rachenraum umher.

Nach dem gesunden Säftchen blieb dir wie jeden Morgen noch Zeit, um auf dem Weg vom Bahnhof ins Büro die erste Zigarette zu paffen. Vor dem Haupteingang angekommen, landete diese ordnungsgemäss im Aschenbecher. Jetzt war mein Einsatz gefragt. Automatisch griffen deine Finger um mich und rissen mir leidenschaftlich ein Stück des violetten Kleidchens vom Leib.

Und jetzt liege ich hier. Zurückgelassen von dir, Felipe. Was ist nur passiert, nach all den treuen und leidenschaftlichen Jahren?

Der Kaugummi landete treffsicher in deinem Mund, der Papierfetzen der Verpackung gleitete jedoch im Zeitlupentempo zu Boden. Nicht nur dein müder Blick verfolgte dieses Desaster, sondern auch deine drei Arbeitskolleginnen und -kollegen, welche sich währenddessen um dich herum versammelten. Und dann? Dann habt ihr euch kommentarlos wie eine süsse Entenfamilie hintereinander eingereiht und seid durch die Drehtür ins Büro gezottelt.

Wenn es um Kaugummis geht, ist unsere Stimorol-Familie die Nummer eins in der Schweiz. Seit 2014 leben wir nach dem Motto «Trau dich, den Mund aufzumachen». Damit möchten wir zum Inbegriff des Selbstvertrauens in jeglichen sozialen Situationen werden. Wir wünschen uns, dass Herr und Frau Schweizer nicht nur für unsere Kaugummis den Mund öffnen, sondern auch für mutige Meinungen und Äusserungen.

Braucht es tatsächlich so viel Mut, jemanden darauf hinzuweisen, dass er soeben einen Papierschnipsel liegen liess? Ein «Hey, du hast da was verloren.» wäre immerhin ein Versuch, bei dem das Gegenüber weiterhin frei über sein Handeln entscheiden kann.

Tja und ich, ich liege jetzt hier am Boden und lausche der eintönigen Melodie der automatischen Drehtüre, die mit ihren Bürsten über die Fussmatte wischt und wischt und wischt …

Bleibt zu hoffen, dass bald der Hausabwart mit einem Besen vorbei guckt und mich ebenso wegwischt.

Die Kaugummiverpackung

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Jrene Rolli
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Schreibt Texte, die Menschen verstehen. Und findet das kleine Glück im Alltag. // www.hellojrene.ch