Hey, Frau Dr. Müller …

Absender: Der grüne Gummibär

Jrene Rolli
Litteratur
3 min readApr 10, 2019

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Bekanntlich mache ich nicht nur Kinder froh, sondern Erwachsene ebenso. Angeblich auch Sie, liebe Frau Dr. Müller.

Ich hatte Glück: Wurde als grüner Gummibär mit rund 85 Artgenossen in eine Packung gesteckt und ergatterte mir einen Platz direkt beim Guckfenster der Tüte. Sofort konnte ich Ihren suchenden Blick entlang des Supermarktregals erkennen und drückte mein freundlichstes Lachen an die transparente Folie der Verpackung. So ähnlich wie Kinder das gerne an Fensterscheiben tun. Sie haben sofort zugegriffen und die nächsten Tage verbrachte ich in Ihrer bequemen Handtasche. Dort lernte ich Sie immer besser kennen, schliesslich traf ich allerlei wichtige Dinge, die Sie tagtäglich auf sich trugen.

Selbstverständlich gebe ich hier nichts allzu Persönliches von Ihnen bekannt. Schliesslich bestehen wir Gummibären aus Geliermittel, wir halten fest zusammen. Auch mit unseren Besitzerinnen und Besitzern.

Von Montag bis Donnerstag habe ich Sie jeweils an die Universität begleitet. Durfte zwischendurch auf dem Pult verweilen und Ihnen zuschauen, wie Ihre Hand mit dem Rotstift übers Papier huschte und beim Markieren schrill quietschte. Obwohl Sie ansonsten eher Grün unterwegs waren. Die Holzbürste, um morgens an der Uni die Helmfrisur zunichtezumachen, der Jutebeutel für spontane Einkäufe und der Mehrweg-Kaffeebecher leisteten mir nette Gesellschaft in Ihrer Handtasche. Wie wohl ich mich in Ihrer Umgebung fühlte, als ebenso grüner Gummibär.

Und nun liege ich hier auf dem Boden. Zurückgelassen von Ihnen, liebe Frau Dr. Müller. Was ist bloss zwischen uns passiert?

Tagsüber haben Sie mich noch schnurstracks in Sicherheit gebracht, als Sie im Büro unerwartet Besuch erhielten. Und als Sie sich nach getaner Arbeit aufs Fahrrad schwingen wollten, passierte es: Eine Hand bereits am Lenker, überkam Sie ein kleiner «Gluscht». Nach einer gekonnten Verrenkung des anderen Armes in Richtung Umhängetasche ergriffen mich zwei Ihrer French-Nails. Genauso wie einer dieser «Kraller», diesen Münz-Spielautomaten mit Greifzange und billigen Plüschtieren drin. Ihre French-Nails waren ebenso zuverlässig wie einer dieser «Kraller»-Spielautomaten und verlor den Gegenstand — mich — auf dem Weg zum Ziel.

Sie liessen mich fallen. Und jetzt liege ich da in der stabilen Seitenlage und man könnte denken, Sie hätten noch liebevoll diese lebensrettende Sofortmassnahme angewendet. Stattdessen haben Sie geflucht, Ihre Umhängetasche schwungvoll auf den Rücken katapultiert und sind mit Wind im Haar davongefahren.

Bewohnerinnen und Bewohner des DACH-Raums verputzen im Jahr durchschnittlich je 340 Gummibärchen. Dass ich ausgerechnet eines bin, das diese Lebensaufgabe nicht erfüllen konnte, stimmt mich sehr traurig. Ein sinnloser Tod, den ich nun hier vor mich hin sterbe. Oder vielleicht verdammt bin, auf ewig in dieser misslichen stabilen Seitenlage zu verharren, ohne zu sterben. Es möge mich bitte jemand retten und in den Abfall stecken. Danke.

Der grüne Gummibär

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→ Noch besser als Fotos von Littering zu machen und daraus
Litteratur zu verfassen: Den Abfall vom Boden aufheben und korrekt entsorgen.

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Jrene Rolli
Litteratur

Schreibt Texte, die Menschen verstehen. Und findet das kleine Glück im Alltag. // www.hellojrene.ch