Hey, Robin …

Jrene Rolli
Litteratur
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3 min readApr 14, 2019

Absender: Das Karton-Röhrli

Wir Röhrli wissen bereits bei unserer Geburt, dass nur wenige von uns eine sinnvolle Lebensaufgabe vor sich haben. Jackpot, wer im Küchenschrank von Menschen mit Behinderung landet und sich einen sinnstiftenden Job ergattert. Auch bei Familien mit Kleinkindern warten wir gerne in der Schublade auf unseren Einsatz. Verglichen mit der Menschheit betiteln sich diese beiden Röhrli-Lebensmodelle als das 1 Prozent.

Obwohl wir alle ein total praktisches Transportmittel sind, das Waren von A nach B befördert. Nur funktioniert dieser Warentransport in 99 Prozent der Fälle einwandfrei auch ohne uns. Trotzdem gibt es Leute wie dich, Robin, die mich genauso selbstverständlich ohne wirklich erkennbaren Grund benutzen.

Darum fokussiert sich die Lebensfreude des Grossteils von uns Röhrli auf die überraschenden Waren, die ihr Menschen uns zum Transport anvertraut. Und so lauerte ich — ein Röhrli das nicht zu den ein Prozent gehört — voller Vorfreude auf mein Einsatzgebiet. Sieben Tage harrte ich in einer Plastikschale nach den Migros-Kassen aus und beäugte potenzielle Kunden. Und dann endlich hast du mich an einem Dienstagabend um 19:47 Uhr gepackt, Robin. Welch Glück, beinahe hätte ich mir von den ständig piepsenden Kassen einen Tinnitus eingefangen.

Du hast mir die Welt gezeigt. Draussen an der frischen Luft blinzelte ich für einen kurzen Moment der grellen Sonne entgegen. Dann ging das Abenteuer los und ich tauchte ab in cremig-süsse Schoggimilch.

Trotz ungewohnt vielen Extra-Proteinen erledigte ich meinen Job zuverlässig und schnell: Rein, trink, schlürf, schlüüüürf, schlüüüürf-schlürf, raus. Die Flasche hättest du problemlos ohne mich runterkippen können. Aber hey, ich katapultierte das kühle Getränk direkt in deinen Rachen. Eine Art Speed-Rutschbahn mit Brainfreeze-Nervenkitzel. Wohoo, what a party!

Und nun liege ich hier am Boden. Zurückgelassen von dir, Robin. Was ist nur passiert, es groovte doch gerade zwischen uns?

Nach dem letzten Schlürfer wolltest du sicherstellen, dass restlos jedes Proteinchen aus der Flasche den Weg in deine Muskeln findet. Ruckzuck hobst du mich aus dem Plastikbehälter und deine Zunge schlabberte die restliche Schoggimilch an mir ab.

Und dann passierte es: Lässig hast du deinem Kumpel Luca mit dem Ellenbogen einen Seitenhieb verpasst. Dabei verlierst du mich aus der Hand, ich wirble unkontrolliert durch die Luft und falle auf den Boden. Dort bleibe ich liegen und beobachte aus dem Augenwinkel, wie du keine zwei Meter nebenan die Plastikflasche im Abfalleimer entsorgst. Unbeeindruckt von meinem Niedergang läuft ihr beide weiter zur Bushaltestelle.

Aus der Ferne höre ich euch diskutieren, ob Luca dieses Jahr am Grand-Prix von Bern endlich schneller rennen wird als du. Ich sinniere — aus Mangel an alternativen Tätigkeiten — in der Zwischenzeit darüber, ob sich Wege tatsächlich immer zweimal kreuzen. Falls dem so ist, hoffe ich auch unsere, Robin.

Vielleicht versucht ihr beiden es im nächsten Training statt mit einem Intervall-Lauf, mit einer Plogging-Runde durch Bern. So nennt sich der Trend vom «joggenden Müll sammeln», der hierzulande in Zürich schon fleissig praktiziert wird.

Wahrscheinlich werden du und Luca dadurch nicht schneller. Aber hey, eine lockere Runde wirkt super erholend. Und auf gute Regeneration legst du scheinbar ebenso grossen Wert: Ist garantiert genauso effektiv wie Schoggimilch nach dem Sport, so ein Ruhetag.

Und ich werde auf der Plogging-Runde hoffentlich von dir eingesammelt, korrekt im Müll entsorgt und komme selber zur Ruhe. Schön wär’s auf jeden Fall. Langsam weiss ich nicht mehr, über was ich sonst noch nachdenken soll …

Das Karton-Röhrli

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Jrene Rolli
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Schreibt Texte, die Menschen verstehen. Und findet das kleine Glück im Alltag. // www.hellojrene.ch