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Interview: Storytelling im Smartphone-Zeitalter

Petra Sammer: „Steve Jobs ist die klassische Heldenfigur!“

Das Internet und speziell das Smartphone verändern nicht nur die Art und Weise, wie wir Geschichten erzählen, sondern auch, wie wir sie wahrnehmen. Wir unterhielten uns mit der Storytelling-Expertin Petra Sammer, Global Partner des internationalen Agenturnetzwerks Ketchum, über die Möglichkeiten, die soziale Netzwerke modernen Geschichtenerzählern und Werbetreibenden bieten — und den Gründungsmythos von Apple.

Thomas Raukamp
Mac Life
Published in
14 min readApr 19, 2017

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Das Interview führte Thomas Raukamp.

Mac Life / Frau Sammer, wir starten in dieser Interview-Serie immer mit derselben Frage: Erinnern Sie sich noch, was Sie am 9. Januar 2007 um 19 Minuten vor zehn gemacht haben?

Petra Sammer / Daran erinnere ich mich leider nicht mehr — auch mein Outlook-Kalender nicht.

An diesem Tag und zu dieser Stunde hat Steve Jobs das iPhone vorgestellt. Glauben Sie, er hat damals schon die Reichweite „seiner“ Erfindung vorausgesehen?

Wenn man sich die Keynote ansieht, mit der Steve Jobs das iPhone 2007 vorstellte, kann man erahnen, dass er sich sehr bewusst war, dass er den „Telefonmarkt“ damit revolutionieren würde.

Diesen Anspruch hatte Jobs ja an alle Marktfelder, in die er einstieg. Er wollte den Computermarkt revolutionieren und trat gegen IBM an. Er trat mit dem iPod gegen Sony an, um den Walkman und die Musikindustrie umzukrempeln. Und schließlich trat er eben im Handymarkt gegen Nokia an. Und auf allen diesen Feldern war er erfolgreich.

Petra Sammer ist Global Partner des internationalen Agenturnetzwerks Ketchum und verantwortet als Chief Creative Officer dessen kreative Ausrichtung. Seit über 20 Jahren berät sie Unternehmen in PR, Marketing und Unternehmenskommunikation. Ihre Erfahrung gründet auf der Zusammenarbeit mit Firmen wie Bertelsmann, BMW, Bosch, IBM, Pixar, Sennheiser und vielen anderen.

Apple-Gründer Steve Jobs’ eigene Story ist ja fast zu kapriziös, um ausgedacht zu sein. Warum fasziniert sie uns so?

Viele Unternehmen und Marken beziehen ihre Markenwerte, ihre Mission und Vision aus einer starken Corporate-Story, dem Gründermythos. Disney hat Walt Disney, Ford hat Henry Ford, Chanel hat Coco Chanel.

Steve Jobs wusste sehr genau, welche Kraft ein starker Gründermythos entfalten kann, und er nährte diesen ganz bewusst. Glaubt man der Biographie von Walter Isaacson, dann war Steve Jobs sehr darum bemüht, die Geschichte seiner eigenen Person immer wieder schillernd zu gestalten. Er arbeitete aktiv an seiner „Markenpersönlichkeit“ und verknüpfte diese bewusst stark mit dem Unternehmen.

„Steve Jobs wusste sehr genau, welche Kraft ein starker Gründermythos entfalten kann, und er nährte diesen ganz bewusst.“

Würden Sie Steve Jobs in einer Geschichte eher als „Good Guy“ oder „Bad Guy“ besetzen?

Ich möchte eine Person nur aufgrund einiger Youtube-Clips oder Zeitungsartikel nicht beurteilen. Auch nicht aufgrund einer Biographie oder gar der Verfilmung seines Lebens. Steve Jobs war — wie viele große Unternehmer und Künstler der Zeitgeschichte — eine vielschichtige Persönlichkeit mit guten und schlechten Seiten. Was von seinem Leben und Schaffen bleibt, sind zwei herausragende Unternehmen und Marken: Apple und Pixar. Darüber hinaus aber großartige Ideen und Visionen, wie wir kreativ zusammenarbeiten und unsere Welt gestalten können.

Ein Fest für Storyteller

Sowieso ist die Geschichte Apples ein Fest für Geschichtenerzähler. Lassen Sie sie uns diese Geschichte einmal anhand der „5 Bausteine guten Storytellings“ analysieren. Was ist der Grund, Apples Geschichte immer wieder zu erzählen?

Diese Frage beantwortet Simon Sinek 2009 in seinem legendären TED-Talk „How great leaders inspire action”. Sinek erläutert darin, wie es Apple und wenigen anderen Marken, aber auch Rednern wie Martin Luther King oder den Wright-Brüdern, gelang, ihr Publikum zu begeistern und zu motivieren. Das Erfolgskonzept liegt in der Art der Kommunikation: Während die meisten Unternehmen in der Regel ihren Kunden lediglich erklären, was sie herstellen und verkaufen und vielleicht auch erläutern, wie sie produzieren, so geht kaum ein Unternehmen darauf ein, warum sie das tun. Und genau hier liegt der Unterschied zu Apple. Die von Steve Jobs gegründete Marke und ihr Warum — und dies hat viel mit der Person von Steve Jobs zu tun — rückt ins Zentrum jeglicher Kommunikation.

Simon Sinek beschreibt dieses Warum mit den Worten: „Whatever we do, we are challenging the status quo. We believe in thinking differently.” Immer wieder betont Apple also, dass man den Status quo infrage stellt und spricht damit all jene an, die dies täglich für sich selbst in Anspruch nehmen.

Petra Sammer führt in Ihrem Buch „Storytelling“ in die grundlegenden Techniken des Storytellings ein, erklärt die fünf Bausteine guter Geschichten, wie man mit Kreativtechniken zu starken Storys gelangt und seinen Zuhörer mit einprägsamen und emotionalen Erzählungen mitreißt.

Wer ist der Held in Apples Geschichte?

Im Gründermythos von Apple ist selbstverständlich Steve Jobs der Held. Und dies erklärt auch, warum es für Tim Cook nicht einfach ist, die Geschichte von Apple weiterzuerzählen. Unternehmerisch ist Apple zwar weiterhin erfolgreich, aber man merkt der Marke an, dass die eigene Geschichte mit dem Tod von Steve Jobs zum Stillstand gekommen ist.

Doch zurück zum „Helden“ Steve Jobs. Das herausragende an dieser Heldenfigur ist tatsächlich, dass sich anhand der realen Person Steve Jobs alle Stufen der klassischen „Heldenreise“, wie sie Joseph Campbell beschreiben hat, nachweisen lassen.

Zusammen mit Ulrike Heppel erklärt Petra Sammer in ihrem Buch „Visual Storytelling“, warum die erfolgreiche Unternehmenskommunikation mit Storytelling noch wirksamer wird, wenn sie konsequent visuelle Aspekte berücksichtigt und zum Visual Storytelling mutiert.

Worum geht es in der Heldenreise?

Joseph Campbell war Mythenforscher. Und in den über 4.000 Mythen, die er weltweit gesammelt hatte, erkannte er ein klares Muster. Nach seiner Analyse erzählt sich die Menschheit letztlich immer und immer wieder nur eine einzige Geschichte: die Geschichte eines Helden, der aus seiner gewohnten Welt hinauszieht — gewollt oder ungewollt. Und der sich auf eine Reise begibt, auf der er zahlreiche Abenteuer und Prüfungen bestehen muss. Der Held verändert sich durch diese Reise, um am Ende in seine alte Welt zurückzukehren und diese ebenso zu verändern.

Dieses Muster gilt für unzählige erfolgreiche Storys; für Harry Potter genauso wie für Frodo in „Der Herr der Ringe“ und für Katniss Everdeen in „Hunger Games“. Und dieses Muster gilt auch — als hätte das Leben selbst das Drehbuch geschrieben — für die Biographie von Steve Jobs. Der zieht aus, um in einer Garage erste Produkte zu entwickeln, er durchläuft zahlreiche Hürden und Tiefschläge, um Apple gegen IBM, den damaligen Marktführer, zu verteidigen. Dann muss er aber seine gewohnte Welt, also Apple, schließlich verlassen und kehrt nach zahlreichen Prüfungen wieder zurück, um am Ende allerdings an seiner letzten Prüfung, dem Krebs, zu scheitern. Allerdings mit einem hoffnungsvollen Vermächtnis in Form der Unternehmen, die gründete sowie der Innovationen und Produkte, die bleiben. Vor allem aber durch seine vielen Ideen und Visionen, die er in zahlreichen Reden und Präsentationen mit seinem Publikum teilte.

Wo liegt der Konflikt in der Geschichte Apples?

Apples Gründermythos basiert auf einem der sieben Basic-Plots, die der britische Autor Christopher Booker 2004 analysierte. Erfolgreiche Geschichten basieren laut Booker auf etwa sieben Basishandlungen. Eine davon ist der „Drachentöter“, besser bekannt als „David gegen Goliath“. Der Gründungsmythos von Apple basiert genau auf diesem Muster: Die in den Achtzigerjahren junge und unkonventionelle Marke Apple tritt gegen das große, marktbeherrschende Unternehmen IBM an — und trägt den Sieg davon. Steve Jobs betont in seiner Keynote im Herbst 1983 zur Einführung des Macintosh genau diesen Konflikt. Übrigens mit einer herausragenden Referenz auf eine andere Story; die Verfilmung der Dystopie von George Orwells „1984“, inszeniert von Michael Radford und mit John Hurt in der Hauptrolle.

Welche Emotionen weckt die Geschichte Apples?

Bevor wir auf die Emotionen eingehen, sollten wir uns ansehen, welche Grundbedürfnisse die Apple-Story anspricht. Erfolgreiche Geschichten referieren in der Regel auf fundamentale Grundbedürfnisse, die das Publikum nachvollziehen kann und die es daher emotional berühren. Abraham Maslow hat die Grundbedürfnisse, die uns Menschen ausmachen, anschaulich in einer Pyramide zusammengestellt — eine Liste, die man heute um „Strom“ und „W-LAN“ ergänzen sollte.

Wenn wir die essenziellen Elemente wie Essen oder Schlafen einmal beiseite lassen, so bleiben vor allem vier Grundbedürfnisse. Erstens die Gemeinschaft: Menschen wollen mit anderen zusammen sein. Zweitens die Sicherheit: Menschen wollen sich sicher fühlen. Drittens die Selbstverwirklichung: Menschen haben Träume und Wünsche, die sie verwirklichen wollen. 4. Freiheit: Menschen streben nach Unabhängigkeit und Freiheit. Nicht jeder von uns ist gleich stark ausgeprägt in seinem Wunsch nach diesen Bedürfnissen, aber wir können alle diese Bedürfnisse nachempfinden.

Auch Markenstorys arbeiten erfolgreich mit diesen Bedürfnissen. Denken Sie etwa an Harley Davidson — alle Geschichten, die diese Marke erzählt, handeln von „Freiheit und Unabhängigkeit“.

Und Apple?

Apple gibt mit dem Werbespot „Bulb“ für das MacBook Pro selbst die Antwort und erzählt in eineinhalb Minuten die gesamte Menschheitsgeschichte unter dem Motto „Ideas push the world forward“. Apple bezieht sich dabei ganz auf unser Grundbedürfnis nach Selbstverwirklichung und unterstützt all jene, die selbst etwas schaffen, etwas kreieren möchten — die also kreativ sein wollen. Man betrachte nur die aktuelle Kampagne zum iPhone 7 mit den starken Fotomotiven; Staunen, Begeisterung, Neugierde, Stolz sind nur einige der Gefühle, die dabei angesprochen werden.

„Apple bezieht sich ganz auf unser Grundbedürfnis nach Selbstverwirklichung und unterstützt all jene, die selbst etwas schaffen, etwas kreieren möchten.“

Inwiefern ist die Apple-Geschichte viral?

Gute Geschichten werden weitererzählt — und dieses Prinzip ist keine Erfindung des Internets. Märchen wie Hänsel und Gretel oder Rotkäppchen existieren seit hunderten von Jahren und werden von Generation zu Generation weitergegeben. Anthropologen haben jüngst in einem 3.000 Jahre alten indischen Lied den Erzählstrang von Rotkäppchen gefunden. In Indien kommt zwar kein Wolf vor, stattdessen begegnet das Mädchen einem Tiger, aber der Rest der Geschichte ist der gleiche.

Und so wird auch der Gründungsmythos von Steve Jobs und Apple immer weitererzählt. Dafür sorgt Apple allein schon durch seine technischen Möglichkeiten selbst: Wer etwa die Einstellung seines iPhone nicht ändert, unterschreibt nach wie vor jede E-Mail mit „Sent from my iPhone”.

Aber vor allem sind die Geschichten von Apple deshalb viral, weil sie von einer passionierten Fangemeinde (weiter-)getragen werden — und die Marke unterstützt genau dieses Engagement. Die Kampagne „One Night in …“ ist dafür ein ganz wunderbares Beispiel. Am 05. November 2016 wurden an verschiedenen Orten der Welt, wie Johannesburg, Shanghai, New York und Island, Bilder mit dem iPhone 7 aufgenommen, um die Geschichten der Metropolen abzulichten.

Menschen lieben Geschichten

Warum hängen wir Menschen überhaupt so sehr an Geschichten?

Man möchte meinen, dass Geschichten uns einfach nur entspannen. Aber hinter unserem Hunger nach Storys steckt viel mehr. Psychologen haben darauf eine klare Antwort — oder eigentlich drei Antworten.

Zunächst einmal geht es um den Erfahrungsabgleich: Geschichten referieren auf unsere Erfahrungen. Wir lieben es, in Geschichten Situationen zu sehen, die wir selbst kennen und die uns abgleichen lassen, ob wir genauso oder anders reagiert haben. Wir messen uns also quasi mit dem Helden.

Zweitens geben uns Geschichten quasi stellvertretend die Möglichkeit, zu lernen. Denn wer will schon tatsächlich in Todesgefahr schweben oder von seiner Freundin aus dem Haus geworfen werden? Da ist es gut, wenn wir das mit dem Helden oder der Heldin einfach miterleben zu dürfen.

Und schließlich geht es um die Kontextualisierung: Geschichten haben einen roten Faden. Wer eine Geschichte liest, hört oder sieht, bekommt eine Reihe von Fakten und Informationen in einem sinnvollen Zusammenhang präsentiert. Damit können wir uns Daten und Fakten besser merken und erkennen ihre Bedeutung. Es spricht also eine ganze Menge dafür, mehr Geschichten zu erzählen.

„Wer eine Geschichte liest, hört oder sieht, bekommt eine Reihe von Fakten und Informationen in einem sinnvollen Zusammenhang präsentiert. Es spricht eine ganze Menge dafür, mehr Geschichten zu erzählen.“

Warum sind gute Geschichten erfolgreicher als einfache Werbebotschaften?

Kommunikation ist immer Persuasion — wenn wir kommunizieren, wollen wir in irgendeiner Form unser Gegenüber beeinflussen oder gar überreden. Und dafür stehen uns zwei Möglichkeiten zur Verfügung: die rationale und die emotionale Kommunikation.

Rationale Kommunikation, also Fakten und Daten und damit vermeintlich einfache Werbebotschaften, funktionieren immer dann, wenn Sender und Empfänger dieselben Interessen haben und einem Thema gleich viel Zeit und Aufmerksamkeit widmen. Wer also ein großes Interesse an einem Thema hat, hört einem Vortrag gespickt mit Statistiken und Details aufmerksam zu.

Meist jedoch haben wir nicht diese komfortable Situation, denn Sender und Empfänger einer Botschaft haben verschiedene Interessen. Und in der Regel haben die Empfänger, also die Verbraucher, wenig Zeit — und noch weniger Aufmerksamkeit. In so einer asymmetrischen Kommunikationssituation funktioniert emotionale Kommunikation, also Storytelling, deutlich besser.

Storytelling ist kein logischer, rationaler Prozess, sondern stets intuitiv und spielerisch. Storytelling ist „spielerische Konzentration und Lernen“. Der Zuhörer oder Leser taucht in eine Geschichte ein, identifiziert sich mit dem Helden und seiner Welt, gleicht Erfahrungen ab und lernt zusammen mit ihm.

Wie unterscheidet sich das Erzählen von Geschichten in einer primär narrativ geprägten Kultur etwa vom Fernsehzeitalter?

Das Fernsehen hat ziemlich viel Narration in die Wohnzimmer gebracht. Mit dem Fernsehen konnten Zuschauer plötzlich wesentlich mehr Geschichten sehen und konsumieren als je zuvor. Und noch eines brachte das Fernsehen mit sich: Seit den Sechzigerjahren — und damit seit der Erfindung der Fernbedienung– haben wir uns das Springen zwischen Geschichten antrainiert und sind in der Lage, mühelos in Geschichten reinzuschalten und den Anfang oder auch das Ende einer Geschichte zu antizipieren. Heute fällt uns gar nicht mehr auf, dass wir mühelos zwischen Webseiten, Instagram-Posts und Youtube-Videos hin und her schalten können und sofort die Zusammenhänge erfassen, auch wenn es narrative Konzepte sind.

Storytelling im Online-Zeitalter

Welche neuen Aspekte des Storytellings hat das Internet mit sich gebracht?

Zwei Dinge haben sich mit dem Smartphone entscheidend verändert: Geschichten können heute von jedem Ort aus rezipiert und erzählt werden. Das „Lagerfeuer“ ist kein tatsächlicher Ort mehr, an dem wir zusammenkommen, sondern ein virtueller. Das heißt aber auch, dass Unternehmen und Marken die Aufgabe haben, Orte — also Plattformen und Kanäle — zu schaffen, die die Kraft des Lagerfeuers entfalten können.

Es kommt also nicht nur auf großartige Geschichten und Inhalte an, sondern auch auf kontinuierlich und liebevoll kuratierte Präsentationsformen und -orte. Denn potenzielle Rezipienten surfen immer seltener wahllos, um sich sich auf der Suche nach guten Geschichten treiben zu lassen. Vielmehr werden sie zukünftig immer häufiger auf verlässliche Storyteller vertrauen und diesen Marken folgen.

Wie erweitert speziell das Smartphone die Möglichkeiten des Storytellings?

Tatsächliche Orte können jetzt in Geschichten integriert werden, was Augmented-Reality-Projekte beweisen. Bei der „Skwachàys Lodge“ etwa hält man das Smartphone auf ein Hotel in Vancouver und bekommt zusätzliche Information zu dem Gebäude geliefert. Oder auch Mobile-Games wie Ingress oder Pokémon Go beweisen, welche Zukunft Storytelling auf dem Smartphone hat.

Auch die sozialen Online-Netzwerke eröffnen ganz neue Wege vom Geschichtenerzähler zu seinen Zuhörern. Welche Chancen ergeben sich daraus?

Interessant finde ich hier vor allem die Form der „Endless Story“. Beim traditionellen Storytelling ist der Autor die einzige Autorität, die Einfluss auf den Verlauf einer Geschichte nimmt. Soziale Netzwerke geben uns die Möglichkeit, Geschichten auf unterschiedlichen Plattformen weiterzuerzählen sowie von beliebig vielen Nutzern weitererzählen zu lassen. Aus Rezipienten werden jetzt Koautoren.

Wie sieht Storytelling im Zeitalter von Facebook, Twitter und Instagram konkret aus?

Kreativ und kollaborativ. Das Geschichtenerzählen auf diesen Plattformen gleicht zukünftig eher interaktiven Computerspielen als herkömmlichem Storytelling. Obwohl es die traditionelle Form, die man passiv als Rezipient konsumiert, parallel immer geben wird. Denn trotz des Hypes um „User-generated-Schnickschnack“ sehnen wir uns weiterhin nach von Profis gut erzählten Geschichten.

Snapchat hat die Vergänglichkeit zurück ins Internet gebracht. Facebook hat darauf vor kurzem mit der Möglichkeit reagiert, Kurzvideos für 24 Stunden in den Messenger zu stellen. Welche Geschichten lassen sich in diesen Kurzbeiträgen noch sinnvoll erzählen?

Ich möchte etwas davor warnen, den Begriff des Storytellings inflationär zu benutzen, wenn es ausschließlich um Snapchat oder auch Facebook geht. Nur weil einige Bilder, Posts oder Snaps in einer logischen Reihenfolge aneinandergehängt werden, ergeben sie noch keine Geschichte — auch wenn viele das so nennen. Aber mit nur wenigen Worten oder Bildern lässt sich eine Geschichte triggern. Das heißt, wir können Assoziationen zu einer Geschichte provozieren.

„Nur weil einige Bilder, Posts oder Snaps in einer logischen Reihenfolge aneinandergehängt werden, ergeben sie noch keine Geschichte.“

Entscheidend ist allerdings, dass unser Publikum die Geschichte, auf die wir uns beziehen, bereits kennt. Etwa bei Snapchat bietet es sich an, mit Zitaten und Referenzen aus altbekannte Geschichten, Archetypen und Basic-Plots zu arbeiten.

Wie sollte eine gute Geschichte konkret auf Snapchat aussehen?

Snapchats Kraft liegt im visuellen Storytelling — und dem Einbeziehen des Publikums. Die Bilder, die man verwendet, sollten Eye-Catcher und Eye-Candy sein. Also Hingucker und Augenweide zugleich — passend für die Zielgruppe selbstverständlich. Das wichtigste scheint aber derzeit: Sie sollten jede Menge Humor besitzen.

Gibt es ein oder zwei Beispiele guten Storytellings auf Facebook, Twitter, Instagram und Snapchat, die Ihnen besonders gefallen?

Ich finde großartig, was das US-Unternehmen General Electric in dieser Hinsicht macht — zu sehen auf dem Blog-Netzwerk Tumblr. GE richtete sich zudem mit dem Slogan „Just add generalelectric on Snapchat, send us an emoji, and we’ll send you some science” an Snapchat-Nutzer — wunderbar gemacht!

Leidet das Erzählen und der Gehalt von Geschichten nicht zwangsläufig dadurch, wenn sie letztlich nur auf die reine Emotion verkürzt werden?

Robert McKee, Storytelling-Guru sowie Coach zahlreicher Hollywood-Regisseure und Drehbuchautoren, sagte: „Desire is the blood of every good story.“ Alle guten Geschichten basieren auf unseren Grundbedürfnissen und sprechen uns emotional an. Wem es nicht gelingt, mit einer Geschichte Empathie zu wecken, der erzählt einfach keine gute Geschichte.

„Wem es nicht gelingt, mit einer Geschichte Empathie zu wecken, der erzählt einfach keine gute Geschichte.“

Findet diese Form des verkürzten Erzählens eine Analogie in der Geschichte der Menschheit?

Verkürzt? Was ist verkürzt? Wir erzählen uns seit über 40.000 Jahren Geschichten. Die ersten Höhlenzeichnungen sind entweder religiöse Rituale oder Erfahrungsberichte der Jagd und des damaligen Lebens — also alles Geschichten, die die Menschen damals für wertvoll genug erachteten, um sie weiterzugeben. Und das gilt bis heute.

Verändern sich die Bausteine des Storytellings mit den neuen Herausforderungen sozialer Online-Netzwerke?

Ich glaube, die grundsätzlichen Bausteine des Storytellings verändern sich nicht. Was sich verändert, sind die Formate und die Strukturen, wie wir Geschichten erzählen. Zum Beispiel muss man heute meist schon im ersten Satz und mit den ersten Bildern einen emotionaler Höhepunkt erreichen. Früher hat man sich da deutlich mehr Zeit lassen können. Das Publikum hat nicht mehr so viel Geduld. Heute muss schon der erste Satz die Zielgruppe vom Sitz reißen.

Auf dem Weg zur Ego-Kultur?

Soziale Netzwerke machen jeden Nutzer zum Hauptdarsteller seiner eigenen Geschichte. Erzeugen wir dadurch letztlich eine Ego-Kultur?

Von John Steinbeck, dem US-amerikanischen Autor von „Jenseits von Eden“, stammt das wunderbare Zitat: „If a story is not about the hearer he will not listen. And here I make a rule — a great and interesting story is about everyone or it will not last.“

Wenn wir den Helden in einer Story betrachten, so betrachten wir uns immer auch ein wenig selbst. Das liegt in der Natur jeder guten Story und hat nichts mit Ego-Kultur zu tun. Oder anders ausgedrückt mit den Worten der Storyteller-Trainerin Juli Fuoti : „People don´t connect with companies. People connect with people.“

Es ergibt also sehr viel Sinn, wenn wir Menschen in den Mittelpunkt guter Geschichten rücken — und nicht anonyme Unternehmen oder Marken. Und dies können Nutzer, aber auch Mitarbeiter sein. Und manchmal erzählen Marken auch großartige Geschichten von Menschen, um deren Werte, ihre Mission und Vision weiterzugeben und mit anderen zu teilen — beispielsweise der Bierbrauer Guinness mit der Geschichte des Rugby-Spielers Gareth Thomas.

Verstärkt das Internet auch so etwas wie „böses Storytelling“, gerade im Hinblick auf sogenannte „Fake-News“?

Storytelling und Fiktion sind untrennbar miteinander verwoben: Märchen sind Fiktion, Romane und Novellen sind Fiktion, Hollywood-Blockbuster sind Fiktion und Netflix-Serien sind ebenfalls Fiktion. Auch Werbespots wie zum Beispiel „Heimkommen“ von Edeka sind Fiktion.

Entscheidend ist bei diesen Geschichten nicht etwa der Wahrheitsgehalt der Story, sondern ihre Intention. Märchen vermitteln eine Moral. Romane, Novellen, Hollywood-Filme und auch Netflix-Stories wollen ihrem Publikum mit einer fiktiven Geschichte etwas vermitteln. Den besten unter ihnen gelingt es, eine Diskussion um die Werte und Visionen der Helden anzuregen. Und dies gelingt auch guten fiktiven Geschichten, die Unternehmen und Marken erzählen.

Entscheidend ist, dass die Fiktion immer transparent und erkennbar ist und nicht fälschlich als „real“ untergeschoben wird. Und diesen Aspekt hat das Internet nicht verstärkt, er war vielmehr immer schon entscheidend.

Eine persönliche Frage: Was ist Ihre Lieblingsgeschichte?

„Birdy“ von Alan Parker

Und welches Smartphone benutzen Sie derzeit?

Ein iPhone 5 — und ich liebe es.

Vielen Dank für Ihre Zeit.

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Thomas Raukamp
Mac Life

„I am writing. I hate writing. I love writing. I am writing.“ — Amy Brenneman