Lasst sie sich des Chaos bemächtigen

Ben Kinder
MACHT AN
Published in
3 min readDec 3, 2018

Kinder lieben das Chaos. Sofern man Chaos als Unordnung oder Wirrwarr bezeichnet und Kinder folgen gern einer Art unschuldiger Anarchie. Sie besitzen noch diese ungestüme, ungezügelte Energie die sich Bahn bricht ohne ein konkreteres Ziel zu verfolgen. Bei der es nur darum geht sich lebendig zu fühlen. Wir Erwachsenen können sie dafür nur beneiden und versuchen doch andauernd diese Energie einzudämmen und zu kontrollieren anstatt ihr einen sicheren Raum zu geben.

Photo by Justin Young on Unsplash

Der Plan ist es also mit einer Horde 9-Jähriger Jungs ins Kino zu gehen. Die Geschlechtertrennung ist in diesem Alter noch extremer als in deutschen Dax-Vorständen und hinter jedem links-liberalen Langhaarschnitt versteckt sich am Ende nur ein weiterer Junge. Nach einem kurzen Blick auf die unkontrolliert vor sich hinwabernde und schreiende Jungs-Masse denkt man sich: na gut — mehr als ein Rausschmiß und möglicherweise endlose Telefonate mit der eigenen Haftpflichtkasse kann ja kaum passieren.

Der ausgesuchte Film verspricht ein recht antiquiertes Weltbild verbreiten zu wollen und man sieht das schamlose Product-Placement bereits aus dem Plakat sickern. Lange Rede — hätte ich die Wahl würde ich den Film am Liebsten nicht sehen und mich noch vor dem Start aus dem Saal schleichen. Doch die Angst vor der Zerstörungskraft der immer lauter werdenden und sich bereits unkontrollierten Zuckungen hingebenden Jungen hält mich davon ab.

Letztlich sind wir ohne größere Katastrophen beim Kartenabreißer angekommen, rennen die Treppen zu Kinosaal 4 hoch, lassen uns auf die Sessel in der siebten Reihe fallen und haben es tatsächlich geschafft eine halbe Stunde vor der Vorstellung im Saal zu sein. Die Bande verteilt sich schubsend auf zwei Sitzreihen und in mir steigt die verzweifelte Frage auf, wie ich dieses vielköpfige Monstrum eine halbe Stunde unter Kontrolle halte?

Photo by Kilyan Sockalingum on Unsplash

Nachdem das erste Popcorn verschlungen wurde, kommt auch schon ein konstruktiver Vorschlag von Platz 11. “Also ich bin mit Noah im Kino mal über die Sitze geklettert”! Ein lauter zustimmender Aktivierungsschrei erhebt sich sofort darauf aus der oberen Reihe und erste Hände umklammern die Sitzlehne des Vordermanns um ihm über den Kopf zu steigen. Erste Reaktion: Ein Machtwort — Jungs das könnt’ ihr hier nicht machen! Bleibt auf den Plätzen! Ein kurzes Zurückzucken, ein leises Murren und sie sind gebändigt! Antrainierter Gehorsam funktioniert auch noch mit 9 — Glücklich über meine natürliche Autorität steigt mein erster Gedanke wieder auf. So und jetzt — was machen wir noch so lange in diesem dunklen Saal? Leicht vor sich hinzappelnde Beine auf den Sitzen lassen Schlimmes erwarten.

Also Neuevaluierung der Situation: Der Saal ist leer, nur wir sind da. Vertrau den Jungs und stell nur zwei klar definierte Bedingungen: 1. Die Leinwand wird nicht berührt 2. Wenn ich sage ihr soll sich wieder setzen dann macht ihr das auch — Deal? Nicken in den Reihen — nachhaken: kann ich mich drauf verlassen? Erneutes Nicken — Na dann los!

Die Jungs ziehen ihre Schuhe aus, rennen durch den Saal, klettern über Sessel, stürzen, stehen wieder auf, jagen sich bis zur Atemlosigkeit und haben eine super Zeit!

Nach fünf Minuten kommt eine Mutter mit ihrer Tochter rein. Ich versuche den Eindruck zu erwecken als ob nicht dazugehöre und auch Nichts gegen die lärmenden Jungs habe. Leicht skeptisch setzt sie sich mit ihrer Tochter nach ziemlich weit außen. Es geht jedoch keine zwei Minuten und auch die Kleine versucht sich am Klettern. Auch alle Anderen Besucher schauen verwundert, verhalten sich aber erstaunlich passiv. Kein Murren und auch kein Maßregeln . Entweder haben sie nicht den Schneid gegen diese wilde und positive Energie vorzugehen, oder — ich pack’ jetzt mal meine Vorurteile aus — es liegt daran, dass das Kino in Neukölln liegt und die 17 Uhr Zuschauer kinderlieb und liberal sind. Nach einer halben Stunde setzen sich dann Alle ausgepowert, glücklich und ohne Murren wieder hin.

Klare Grenzen ermöglichen zwischen den gezogenen Grenzlinien fast absolute Freiheit. Die Macht diese Grenzen oder Limits zu verhandeln und Menschen dazu zu bringen sich auf diese Grenzen verbindlich festzulegen, schafft Klarheit und Zufriedenheit. Selbstorganisation zuzulassen und nicht Alles regeln zu wollen, erlaubt Anderen sich selbst zu spüren und sich selbst zu ermächtigen. #

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