‘Gouache’ by Peter Fritz Walter (1987)

Eine ungewöhnliche Geschichte

Zum Kreativitätstraining

Peter Fritz Walter
19 min readApr 24, 2015

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Die Regeln

Die Anregung zu dieser Geschichte bekam ich durch die Lektüre eines Buches über Kreativitätstraining. Ich habe leider den Titel vergessen. In diesem Buch wurde der Ratschlag erteilt, als Übung zur Erhöhung der Fantasie eine Wortliste zu erstellen und danach von diesen Wörtern ausgehend eine Geschichte zu schreiben.

Dabei sollte man die Wörter im Text der Geschichte verwenden. Die Wörter oder Ideenfetzen sollte man gerade so hinschreiben, wie sie einem in den Sinn kommen, ohne jedes Nachdenken, spontan. Ebenso sollte man die Geschichte durch eine Art von Assoziationenkette erfinden, die man dadurch erlangt, dass man die Wörter vom ersten bis zum letzten langsam durchgeht. Ich folgte dem Rat und erstellte erst einmal die folgende Wortliste.

Anschließend begann ich sofort mit dem Schreiben der Geschichte und kam so in Fluss, dass ich nicht eher stoppte, als bis sie bis zum letzten Wort eingetippt war. Das ging ziemlich flott vonstatten, und über das Ergebnis war ich schon einigermaßen überrascht. Dies ist die Wortliste:

  • Boot
  • Einfall
  • Insel
  • Löffel
  • Hotel
  • Das geht nicht
  • Hauskette
  • Vielmehr
  • Lasten tragen
  • Lastwagen
  • Vor Freude platzen
  • Liebe, Licht und Freude
  • Schuhlöffel
  • Eine Eingebung haben
  • Kritzeln
  • Sich selbst beschauen
  • Passiv aktiv sein
  • Aktiv passiv sein
  • Seiend nichtsein
  • Nichtseiend sein
  • Aus Flügeln bestehend getrieben zu fliegen, getrieben zu bestehen
  • Ein Fest organisieren
  • Die Presse einschalten
  • Sich selbst einschalten
  • Ich rudere mich selbst
  • Haus und Garten und das himmlische Grün
  • Er studierte Studieren und studierte sich bis ans Ende
  • Er begann zu handeln, als er endete zu studieren
  • Projektbeendigung, Ausführungsbeginn
  • Anfang, Ende, neuer Anfang
  • Mittelgang, Mittelhoch, Mittelmass
  • Die Mittel müssen reichen
  • Mit wenig Mitteln viel erreichen ist Weisheit im Handeln
  • Das Reservoir ist unerschöpflich für den, der schöpft, was schöpfbar ist
  • Reichtum, reich handeln, reich geben, reich empfangen
  • Reichtum vermehren

Die Geschichte

Ein Fischer fuhr einst in seinem Fischerboot aufs Meer hinaus. Obwohl er sonst sehr eifrig war beim Fischen, da er eine große Familie zu ernähren hatte, war er an diesem Tage eigenartig verträumt und unlustig zu arbeiten.

Als er so dahinsann, bekam er plötzlich einen Einfall. Er beschloss, zu einer einsamen Insel zu rudern. Diese Insel befand sich unweit der Küste und obwohl der Fischer seit langer Zeit um ihre Existenz wusste, war er doch nie auf die Idee gekommen, zu dieser Insel zu fahren und sie zu besichtigen.

— Warum auch? hatte er immer gedacht, da wohnt ja doch niemand und was soll ich auf einer menschenleeren Insel? Etwa schauen, wie das Gras wächst? Dafür habe ich keine Zeit. Das überlasse ich lieber den Philosophen. Die sind dazu da, ihr Leben in Nichtstun zu verbringen und zu schauen, wie das Gras wächst und es langatmig in dicken Büchern zu beschreiben. Das sind die Philosophen.

So und ähnlich hatte der Fischer immer räsoniert. Und nun war das ganz anders. Dieses Mal bekam er diese Gedanken nicht, so als sei etwas in ihm stärker und triebe ihn zu der Insel.

Doch obwohl der Fischer ziemlich genau den Ort zu kennen glaubte, an dem sich die einsame Insel befand, fand er sie auch nach langem Suchen nicht. Die Sonne stach vom Himmel und unser Fischer wurde müde. Er gab es nun auf und beschloss umzukehren. Doch da hatte er eine Vision. Eine Gestalt, die gleißend hell strahlte, stand vor ihm und lächelte ihn an. Nachdem sie ihn ein wenig betrachtet hatte (in ihrem Antlitz drückte sich Güte und Wohlwollen aus), sagte sie:

— Lieber Fischer, wer Brei essen will, braucht einen Löffel, nicht wahr?

— Ja …, stammelte der Fischer, dem die Spucke wegblieb ob der fremden Erscheinung.

Und da war es auch schon vorüber und alles schien wie zuvor. Die See war ruhig, die Sonne heiß und der Fischer schwitzte stark und wischte sich, einen Seufzer ausstoßend, den Schweiß von der Stirn.

— Das kann auch wieder mal nur mir passieren!, sagte er zu sich selbst. Wenn ich von der Erscheinung meiner Frau berichte, hält sie mich für verrückt. Und außerdem wird sie mich ausschimpfen, weil ich heute gar keinen Fang gemacht habe. Die See ist so ruhig und ich werde ihr nicht erzählen können, dass keine Fische vorhanden waren.

Alles in allem kehrte der Fischer müde und betroffen nach Hause zurück. Er beschloss, die Erscheinung geheim zu halten, an die er mit jedem Moment weniger glaubte. Er redete sich ein, die Sonne habe ihm einen Moment ins Gehirn gebrannt…

Zuhause wunderte er sich, dass seine Frau nicht wie sonst jeden Tag zeterte und sich über dies und jenes beklagte. Ganz im Gegenteil war sie ziemlich still, so sehr, dass der Fischer glaubte, sie sei krank.

— Liebes Weib, richtete er daher das Wort an sie, was fehlt Dir? Du sagst gar nichts …

— Ja, lieber Mann, antwortete die Frau. Ich habe eine eigenartige Erscheinung gehabt, weißt du …

— Was, du auch…?, rutschte es dem Fischer heraus.

Seine Frau schaute ihn groß an und ihr Mund stand offen für einen Moment.

— Du bist doch sonst nicht so wortkarg, Frau, fuhr er schnell fort, hoffend, seine Frau habe seine Bemerkung überhört. Sie hub auch gleich an mit ihrem Bericht und erzählte von einer gleißend hellen Erscheinung, die ihr etwas zugeflüstert habe. Eigentlich, so meinte sie leise, habe sie es nicht erzählen wollen …

Die Eheleute standen sich einen Augenblick schweigend gegenüber, bis die Frau fortfuhr:

— Die Erscheinung sagte etwas von einem Löffel, das ich nicht verstand. Und dann sagte sie, ich solle mit dir ein Hotel gründen auf einer Insel, die hier in der Nähe sei. Das sei der Grund unseres wohlverdienten Reichtums. Denn wir hätten uns immer so angestrengt und doch seien wir doch noch immer arm. Das Schicksal meine es nun gut mit uns…

Angesichts der Tatsache, dass der Glücksengel sich auch seiner Frau offenbart hatte, änderte der Fischer seinen Vorsatz und erzählte alles, von seinem Beschluss, auf die Insel zu fahren, bis zum Inhalt dessen, was der Engel ihm gesagt hatte angesichts des Löffels. Seine Frau wunderte sich sehr.

— Ich habe nicht einmal etwas gewusst von dieser Insel. Warum hast du mir nie davon erzählt?

— Ich hielt es nicht für wichtig, weißt du. Eine menschenleere Insel, was soll man da schon groß anfangen? Ich wollte auch nur mal aus Neugierde hin, weil mir einfach nicht nach Fischen zumute war. Und das sage ich dir nun, Frau, obwohl ich weiß, dass du mich wieder ausschelten wirst …

— Oh nein, lieber Mann, antwortete seine Frau leise. Ich habe noch etwas von dem Engel gesagt bekommen, und das möchte ich lieber für mich behalten. Es betraf mein Verhalten Dir gegenüber, lieber Mann. Ich sehe nun, dass ich mich ändern muss …

Wieder schwiegen beide und der Fischer dachte bei sich, welch ein eigenartiger Tag dies doch sei, der eigenartigste seines einfachen Fischerlebens.

— Das geht nicht…! sagte seine Frau dann unvermittelt.

— Was geht nicht?

— Na, sieh mal, es geht doch nicht, auf einer unbewohnten Insel ein Hotel zu eröffnen. Erstens einmal ist da niemand, der zu Gast kommen könnte, und zweitens haben wir keinen Pfennig Geld für eine solche Unternehmung …

Der Fischer sann vor sich hin. Er war diesen ganzen Abend ziemlich schweigsam und legte sich früh schlafen.

In dieser Nacht träumte der Fischer von einem langen Häuserblock, einer Hauskette, wie er es spontan nach dem Erwachen und Erinnern des Traumes bezeichnete. Ein Haus war an das andere gereiht und alle Häuser waren untereinander verbunden. Der Fischer hatte so etwas noch nie gesehen, denn er war noch nie in seinem Fischerleben in größere Städte gekommen und in seinem Dörfchen am Meer gab es nur einzeln stehende Häuser oder Hütten. Und was, so räsonierte der Fischer bei sich, konnte der Traum wohl mit seinem Hotelprojekt zu tun haben? Als er den Traum seiner Frau erzählte, antwortete diese spontan.

— Mann, dies ist doch ganz einfach. Das Hotel soll kein gewöhnliches Hotel sein, sondern eines, wo man nicht Zimmer vermietet, sondern Häuser. Jedes der Häuser dieser Hauskette ist gewissermaßen ein Zimmer des Hotels.

— Ja, Frau, das klingt irgendwie passend, rief der Fischer aus, plötzlich enthusiastisch ob der neuen und unerwarteten Idee. Wir sollen wohl eine Stadt bauen auf der Insel, und die Hauskette ist ein ganzer Straßenzug. Und die Häuser vermieten wir.

Doch seine Frau war nun wieder ganz trist und meinte leise:

— Aber das ist doch etwas für reiche Leute, nicht etwas für unsereins. Dafür braucht man viel viel Geld …

— Richtig …

— Und woher sollen wir das bekommen?

— Vielleicht…, fuhr der Fischer fort, denn er war nun entflammt in seiner Fantasie, sollten wir uns um diese Frage vorerst nicht kümmern, sondern vielmehr darüber nachsinnen, wie man das Projekt im Detail realisieren könnte.

— Nun ja …, vielleicht hast du Recht?, meinte seine Frau, nun eher respektvoll, so als sei sie ganz und gar nicht mehr diejenige, die sie vor dem eigenartigen Ereignis immer gewesen war.

— Ja, sieh mal…, um das zu tun, müsste man doch Lasten, enorme Lasten zur Insel tragen. Stell Dir vor, all das Baumaterial! Man müsste Lastwagen haben, eine ganze Anzahl von Lastwagen, die die Steine und Ziegel auf die Insel bringen, und all die Inneneinrichtung für die Häuser, und auch das Pflaster für die Strassen. Mein Gott, so viel wäre da zu tun …

Als der Fischer das gesagt hatte, geschah etwas Unerwartetes: Mann und Frau fielen sich in die Arme und küssten sich und es schien, als platzten sie vor Freude, plötzlich überwältigt von dieser neuen und wahrhaft großen Idee in ihrem kleinen Leben.

Und dass sie so einig waren, so verliebt, hatten sie lange lange nicht mehr erlebt. Denn ihre Ehe war so etwas wie eine Formalität geworden nach den Jahren und die Frustration hatte sich so ziemlich überall, in alle Winkelchen ihres Haushaltes und ihrer Gemeinsamkeit eingeschlichen. Diese Nacht und der nächste Tag war jedoch alles verändert in diesem ihrem Hause. Alles strahlte Liebe, Licht und Freude, und zum ersten Mal seit langer Zeit hatten sie wieder glücklichen ehelichen Verkehr. Und als sie danach gesättigt beieinander lagen, fragte sich der Fischer laut:

— Aber was bedeutet der Löffel?

— Welcher Löffel?

— Na, der Löffel, von dem der Engel redete…

— Das ist so eine Redeweise. ‘Wenn es Brei regnet, hat man keinen Löffel’…

— Ziemlich negativ, meinst du nicht?

— Ja, ist wahr. Als ob man immer dann, wenn sich die große Chance auftut, nicht Acht gäbe und alles an einem vorbeigehen ließe. Das ist doch nicht immer so …

— Vielleicht meinte der Engel auch etwas Konkretes damit…, etwa einen Schuhlöffel

— Na, du bist ulkig! Warum denn gerade einen Schuhlöffel? Was soll denn ein Schuhlöffel mit diesem Projekt zu tun haben?

— Ich weiß es nicht. Aber sieh mal, ein Schuhlöffel ist doch nicht dazu da, etwas zu essen…

— Da hast du Recht. Und doch nennt man ihn Löffel. Eigenartig.

— Jedenfalls ist ein Schuhlöffel ein nützliches Ding. Wenn die Schuhe zu eng sind, kommt man manchmal nicht hinein, wenn man keinen Schuhlöffel hat.

— Ja, obwohl dieses Projekt für uns wohl eher eine Schuhgröße zu groß, als zu klein ist …

— Lustig, was wir da so reden. Von Löffeln und Schuhgrössen… Ich möchte nur einmal wissen, was das alles miteinander zu schaffen hat!

— Vielleicht kann es uns dazu dienen, eine Eingebung zu haben, ich meine, eine Eingebung, wie wir dieses gigantische Projekt doch realisieren können …

— Du kannst es ja mal mit Kritzeln versuchen…

— Mit Kritzeln? Wozu denn das?

— Ich hab’ mal gehört, dass Leute, wenn sie auf eine Idee kommen wollen, einfach Linien in den Sand kritzeln. Auch manche Fischer tun es, um sich die Zeit zu vertreiben. Und manchmal, so hörte ich, bringt sie das auf neue Ideen.

— So? Na, dann werde ich mal ein wenig Kritzeln, gleich morgen nach dem Aufwachen.

Und dann wünschte sich das Fischerehepaar glücklich gute Nacht und sie schliefen so gut, wie schon lange nicht mehr in ihrer eintönig gewordenen Ehe. Am nächsten Morgen machte sich der Fischer, wie er sich’s vorgenommen hatte, gleich ans Kritzeln, und dabei kam ihm ein Gedanke.

— Dies ist, als ob ich mich selbst in einem Spiegel beschaue, dachte er bei sich. Warum habe ich das nicht früher schon einmal getan? Man kommt bei diesem Kritzeln in einen eigenartigen Geisteszustand, ganz ruhig und fast schläfrig und momentweise kommt es mir so vor, als sähe ich mich selbst, ganz klar, meine Stärken wie auch meine Schwächen. Auch scheint es mir, so räsonierte er bei sich selbst, als ob ich Phasen hätte von Aktivität und Passivität, die einander abwechseln. Das habe ich früher nie beobachtet noch darüber nachgedacht. Und überhaupt hat es mich nie sonderlich interessiert, über mich selbst nachzudenken. Ich dachte immer, das sei müßig und nur etwas für Tagträumer und Nichtsnutze. Und nun ist das alles so verändert …

Und es scheint mir weiter so, dass man passiv aktiv sein kann, und auch aktiv passiv, dass sich Aktivität und Passivität einander durchdringen und voneinander abhängen, und nicht, wie ich früher dachte, dass die Tüchtigen aktiv sind und die Faulenzer passiv. Nun sehe ich, dass ich früher sehr dumm räsonnierte, weil ich die Wahrheit nicht verstand. Auch scheint mir nun, dass man seiend nichtsein kann und nichtseiend sein, dass sich Sein und Nichtsein, Leben und Tod, einander bedingen und durchdringen.

So setzten sich die Ketten von Gedanken und Intuitionen bei unserem Fischer während seiner Kritzeleien fort. Das Kritzeln war ihm von da an zur Gewohnheit geworden und es schien ihm, dass sich sein gesamtes gewohntes Denken dabei verändere. An einem Morgen, als er wieder in seiner morgendlichen Kritzelaktivität absorbiert war, kam ihm ein ganzer Satz in den Sinn, den er denn auch spontan aufschrieb. Dieser Satz lautete: Aus Flügeln bestehend getrieben zu fliegen, getrieben zu bestehen. Über diesen Satz nachsinnend, konnte der Fischer nicht umhin, ihn sogleich auf sein Projekt anzuwenden.

— So habe ich denn Flügel jetzt … ? Sind es die Flügel meiner Gedanken?, dachte er. Dann gab er sich selbst zur Antwort: ‘Ja. Es ist so. Wir sind getrieben, zu bestehen, dieses Projekt zum Erfolg zu führen. Etwas in uns treibt uns dazu. Ich weiß nicht, was es ist, dieses Etwas. Aber es ist so, es ist einfach so.’

Nach einer Weile organisierten der Fischer und seine Frau ein Fest. Dieses Fest kostete sie ihre letzten Ersparnisse, denn noch waren sie sehr arm. Zu feiern gab es eigentlich nichts, abgesehen von einer großartigen Idee, einem großen Plan, den sie nun gemeinsam realisieren und für den sie sich voll und ganz einsetzen wollten.

Dieses Fest hatte auch einen Zweck: es sollte dazu dienen, ihr Projekt bekannt zu geben und Sponsoren, Interessenten dafür zu finden. Daher lud das Fischerehepaar auch die Presse zu diesem Fest ein. Sie mieteten einen großen Ballraum im einzigen Hotel des Dörfchens für dieses Ereignis und jedermann im Dorf hielt die beiden von diesem Moment an für vollkommen durchgedreht. Man hatte bereits diesen oder jenen Brocken Information über ihre großartigen Pläne erhalten, es wurde geredet, gemunkelt, geklatscht über sie.

Aber nun schien es, als ob dieses Ehepaar entweder einen ganz fantastischen Einfall habe oder eben reif fürs Irrenhaus sei. Die einen optierten fürs Erstere, andere schlossen Wetten ab für letztere Alternative. Der große Tag, die Premiere näherte sich.

— Wir haben die Presse eingeschaltet, liebe Frau, hub der Fischer eines morgens an. Nun müssen wir uns selbst einschalten…

— Das Kritzeln bringt dich auf treffende Ausdrucksweisen, lieber Mann, antwortete die Fischersfrau, die nun ganz hinter ihrem Mann stand und seine Ideen, auch wenn sie sie nicht sogleich verstand, vollkommen teilte.

Einfach, weil sie spürte, dass hinter ihrem Mann eine Quelle von Inspiration stand, und ein Reservoir von Ideen sich ihm nach und nach offenbarte, je mehr er sich dieser eigenartigen Morgenbeschäftigung hingab.

Ist es das, was man Kreativität nennt?, dachte die Frau bei sich. Ist es das, was andere so erfolgreich macht im Leben, ist es das, was Reichtum und Ansehen bringt?, fragte sie sich immer wieder. Und es schien ihr, als habe sie den Stein der Weisen gefunden, als sei dies einfach so, eine Wahrheit, allerdings eine, die die meisten Menschen, aus welch unerfindlichen Gründen auch immer, nicht kennen. Am nächsten Tag fuhr der Fischer wieder zur Insel.

Ich rudere mich selbst…, ging es ihm durch den Kopf. Ich rudere mich selbst zu dieser Insel. Ich rudere mich selbst schlechthin. Ich habe mein Schicksal selbst in der Hand.

Früher hatte der Fischer eher gedacht, alles sei vorherbestimmt und auch seine Armut sei prädestiniert durch ein fatales Los, eine Art Familienunglück, das sich seit Generationen fortsetzte. Nun kam ihm diese Idee sehr fremd vor und er erinnerte sich mit Grauen an all die negativen Suggestionen, die seine Eltern, die inzwischen verstorben waren, ihm zeit seiner Kindheit und Jugend mit auf den Weg gegeben hatten. Eine dieser Suggestionen, vielleicht die häufigste, klang etwa so:

— Du wirst es nie schaffen, etwas anderes zu sein, als ein armer Fischer. Deine Familie war seit Generationen in der Fischerei. Alle waren sie arm. Du wirst keine Ausnahme davon sein. Dann müsste schon ein Wunder geschehen, wenn das einträfe …

Nun, dachte der Fischer jetzt bei sich, warum sollte das Wunder eigentlich nicht geschehen? Vielleicht war es bereits geschehen, in dem Moment, als ich die wunderbare Erscheinung hatte?

Früher hatte der Fischer die Negativität seiner Ahnen hinsichtlich ihres vermeintlichen Familienglücks oder –unglücks geteilt. Doch jetzt war das anders. Der Fischer zweifelte diese ganze Unheilphilosophie an oder, besser gesagt, schob sie einfach beiseite. So wie man ein Gericht beiseite schiebt, das einem nicht mehr schmeckt, weil ein Haar drin war oder weil es versalzen ist.

Natürlich hatten unser Fischer und seine Frau ganz schön Lampenfieber hinsichtlich ihres großen Empfangs. Das war doch etwas, was es nie gegeben hatte in ihren Reihen, etwas, das in ihren Kreisen völlig aus dem Rahmen fiel.

Nicht, dass sie sich viel machten aus dem Getratsche im Ort, waren sie vielmehr besorgt um den Eindruck, den sie auf die Repräsentanten der Baufirmen und Transportunternehmen und erst recht der Presse machten, die sie eingeladen hatten. Würden sie überhaupt kommen? Und war das Motto, dem sie die Einladung unterstellt hatten, nicht gar zu übertrieben formuliert? ‘Haus und Garten und das himmlische Grün’ hieß dieses Motto.

Mit einigem Zittern betraten unser bescheidendes Ehepaar den Saal, als die Kameras bereits blitzten. Zu ihrem großen Erstaunen waren nicht irgendwelche Vertreter von den Firmen gesandt worden, sondern die Direktoren waren selbst gekommen. Warum?

Es stellte sich heraus, dass die meisten der Firmen bereits Pläne hatten für die Insel, sei es den Bau eines Hotels, einer Ferienanlage oder eines Badestrandes. Der Fischer sah sich plötzlich umringt von einer Anzahl dickbäuchiger Unternehmer, von denen jeder versuchte, ihn zur Mitarbeit bei gerade seinem Unternehmen zu überreden. Als die Rede an den Fischer kam, war er plötzlich ganz ruhig. Er bekam eine Eingebung, diesmal ohne Glanz und Gleiß, sondern ganz klar und logisch zu beginnen:

— Liebe Herren Unternehmer … !

Ein Journalist rief ihm zu, lauter zu reden. Und so hub er wiederum an:

— Meine lieben Gäste, bitte lassen Sie mich ohne Umschweife zum Thema kommen. Ich bin ein einfacher Fischer und nicht gewohnt, Reden zu halten. So möchte ich Ihnen denn gleich sagen, dass es nicht darum gehen kann, meine Kenntnisse der Anatomie der Insel, wenn ich mich so ausdrücken darf, dem einen Unternehmen und nicht dem anderen zur Verfügung zu stellen …’

Plötzlich kam Unruhe auf im Saal, manche Zuhörer wandten sich einander zu und tuschelten. Mit einem Mal verstummten sie wieder und schienen nun noch aufmerksamer zuzuhören.

— Um es präziser auszudrücken, geht es nicht darum, dem einen oder anderen der Herren Direktoren eine Lektion erteilen zu wollen, denn wie stünde mir das, einfacher Fischer, zu? So möchte ich klar sagen, dass alle Projekte, die von Ihnen bisher in Bezug auf die Insel gemacht wurden, belanglos sind …

Die Unruhe wurde noch größer und manche der Journalisten blitzten nervös ihre Filme ab.

— Ja, belanglos angesichts des einen wahrhaften und zum Erfolg verurteilten Projektes, das die ganze, ich wiederhole, die ganze Insel betrifft …

Rufe wurden hörbar, Ausrufe von Nervosität, von Enthusiasmus, von Neugierde, Zurufe, er solle endlich rausrücken mit dem Projekt.

— Dieses Projekt kann nicht daran vorbeigehen, was die Organisation und die Infrastruktur eines Staatswesens ausmacht.

Der Fischer wusste nicht mehr recht, was er sagte, wo er diese Worte hergeholt hatte, die er nur vage kannte und niemals gebraucht hatte. Und die Stimmung im Saal schwappte nun über und eine gigantische Lachsalve erhob sich. Einen Moment darauf saßen alle da und hielten sich die Bäuche vor Lachen.

Manche der Pressevertreter glaubten bereits an eine Verhöhnung und stellten in ihren Skripten schnell den Wortlaut der Schlagzeilen um. Aus ‘Projekt fürs Niemandsland’ wurde ‘Fischer verhöhnt Direktoren von Grossunternehmen,’ oder ‘Gelungener Streich eines geritzten Fischers.’

Doch der Ernst des Fischers, der einfach, trotz des Gelächters, ruhig weiterredete, ließ alle bald wieder verstummen.

— Es geht darum, um es kurz zu fassen, der Insel eine geordnete Infrastruktur zu geben, mit einem kleinen Seehafen, Wohnanlagen, Strandpromenade, Kindergärten, einem Krankenhaus, einem Postbüro und Telegrafenstation, Ferienwohnungen für auswärtige Gäste, nebst anderen Wohnanlagen für solche, die sich auf der Insel ansiedeln wollen. Es geht darum, die Eigentumsverhältnisse zu regeln, die Mietverträge abzuschließen, eine Kalkulation der Renditen vorzunehmen, und überhaupt der Gesamtkosten, was vor allem und zu Beginn die Kosten des Transportes all der Baumaterialien angeht …

— Soll das heißen, rief einer der Unternehmer aus dem Saal, dass die Insel aus reinem Sandboden besteht und wir alles Baumaterial heranschiffen müssen?

— Genau das! antwortete der Fischer.

Nun stieg die Unruhe im Saal wieder an, aber es war eine andere Art von Unruhe diesmal, eine ganz und gar interessierte und ernste, geschäftige Unruhe. Keiner lachte mehr und alle sahen eher betroffen drein.

— Das ist unmöglich! rief einer. Das kann keiner finanzieren!

— Richtig, auch das! bestätigte der Fischer, ruhig. Daher sagte ich bereits zu Anfang, dass ich mich nicht zu entscheiden brauche, welchem der Herren Direktoren ich meine Kenntnis der Lokalität zur Verfügung stellen werde …

Die klügsten der Unternehmer hatten ihre Finanzberater gleich mitgebracht und diese hatten bereits während des Plans des Fischers mit keiner Wimper gezuckt, still ihre Taschenrechner aus der Jackentasche genommen und komplizierte Berechnungen angestellt.

— Der Fischer hat Recht! rief einer nun aus, und erhob sich. Alle sahen zu ihm hin. Es war dies ein kleiner hagerer Mann mit Brille, der dem Prototyp eines Buchhalters nicht unähnlich sah. Jedoch drückte die Sicherheit seiner Rede und seiner Gebärden Kompetenz seines Faches aus.

— Ich habe alles durchkalkuliert, soweit dies in der kurzen Zeit möglich ist, fuhr er sachlich fort, und es ist klar, dass dieses Projekt nicht von einem einzigen der hier anwesenden Unternehmen finanziert werden kann, sondern, wenn überhaupt, nur in Zusammenarbeit aller Unternehmen und unter Einschaltung einer Bank, die die notwendigen Kredite zur Verfügung stellt.

Von Seiten anderer Finanzfachleute im Saal kamen bestätigende Zurufe. Was den Fischer nun wunderte, war, dass niemand, absolut niemand im Saal die Profitabilität des Projektes, so gigantisch wie es war, überhaupt nur in Rede stellte. Und das war es gerade, was der Fischer am meisten befürchtet hatte. Jeder der Gäste schien davon auszugehen, dass dieses Projekt nicht nur gigantisch, sondern auch gigantisch profitabel sein würde, profitabel nicht nur für einen, sondern für alle gleichermaßen. Denn jeder würde zum Zuge kommen, die Unternehmer, die Finanzleute, die Banken, die Journalisten. Jeder würde Arbeit haben, nicht zu reden von der Menge der Bauarbeiter und Handwerker, die man anstellen würde.

Der angesehenste der anwesenden Unternehmer, Direktor der größten Baufirma des Landes, meldete sich nun zu Wort. Er rief nicht einfach in den Saal, wie es die anderen vor ihm getan hatten. Er hob bescheiden den Arm und wartete darauf, dass der Fischer ihm das Wort erteilte. Dann stand er langsam auf. Es war ein kleiner schwerer glatzköpfiger Mann mit kugelrunden blauen Augen, die funkelten wie zwei Diamanten.

— Meine Damen und Herren Gäste, liebes Fischerehepaar! hob er, ziemlich formell, an und sah dabei herum im Saal, gleichsam um mit jedem der Anwesenden in einen Blickkontakt zu treten.

Alles war plötzlich mäuschenstill.

— Dies ist ein Ereignis, das ich in meiner ganzen dreißigjährigen Karriere als Bauunternehmer noch nicht erlebt habe, fuhr er fort. Während andere das Studieren studieren und sich so bis ans Ende studieren, hat dieser Fischer einen ganz anderen Charakter. Er begann zu handeln, als er endete zu studieren. Er musste dieses Projekt durchdacht, studiert haben, wenn er auch die Eingebung dazu wohl aus dem Lande erhielt, wo alle Ideen herkommen und wo auch ich sie herholte, oder besser gesagt, woher sie mir gesandt wurden, um die größten und besten meiner Unternehmungen zu beginnen.

Wieder kam Unruhe im Saal auf, aber diesmal war sie ohne Nervosität und begleitet von lächelnden Gesichtern und Kopfnicken. Was dieser Mann sagte, hielt man im Lande, zumindest in Unternehmerkreisen, fast für die blanke Wahrheit. Niemand hatte je die außerordentlichen Pläne und Vorhaben dieses Unternehmers in Frage gestellt, denn alle Aufgaben, die er sich gestellt hatte, löste er brillant und zum großen Erstaunen seiner Konkurrenten. Die Journalisten stenographierten seine Rede Wort für Wort mit.

— Ich denke, ich gehe nicht zu weit, wenn ich nun feststelle: Wir befinden uns am Ende des Projekts und am Anfang seiner Ausführung …

Applaus erhob sich, der gleich wieder verstummte, denn der Unternehmer redete weiter.

— Der Anfang war eine großartige Idee. Wir sind am Ende dieser Idee, denn was wären Ideen ohne Realisierung, ohne Ausführung? Daher stehen wir vor einem neuen Anfang. Es geht in diesem Projekt, ganz wie der Herr Fischer es bereits andeutete, nicht darum Belangloses zu tun, einen Mittelgang zu versuchen, dem ein Mittelhoch folgen würde, was letztlich einfach Mittelmass hervorbrächte. Ich habe meine unternehmerischen Fähigkeiten noch nie, in meiner ganzen Karriere, dazu missbraucht, Mittelmäßiges hervorzubringen. Und jeder, der hier im Saal sitzt und mich kennt, weiß, dass ich mit dieser Strategie immer richtig lag und dass die Erfolge für sich sprechen.

Wieder hub Applaus an.

— Liebe Gäste, liebe Mitunternehmer, liebe Journalisten, fuhr der Unternehmer fort. Bitte klatscht nicht mir, sondern dem Herrn Fischer, der diese großartige Idee hatte und bereits einiges in die Wege leitete, um sie zu realisieren. Hätte er nicht den Mut gehabt, diese Einladung zu realisieren und, das wollen wir nicht vergessen, auch zu finanzieren, so würden wir jetzt nicht hier stehen und dieses herrliche Projekt hätte wohl niemals eine Chance der Realisierung erhalten. Lassen sie mich noch etwas hinzufügen hinsichtlich der enormen Kosten und Anstrengungen für dieses Projekt: Die Mittel müssen reichen, egal wie wir sie aufbringen. Mit wenig Mitteln viel erreichen ist Weisheit im Handeln. Das stammt nicht von mir, sondern von irgendeinem Philosophen. Aber ich habe diese Maxime immer in meinem unternehmerischen Handeln beachtet. Denn das Reservoir ist unerschöpflich für den, der schöpft, was schöpfbar ist. Langer Rede, kurzer Sinn: Liebe Anwesenden, es geht in diesem Projekt um nichts weniger, als Reichtum zu kreieren, reich zu handeln, reich zu geben und reich zu empfangen und Reichtum zu vermehren. Mit einem Wort: ich und mein Unternehmen, mit allen den mir zur Verfügung stehenden Mitteln und auch meiner nicht zu unterschätzenden Kreditfähigkeit bei den Banken, stehen diesem Projekt rückhaltlos zur Verfügung. Und ich lade sie, liebe Mitunternehmer und alle Anwesenden hier, ein, sich mir anzuschließen und den Gründungsvertrag zu unterschreiben für ‘Die Insel des Glücks,’ dem größten unternehmerischen Projekt in der Geschichte unseres Landes.

Die Rede endete mit einem grandiosen Applaus aller Anwesenden, dem Unterschreiben des Gründungsvertrages für den Aufbau der Insel unter Berücksichtigung aller Details, die der Fischer bereits dafür geplant hatte und unter Mitarbeit aller anderen Unternehmen ohne Ausnahme.

Am folgenden Tag erschien der Pressebericht über die Zusammenkunft und das Projekt auf der ersten Seite der Zeitung. Die Regierung schaltete sich unerwartet ein und gab eine großzügige Bürgschaft für die erforderlichen Kredite. Der Präsident der Insel sandte dem Fischerehepaar ein Glückwunschtelegramm samt Einladung in den Regierungspalast. Der Fischer erfuhr, dass der Präsident insgeheim seit langem einen ähnlichen Plan gehegt hatte, ihn jedoch aus Mangel an Einigkeit in der Regierung und weil ihn viele andere Geschäfte drückten, nicht in Angriff genommen hatte. Der Fischer wurde zum Bauminister für die Insel ernannt und seiner Frau wurde die Leitung aller Wohltätigkeitsangelegenheiten der Insel übertragen.

Ein großzügiges und weiträumiges Palais wurde ihnen auf der Insel erbaut, in welchem sie den Rest ihres Lebens glücklich verbrachten. Im Jahr darauf wurde ihnen ein Kind geboren und damit ihr lange gehegter Wunschtraum erfüllt. Das Kind wurde vom Präsidenten des Landes als zukünftiger Gouverneur der Insel ernannt und wuchs in aller Sorgfalt, in allem Reichtum, in aller Liebe und in allem Luxus auf, und das ganze Inselprojekt erwies sich als eine Wohltat für das ganze Land, denn kurz nach Beginn der Bauarbeiten entdeckte man unter dem Boden der Insel riesige Öl– und Erdgasvorräte, die den Reichtum des Landes um ein Vielfaches erhöhten.

Dem Fischerehepaar blieb hinfort kein Wunsch mehr unerfüllt.

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