Ist der mobile Markt noch nicht bereit für Lean Startup in Reinform?

Manuel Küblböck
Manuel's musings
Published in
4 min readOct 20, 2012

Gestern habe ich ein Interview mit Frank Thielen mit dem reißerischen Titel “Das Lean Startup ist tot” gelesen. Beim Lesen musste ich einige Male den Kopf schütteln und ich möchte hier kurz zu einigen Aussagen meinen Standpunkt beschreiben. Ich empfehle ausdrücklich das Interview selbst zu lesen, um den Kontext für die folgenden Zitate und meine Antworten herzustellen.

Das komplette Interview basiert auf der Annahme, dass “App Stores […] zum dominierenden Distributionskanal für Inhalte und Services” werden. Ich habe auch eine Annahme, nämlich, dass App Stores über kurz oder lang von Web-Apps verdrängt werden, und zwar ironischer Weise genau aus den Gründen, die im Folgenden als Argument für den Tod von Lean Startup angeführt werden. Ich gehe davon aus, dass dies analog zu Desktop-Anwendungen passiert, die es heute nur noch für wenige Anwendungen gibt. Aber sei’s drum, gehen wir mal davon aus die erste Annahme stimmt und wir müssen unbedingt für App Stores entwickeln.

Im Interview wird behauptet: “Eine App wird also mindestens einen Monat lang draußen bleiben, ohne dass ihre Macher etwas nachbessern können.” Die Verzögerung liegt daran, dass Apps durch den App Store Betreiber erst geprüft und anschließend freigegeben werden muss. Mir als Entwickler ist das ein Dorn im Auge, weil es agile Softwareentwicklung im Allgemeinen und nicht nur Lean Startup Techniken behindert. Davon abgesehen ist die Aussage falsch. Meine eigene Erfahrung (und die meiner Kollegen bei it-agile) ist, dass es wenige Stunden/Tage dauert bis ein Update einer App im Store erscheint, nachdem man sie hochgeladen hat. Speziell bei Fehlerbehebungen kann dies in der Regel relativ schnell geschehen.

Als nächstes wird behauptet, “Ein Startup, dessen App eine Reihe negativer Bewertungen erhalten hat, kann daran viele Monate lang leiden. Denn neue Angebote müssen vom Start weg den hohen Ansprüchen der Nutzer gerecht werden. Jedes Release muss sitzen, damit Apps sich keine Ein-Sterne-Bewertungen einfangen.” Hier verbirgt sich eine weitere implizite Annahme, nämlich, dass ich sowohl das zu lösende Problem, als auch die passende Lösung dazu schon in Gänze verstanden habe. Genau das ist aber Teil von Lean Startup. Ich gebe zu, das Verstehen von Problem und Lösung (Problem/Solution Fit) werde ich in der Regel nicht in einem App Store, sondern mit Interviews validieren. Aber auch Features in meinem Produkt möchte ich zunächst nicht perfektionieren, bevor ich nicht verifiziert habe, dass genügend Anwender dieses Feature für nützlich halten. Natürlich möchte ich vermeiden, meinen Anwendern (auch den Early Adopters) Abstürze zuzumuten, aber ich glaube nicht, dass die UI und Design beim ersten Wurf perfekt sein muss. Bewertungen neuerer Versionen werden zudem stärker gewichtet und lassen alte Bewertungen verblassen. Davon abgesehen ist es ja ein offenes Geheimnis, dass Bewertungen in App Stores zu großen Teilen manipuliert sind. Aber das ist ein Thema für einen anderen Blogpost.

“Mindestens für drei mobile Plattformen sollte man entwickeln und sich dafür nicht zu viel Zeit lassen.” Wie auch im Interview erwähnt wird, gilt dies vorwiegend für Apps, die ihren Schwerpunkt auf Interaktionen zwischen Benutzern haben. Selbst da sehe ich es aber als Skalierungsproblem und keineswegs die Notwendigkeit sofort auf allen Plattformen verfügbar zu sein.

“Große Player” beherrschen den Markt, daher kann man “im B2C-Segment aktuell ohne große Mengen an Venturekapital nicht überleben” ist eine weitere Aussage, die ich nicht so stehen lassen kann. Mit den “großen Playern” direkt zu konkurrieren ist selbstverständlich schwierig und teuer, daher wird man versuchen, den Markt zu segmentieren und eine Nische zu besetzen oder aber einen neuen, bisher nicht existierenden Markt zu erzeugen.

“Die meisten Nischen sind ja nunmal bereits von den großen Firmen besetzt, und wenn nicht, dann geschieht dies bald.” Wir haben also schon alle möglichen Apps gebaut? Ab jetzt kommen nur noch Wiederholungen? Keine weitere Innovation mehr möglich? Das wäre schade, ist aber zum Glück äußerst unwahrscheinlich.

“Aufgrund der Komplexität mussten wir sehr viele Funktionen einbauen. Ein Lean-Startup-Ansatz kam schon deshalb für uns nicht in Frage.” Mir ist bewusst, dass es schwierig ist komplexe Probleme kleiner zu schneiden. Für mich aber meist ein Indiz dafür, dass man sich vorher noch nicht genügend mit dem Verstehen der Probleme und der möglichen Lösungen auseinander gesetzt hat. Was ist das Hauptproblem, dass ich versuche zu lösen? Meist ist dies doch mit einem kleineren MVP zu überprüfen, als man denkt.

“Ich denke, das Erfolgsrezept ist, ein Problem zu lösen, das man selber identifiziert hat, dies mit dem Streben nach Perfektion und der Liebe zum Detail umzusetzen und es dann vom Tag eins international anzubieten.” Mit Leidenschaft hinter seiner Idee und seinem Produkt zu stehen, ist selbstverständlich nur empfehlenswert. Aber bewusst auf Feedbackschleifen zu verzichten und stattdessen sein Produkt zu perfektionieren, halte ich für die meisten Anwendungen für äußerst schädlich.

Im Großen und Ganzen, glaube ich, Lean Startup ist wohlauf, und blickt einer blendenden Zukunft entgegen.

Vielen Dank an Holger Bohlmann, Fabian Dittberner, Florian Eisenberg und Doreen Timm für ihren wertvollen Input.
Photo by Daniel Ruyter

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Manuel Küblböck
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Org design & transformation, Agile and Lean practitioner, web fanboy, ski tourer, coffee snob.