Desinformation als Kriegswaffe

MTM
Medientage Mitteldeutschland
4 min readJul 5, 2022

Die Pressefreiheit in Osteuropa steht unter Druck. Langjährige Propaganda verschärft die Lage in Krisenzeiten.

© Daniel Reiche

Von Johanna Stolz und Kristina Hammermann

“Wir sehen in Russland, dass es eben möglich ist, Menschen einer Gehirnwäsche zu unterziehen — vor allen Dingen, wenn man es über Jahrzehnte tut (…). Was wir jetzt in Russland haben, das ist die totale Finsternis. Die Menschen können nichts lesen und keine Fakten hören.”

Mit dieser Einschätzung eröffnet Věra Jourová, die Vizepräsidentin der Europäischen Kommission und Kommissarin für Werte und Transparenz, das Panel „Pressefreiheit in Osteuropa unter Druck” — und damit einen der Höhepunkte der Medientage Mitteldeutschland 2022. Auf der Bühne sitzt sie eingerahmt von drei Herren: Petr Dvořák, dem General Director der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalt „Česká televize”, Piotr Stasiński, dem stellvertretenden Chefredakteur der polnischen Zeitung Gazeta Wyborcza, der als “Legende des polnischen Journalismus” vorgestellt wird. Und schließlich Moderator Dr. Lutz Kinkel, dem Geschäftsführer des Europäischen Zentrums für Presse- und Medienfreiheit (ECPMF) in Leipzig.

Die Zuschauerinnen und Zuschauer hören den Gästen des Podiums gebannt zu, während Jourová drastische Worte für die aktuelle Lage findet: „We are in an information war!” — und Desinformationen seien die Waffen dieses Krieges.

Desinformation und politische Agenda

Das sieht auch der tschechische Fernsehjournalist Petr Dvořák so. In seinem Land verbreiteten sich immer mehr Desinformationen rasend schnell, berichtet Dvořák mit Sorge. Einen Grund dafür sieht er im Wachstum sozialer Netzwerke, es habe aber auch politische Gründe: Die rechtsextreme Partei Svoboda a přímá demokracie (SPD) verbreite gezielt Desinformationen im eigenen Interesse — beispielsweise über die Corona-Pandemie und über Geflüchtete. Zu seiner eigenen Rolle sagt Dvořák: „Some politicians work hard to replace me and the head of news, to get rid of critical journalists and investigative journalists.”

Pressefreiheit in Polen: “Erkennbare Probleme”

Mehr Desinformation und zwar immer schneller — in Polen kommt da noch der Einfluss der national-konservativen Regierung hinzu, die den öffentlichen Rundfunk für ihre eigene Propaganda nutzt. „If press, if media serves the government, it’s propaganda, not journalism.” sagt Piotr Stasiński und berichtet, wie seine Zeitung Gazeta Wyborcza finanziell ausgetrocknet und mit Einschüchterungsklagen überzogen werde. Zwar gewänne sein Blatt einen Großteil der Klagen, trotzdem brauche es viel Zeit und Kraft, diese abzuwenden. Und das sei genau das Ziel hinter der Strategie: Einschüchtern und Ermüden.

Polen ist 2022 in der Rangliste für Pressefreiheit noch ein klein wenig weiter abgerutscht — von Rang 64 auf Rang 66. Wie die Nichtregierungsorganisation Reporter ohne Grenzen nach einer Untersuchung feststellte, gibt es in dem Land „erkennbare Probleme”. Sehr wenig Punkte erhält Polen etwa in der Kategorie „Politischer Kontext”, die abbildet, ob und wie politische Akteure die Autonomie der Medien achten.

Kreml-Propaganda hinterfragen

Dass alle Menschen in der Ukraine Nazis seien und dass Putins Angriffskrieg einer Entnazifizierung diene — solche Narrative, so betont Journalist Stasiński, müssten hinterfragt und aufgebrochen werden.

Außerdem müsse es ausreichend Gesetze, unabhängige Gerichte und Regulationen gegeben, die gegen Desinformation vorgehen — ohne die Meinungsfreiheit einzuschränken. Dabei dürften digitale Plattformen und deren Verantwortung nicht außer Acht gelassen werden: „Digital platforms did their best to create a crowd, which is easy to manipulate”, kritisiert Jourová. Ein weiterer wichtiger Punkt sei eine starke unabhängige Finanzierung der Presse, so Dvořák. Jourová spricht in diesem Zusammenhang vom European Media Freedom Act. Das neue EU-Gesetz soll unabhängigen Medien den Rücken stärken und den Pluralismus der Medien in der EU stützen.

Standhalten im Informationskrieg

„Wie kann man nun Bürgerinnen und Bürger — sowohl Jung als auch Alt — gegen solch einen Informationskrieg wappnen?”, lautet eine Frage aus dem Publikum. Věra Jourová betont die Herausforderung, gibt aber einige Anhaltspunkte: Insbesondere eine aufgeklärte, medienkompetente Gesellschaft sei sehr wichtig. Denn wer Informationen und Quellen auf Seriosität und Plausibilität prüfen kann, sei weniger empfänglich für Desinformation und Propaganda. Das müsse bereits Kindern und Jugendlichen beigebracht werden. Die Tschechische Republik investiere dahingehend bereits verstärkt in mediale und digitale Bildung. Schwierig sei es aber bei Erwachsenen, die jahrelang mit Propaganda aufgewachsen seien oder mit Älteren — etwa isoliert in Pflegeheimen — die mit niemandem über ihre Ängste sprechen könnten.

Echte Infos auf allen Kanälen

Wissen teilen, Informationen weitergeben, im Netzwerk mit anderen öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten — das sei der Schlüssel, um Menschen vor Desinformation zu schützen, erklärt Petr Dvořák. Und nutzt ein eindrucksvolles Beispiel: Zusammen mit Sendern in Frankreich und in der Ukraine, habe „Česká televize” zu Beginn des russischen Angriffskrieges das erste offizielle Interview mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj aufgezeichnet und gesendet. Es sei danach auf rund 260 verschiedenen Kanälen öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten in ganz Europa übertragen worden.

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