Digitale Formatentwicklung für junge Zielgruppen: 3 Praxisbeispiele aus der Medienwelt
von Julia Prawitz // im Rahmen von MTM Pioneers
„Hochkantvideos sind kein Journalismus!“ ist einer der Vorwürfe, den Morten Wenzek, der Leiter des Tagesspiegel Social Media Teams, häufig zu hören bekommt. Nicht nur er, sondern auch Alexander Knetig (Head of Digital Distribution bei Arte) und Anke Lindemann (Leitung der Redaktion „Kinder und Familie“ beim MDR) stehen mit Praxisbeispielen diesem Statement entschlossen entgegen. Bei den Medientagen Mitteldeutschland 2023 präsentierten die Medienschaffenden drei Projekte, welche trotz unkonventioneller Bildformate, Plattformen & Inhalte Erfolge verzeichnen konnten. Ist ein Bruch mit altbewährten Regeln womöglich genau das, was die etablierten Medien brauchen, um eine sonst fast unerreichte Zielgruppe zu gewinnen?
Frequently Asked Questions — Artes Bühne für junge Menschen mit persönlichen Antworten auf heiße Fragen
Mit FAQ wurde ein Format geschaffen, in welchem die junge Zielgruppe selbst zu Wort kommen kann. In den kurzen Videoclips auf Instagram, TikTok und Snapchat werden Fragen beantwortet und Themen aufgearbeitet, welche die Generation-Z umtreiben und sonst in den Medien wenig Aufmerksamkeit finden. Von nice-to-know Content wie „Muss ich unbedingt in die Stadt ziehen?“, bis hin zu nahegehenden persönlichen Erfahrungsberichten aus dem Leben junger Menschen. Mit Beispielen wie dem Aufwachsen mit Intersexualität oder der Frage „Ist eine Fehlgeburt normal?“, wird hier versucht „der inhaltlichen nostalgischen Endlosschleife“ zu entkommen, so Alexander Knetig.
Knetig berichtet auf den Medientagen, wie es gelungen ist, mit dem von Arte France adaptierten Format, ein junges Publikum zu erreichen, welches im Durchschnitt ca. 30 bis 40 Jahre jünger ist als die üblichen Zuschauer des Arte-Fernsehprogramms. Der Trick: neue gesellschaftlich relevante Themen für die entsprechende Zielgruppe eigenständig konzipieren und produzieren — und das für Drittplattformen. Knetig betont, es gilt „Inhalte, für die Leute bereits bezahlt haben, auch dort zu distribuieren, wo die Leute auch sind“. Nach allgemeiner Arte-Strategie wird nicht versucht das Publikum auf eigene Plattformen rückzuführen, sondern die Chance, welche die Fremdplattformen bieten, zu nutzen. Und das scheint zu funktionieren, die meisten Clips auf Instagram und TikTok erreichen derzeit jeweils mehr als 100.000 Zuschauer und Zuschauerinnen.
Gyncast und Co. — Social Media Journalismus beim Tagesspiegel
Das Tagesspiegel Social Media Team bereitet die Inhalte ihrer Kollegen und Kolleginnen für die gesamte Bandbreite an Plattformen auf. Über Twitter, Facebook, Instagram, LinkedIn, YouTube und TikTok erreicht das Team unter Leitung von Morten Wenzek und seiner Stellvertreterin Raissa Brunnauer, viele tausend Follower und Followerinnen mit einem breiten Spektrum an Formaten. Die Bühne der Medientage nutzen die beiden, um Falschannahmen über ihr Arbeitsfeld richtigzustellen. So zeigen sie auf, dass, entgegengesetzt zur allgemeinen Erwartung, nicht nur junge Menschen über soziale Medien erreicht werden können. Denn die Demographie der Zielgruppe unterscheidet sich von Plattform zu Plattform. „Selbst meine Eltern sind auf Instagram“ bestätigt Wenzek, was die Zahlen bereits verdeutlichten: 60% der Tagesspiegel-User auf Instagram sind zwischen 25 und 44 Jahren. TikTok hingegen ist eine wesentlich jüngere Plattform, bei welcher die 18- bis 24-Jährigen allein ca. ein Drittel der Zuschauer und Zuschauerinnen ausmachen.
Auf Sozialen Medien veröffentlichte Hochkant-Videos sind bekannt für gute Unterhaltung in kürzester Zeit und stehen in diesem Sinne dem grundsätzlich informierenden Ziel des Journalismus entgegen. Wenzek plädiert dafür, den Unterhaltungsbegriff neu zu definieren. Aufgrund der kürzer werdenden Aufmerksamkeitsspanne junger Menschen beim Konsumieren von Inhalten können journalistische Informationsvideos mit unterhaltendem Aspekt den Bedürfnissen der Zielgruppe gerecht werden.
Wer zudem behaupten würde, Journalismus auf TikTok sei „cringe“, habe die falsche Perspektive, so Brunnauer. Dies liege nicht an der Plattform, sondern an der Herangehensweise wie Inhalte präsentiert werden. Das Geheimnis: authentische Protagonisten oder Protagonistinnen wie bei Gyncast, dem TikTok-Format des gleichnamigen Gynäkologie-Podcasts des Tagesspiegels. Hier beantwortet die Ärztin Dr. Mandy Mangler aktuell relevante und thematisch interessante Fragen der Zielgruppe auf Augenhöhe. Regelmäßig werden kurze, knappe Videos im Hochformat des etablierten Formats hochgeladen. Brunnauer betont, wie diese Konformität mit den Plattformregeln sowie das Wissen über die erreichte Community, stark zum Erfolg von Formaten beitragen.
WozNiu — Robo-Nachrichten mit Potential
Bei „MDR next“, dem Förderprogramm für innovative digitale Projekte im MDR, können sich jährlich Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des MDRs mit neuen Formatideen bewerben. 2021 gewann Anke Lindemann mit WozNiu, einem Update-Format für Preteens. Ihr besonderes Anliegen ist es, Nachrichten für Kinder zwischen 10 und 13 Jahren aufzubereiten, welche nicht zur Kika-Zielgruppe gehören. Mit dem Ziel, ein Format mit hoher Effizienz in der täglichen Erstellung zu entwickeln, welches zugleich genau die Zielgruppe trifft, wurde eine nutzerzentrierte Befragung durchgeführt. Lindemann sprach in ihrer Präsentation über die Ergebnisse und die anschließende Entwicklung des Formats.
Da sich ca. 90% der Zielgruppe zum Teil täglich auf YouTube aufhalten, wurde sich entgegen der klaren ARD-Haltung dazu entschieden, für die Drittplattform zu produzieren. Denn, so Lindemann: „mit einem Produkt, was man entwickelt was keine Marke ist, kann man auch nichts rückführen“. Mit Hilfe eines neu entwickelten intuitiven BackEnds konnten letztendlich motivierte Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen aus verschiedenen MDR-Abteilungen die zwei Roboter-Avatare Motu und Quinn zum Leben erwecken. In täglichen „kurzen und knackigen“ Hochkant-Videos sprachen die Roboter sehr niedrigschwellig zwei Monate lang über Themen aus der Lebenswirklichkeit der Kinder. Die Auswertung zeigte: Kinder, welche einmal die Videos entdeckt haben, blieben dabei. Einige Bestseller-Videos wie „Die schnellsten Tiere der Welt“ oder „Darum hängen Spinnen gerne in deinem Zimmer ab“ erreichten mehr als 20.000 Interessierte.
Trotz des Erfolgs konnte das Projekt aus finanziellen und strukturellen Gründen beim MDR nach den zwei Monaten nicht abgedeckt werden. Dies liegt vor allem an der Konzentration der ARD auf Hauptzielgruppen, zu welchen Kinder in dem angesprochenen Alter nicht zählen. Lindemann sprach aber von verschiedenen Anfragen, zur Übernahme des Projektes oder der Software, aus der privaten Wirtschaft und Austausch mit Kika. Es bleibt also abzuwarten, ob Motu und Quinn in Zukunft erneut Kinder informieren dürfen.
Ist Hochkant-Journalismus die Lösung?
„Alles kann, nichts muss“ würde Morten Wenzek diese Frage beantworten. Am Ende seiner Präsentation betont er, dass die Generierung von Reichweite allein nicht immer ausreichend sei. Denn vor allem private Medien sind auf die Monetarisierung von Inhalten angewiesen. Dies ist auf den sozialen Netzwerken oft nicht gewährleistet und so sind zusätzliche Produktionskosten für neue Formate nicht immer erträglich.
Abschließend zeigen alle drei Beispiele dennoch klar die enorme Chance, welche Soziale Medien mit ihren hohen Zahlen an bereits etablierten Nutzern und Nutzerinnen für den Journalismus bieten. Die junge Zielgruppe hat offensichtlich neue Bedürfnisse und Ansprüche an ihre Mediennutzung und damit ihren Nachrichtenkonsum. Diesen kann formal und inhaltlich mit Bedacht und Kreativität gerecht geworden werden kann. Gerade in Bezug auf die stetige Debatte um den Rundfunkbeitrag, in welcher vorwiegend junge Menschen ihren persönlichen Gewinn aus den öffentlich-rechtlichen Medien hinterfragen, stellt sich die Frage, ob eine Rückführung der User auf eigene Plattformen der Öffentlich-Rechtlichen immer sinnvoll ist.