Zukunft des Fernsehens: „Es tut sich unglaublich viel!“

MTM
Medientage Mitteldeutschland
4 min readAug 24, 2021
Medientage Mitteldeutschland © Viktoria Conzelmann

von Sören Hinze

Das allererste Interview nach ihrer Kür zur Kanzlerkandidatin — Annalena Baerbock gibt es nicht ARD oder ZDF, sondern dem Privatsender ProSieben. Das ist ungewohnt. Ist das ein Hinweis auf einen Vorstoß hin zu einer neuen Strategie der Privatsender? Am zweiten Tag der Veranstaltung blicken die Medientage Mitteldeutschland in die Zukunft: Welche Programmpläne haben ARD, ZDF, RTL und ProSieben/SAT.1? Wo liegen die Schwerpunkte der Sender? Und inwiefern unterscheiden sie sich in ihrer Grundstruktur? Darüber diskutieren Dr. Norbert Himmler (ZDF-Programmdirektor), Henrik Pabst (Seven.One Entertainment Group-Geschäftsführer), Stephan Schmitter (Geschäftsführer RTL-News), Christine Strobl (ARD-Programmdirektorin) und Prof. Dr. Hans-Jürgen Weiß (Kommunikationswissenschaftler). Moderiert wird die Runde von Medienjournalistin Vera Linß.

Die Pandemie hat das Programm geprägt

Zu Beginn präsentiert Fernsehprogrammforscher Weiß seine Untersuchungsergebnisse. Für die Medienanstalten beobachtet er deutsche Fernsehvollprogramme, darunter ARD und ZDF, RTL und VOX, SAT.1 und ProSieben. Wie hat die Corona-Pandemie das TV-Programm geprägt und worin unterscheiden sich private von öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern? Die wichtigsten Nachrichtensendungen — darunter Tagesschau, SAT.1 Nachrichten, RTL Aktuell und das heute journal — haben sich zu 45 bis 75 Prozent mit Themen rund um die Corona-Krise beschäftigt, so Weiß’ Analyse für das vergangene Jahr. „So etwas habe ich noch nie erlebt, seitdem ich Programmforschung mache“, kommentiert der Wissenschaftler. Zudem gab es im Programm überdurchschnittlich viele Sondersendungen als „Krisenbegleiter“. „Früher war das weitgehend die Domäne der öffentlich-rechtlichen Programme“, bemerkt der Wissenschaftler. Das hat sich nun geändert: Etwa 40 Prozent der Sondersendungen strahlten die Privaten aus. Dabei hat sich ProSieben als Vorreiter platziert. Bislang sei RTL das „informationsführende private Programm“ gewesen, so Weiß.

Sind diese Zahlen nur Randerscheinungen der Krise oder Vorboten einer Neuausrichtung der privaten Sender? Im Gesamtumfang unterscheide sich das private Programm noch deutlich vom öffentlich-rechtlichen: Bei ARD und ZDF bilden journalistische Informationen den Schwerpunkt, während bei RTL und SAT.1 weiterhin nonfiktionale Unterhaltung rund die Hälfte des Programms ausmacht. ProSieben hingegen sei in erster Linie ein „Seriensender“ — fast 60 Prozent des Sendeanteils ist fiktionale Unterhaltung, heißt es in der Analyse des Programmforschers. Sein Fazit: Eine Annäherung von öffentlich-rechtlichen und privaten Sendern hat nicht stattgefunden. Aber wird sich das, in Anbetracht der Informationsoffensive der privaten Sender, ändern? Immerhin wurden beispielsweise Annalena Baerbock und ihre beiden Konkurrenten um die Kanzlerkandidatur auf ProSieben zur besten Sendezeit präsentiert.

Mehr Lokal, mehr Information, mehr Live

Und tatsächlich: Sowohl Schmitter für RTL, als auch Pabst für ProSieben und SAT.1, kündigen einen Strategiewechsel an. „Wir werden unsere sieben Stunden Informationsangebot auf über neun Stunden ausbauen”, offenbart RTL-News Geschäftsführer Schmitter: „Das ist ein Rieseninvestment unsererseits. Wir wollen jeden Tag entscheiden, was ist wichtig für die Menschen. Es wird deutlich vitaler werden.” Was die Zuschauer konkret erwartet, möchte der Sender aber erst in den kommenden Monaten verraten.

Auch beim Spartenkonkurrenten ProSieben und SAT.1 wird sich das Programm verändern. Erst kürzlich wechselte die ehemalige Tagesschau-Sprecherin Linda Zervakis exklusiv zu ProSieben.”Wir wollen kein öffentlich-rechtlicher Sender werden. Wir schwenken nicht in der Strategie, sondern schärfen sie”, erklärt Seven.One-Geschäftsführer Henrik Pabst. Der Sender möchte auf mehr lokale Formate setzen, mehr „live sein“ und so „mehr Relevanz schaffen“. Der Verantwortung aufgrund seiner großen Reichweite wolle der Sender nachkommen. Pabst erwähnt als Positiv-Beispiel die investigative Dokumentation “Rechts. Deutsch. Radikal.” von Thilo Mischke.

ZDF-Programmdirektor Himmler freut sich, „dass die Privatsender im Strategiewechsel aufgewacht sind“. Das sei aber nicht nur das Zuschauerbedürfnis, sondern auch die „Marktnotwendigkeit“. „Die amerikanischen Streamingdienste dringen auf den deutschen Markt“, sagt Himmler. Wenn bis zu 90 Prozent des Programms auf den deutschen Sendern amerikanische Ware sei, bleibe den Privatsendern nichts anderes übrig, als auf Deutschland und auf Informationsangebote zu setzten, argumentiert Himmler. „Doch, zwei Mal Thilo Mischke in der Prime Time — die Schwalbe macht noch keinen Sommer“, sagt er in Richtung ProSieben.

Unterdessen kündigt ARD-Programmdirektorin Christine Strobl an, vor der Bundestagswahl auch das junge Publikum anzuvisieren. „Wir versuchen jüngere Zielgruppen anzusprechen, gerade Erstwähler.“ Man wolle neue Formen der Politikberichtserstattung etablieren. Dabei blicke die ARD-Programmdirektorin „auch immer wieder gerne darauf, was die Privaten machen.“ Das sei eine „schöne Anregung“. „Ich nehme die Privaten als positive Konkurrenz auf“, sagt Strobl.

Aufbruch statt Strategiewechsel?

Die Diskussion macht deutlich: Das lineare Fernsehen befindet sich in einer Umbruchs- und Veränderungsphase. Passend formuliert es Stephan Schmitter: „Es gibt keine spannendere Phase — seit der Gründung des Privatfernsehens — als jetzt. Es tut sich unglaublich viel!“

Die nächsten Vorboten der Veränderung werden allem Anschein nach im heißen Wahlkampfsommer ausgestrahlt. Aber auch nach der Bundestagswahl können Zuschauerinnen und Zuschauer mit neuen Formaten aus ungewohnten Ecken des Senderspektrums rechnen. Das hat die Diskussionsrunde zum Abschluss der Medientage Mitteldeutschland 2021 verdeutlicht. Private und öffentlich-rechtliche Sender wollen ihr Profil schärfen. Nicht zuletzt, um sich gegen die großen Streaming-Plattformen durchzusetzen. Dieser Wettbewerb ist am Ende gut für Zuschauerinnen und Zuschauer.

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