Das Neue neu denken

Es ist Zeit, unser Verständnis von Innovation zu erweitern

Dominic Hofstetter
Meso Partners
8 min readJul 12, 2022

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Die Schweiz ist gut darin, neue technologische Innovationen hervorzubringen. Technologien allein werden aber nicht reichen, um die drängendsten Probleme des 21. Jahrhunderts zu lösen. Damit Innovation auch in den nächsten 30 Jahren einen wichtigen Beitrag zur gesellschaftlichen Zukunftsgestaltung leisten kann, muss die Schweiz dringend ihr Innovationsverständnis erweitern.

von Dominic Hofstetter, Space Building Lead bei der TransCap Initiative und Mitglied von Meso - Die Allianz für systemische Innovation.

Der Hardplatz in Zürich — Lebensraum, Verkehrsdrehscheibe, Betonwüste, Hitzeinsel. Wie wird es uns gelingen, diesen und ähnliche Orte in der Schweiz zu transformieren? Und welche Art von Innovation braucht es dafür?

Dieser Artikel ist der erste von drei Beiträgen zur Lancierung von Meso - Die Allianz für systemische Innovation. Der zweite Beitrag von Björn Müller und Ivo Scherrer erklärt, was Meso unter Systeminnovation versteht. Der dritte Beitrag (noch nicht publiziert) von Ramona Sprenger und Ruben Feurer erläutert das Konzept des strategischen Experiments.

Das Zugpferd der Schweizer Wirtschaft ist der Kanton Zürich. Dieser zählt sogar zu den wirtschaftsstärksten Regionen Europas. In Bezug auf die eigene Innovationskraft ist er aber erstaunlicherweise nur Mittelmass.

Zu diesem Schluss kommt eine kürzlich veröffentlichte Studie, die den bevölkerungsreichsten Kanton der Schweiz im Vergleich mit 250 europäischen Wirtschaftsregionen lediglich auf Platz 51 sieht. Dieses schlechte Abschneiden kommt für viele überraschend, pflegt der Kanton Zürich doch seit Jahren ein Image als global führender Innovationsstandort.

Die Studie ist interessant, weil sie eine Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit aufdeckt. Noch spannender ist jedoch die nähere Betrachtung der Faktoren, mit denen die Innovationskraft verschiedener Regionen verglichen wird: Patentanmeldungen, Markeneintragungen, Ansiedlung von Unternehmen und Rekrutierung von Fachkräften. Denn hier versteckt sich das eigentliche Problem.

Marktfähigkeit als Leitziel der Innovationsförderung

Die Methodik dieser Studie sagt nämlich viel über das Innovationsverständnis der Schweizer Politik aus. Dieses beruht auf dem Credo «Fortschritt durch Wachstum»: Die Wissenschaft erarbeite die Grundlagen, die Privatwirtschaft schöpfe das Potenzial aus, und erfolgreich sei man dann, wenn die Wirtschaftsleistung zunimmt.

Tatsächlich basiert die Innovationsstrategie des Bundesrats auf einer über 80-jährigen Definition des Ökonomen Joseph Schumpeter. Demnach seien Innovationen «Neuerungen, die erfolgreich auf dem Markt umgesetzt werden». Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass Volkswirtschaftsdirektorin Carmen Walker Späh den Innovationsplatz Zürich vor allem durch wirtschaftliche Massnahmen stärken will: Steuererleichterungen, Effizienzsteigerung bei Forschungsausgaben, Bereitstellen von Fachkräften und Vernetzung von Unternehmen.

Mit ihrem Innovationsverständnis reiht sich die Schweiz in das Gros der westlichen Wirtschaftsnationen ein, deren Zukunftsgestaltung durch das Narrativ «Fortschritt durch Wachstum» dominiert ist. Man findet es nicht nur in der Industriepolitik, sondern auch in Ansätzen zur internationalen Entwicklungszusammenarbeit («Sustainable Development»), im Gesundheitswesen (Patentschutz) oder in der Umweltpolitik («Green Growth»).

Heldengeschichten befeuern die Innovationsromantik

Die Erfolgsgeschichten, die dieses klassische Innovationsverständnis nähren, liefern globale «Innovation Hotspots» wie Singapore, London, New York und — allen voran — das Silicon Valley. Jedes Land würde gerne das nächste Apple, Google oder Tesla hervorbringen. Es ist deshalb nachvollziehbar, dass viele Staaten ihre Innovationsförderung auf Grundlagenforschung, Start-up Inkubation und Leuchtturmprojekte fokussieren.

Bei genauerer Betrachtung fällt auf, dass Anekdoten aus der Innovationswelt alle einem ähnlichen Drehbuch folgen: Brilliante Unternehmer:innen entwickeln geniale Lösungen zu spezifischen Problemen mit lukrativen Geschäftsmodellen. Es handelt sich um die klassische Heldenreise (Monomythos), einer Grundstruktur der literarischen Form der Erzählung.

Der Hauptsitz von Apple Inc. im kalifornischen Cupertino. Wie kein anderes Unternehmen verkörpert Apple das traditionelle Innovationsparadigma. Und wie kein anderer Mensch verkörperte Steve Jobs den Helden, dem so viele Innovatoren und Innovatorinnen in aller Welt nacheifern.

Diese Heldenreisen befeuern auch die Romantik, die der Innovationsbegriff ausstrahlt. Er steht für Mut, Visionen, Risikobereitschaft und Aufopferung — Tugenden, die viele gerne hätten und mit denen sich Politiker:innen profilieren können. Sie sehen in der Innovation die Lösung aller Probleme, lancieren Förderinstrumente wie den Technologiefonds (BAFU), vergeben Preise wie den Watt d’Or (BFE) und feiern das gute Abschneiden unserer Eidgenössischen Technischen Hochschulen in Universitätsranglisten.

Schweizer Politik und Innovation — es ist definitiv Liebe. Aber Liebe macht halt immer auch etwas blind.

Wenn «Innovation» die Antwort ist, was ist die Frage?

Viele Exponenten aus Politik und Wirtschaft haben nämlich noch nicht verstanden, dass die Anforderungen an «Innovation» gestiegen sind. Innovation muss heute mehr leisten, um breiten gesellschaftlichen Nutzen zu stiften. Unsere Welt sieht sich aktuell nämlich mit einer Vielzahl immenser Probleme konfrontiert: Klimakrise, Artensterben, soziale Ungleichheit, strukturelle Bildungsunterschiede, Cyberkriminalität und strukturelle Probleme bei der Verteilung und dem Zugang zu Lebensmitteln, um nur die drängendsten zu nennen.

Es handelt sich hierbei nicht um Optimierungsprobleme, die man mit einer inkrementellen Verbesserung gängiger Technologien und technischer Verfahren lösen könnte. Und auf die Seltenheit fundamentaler wissenschaftlicher Durchbrüche — wie ihn beispielsweise die Kernfusion seit Jahrzehnten verspricht — zu hoffen, wäre naiv. Der Weltklimarat spricht deshalb schon seit Jahren davon, dass es eine strukturellere, tiefergehende Art von Veränderung braucht: Systemtransformation.

Komplexe gesellschaftliche Probleme erfordern Veränderungen einer besonderen Qualität: tiefgreifend, strukturell und unumkehrbar. Wissenschaftler:innen verwenden für diese Art von Wandel oft das Wort Transformation.

Das heisst nun aber nicht, dass die Förderung von Grundlagenforschung und innovativer Unternehmen gänzlich ins Leere schiesst. Vielmehr geht es darum, den Unterschied zwischen den einzelnen Komponenten eines Systems und deren Vernetzung zu erkennen. Investitionen in die Weiterentwicklung der Einzelbausteine werden sich auch in Zukunft auszahlen. Aber um den von der Wissenschaft geforderten Systemwandel zu ermöglichen, braucht es auch Innovationen, die diese Bausteine anders verweben und dadurch eine andere Systemkonfiguration schaffen.

Folgendes Beispiel zur Veranschaulichung:

Am 27. Oktober 2021 kamen zehn Schweizer Denkfabriken zusammen, um über den Klimawandel zu diskutieren. Aus dem Gespräch resultierten 20 Vorschläge für Massnahmen, welche die Schweiz zum Umgang mit dem Klimawandel ergreifen solle. Dazu gehören die Gründung einer «grünen» Investmentbank, die Abkehr vom Fleischverzehr, die Verhandlung der Klimakrise mit der Gesellschaft, die Festlegung verbindlicher CO2-Ziele, die Stärkung der demokratischen Willensbildung sowie das Pflegen der internationalen Kooperation.

Keine dieser Massnahmen benötigt klassische Innovation. Tatsächlich schreiben diese Denkfabriken der Grundlagenforschung und den technischen Neuerungen nur untergeordnete Rollen zu. Mehrfach erwähnen sie in ihrem Arbeitspapier, dass Technologien allein den benötigten Strukturwandel nicht herbeiführen könnten.

Gemäss diesen Denkfabriken stehen also die allermeisten Bausteine bereit, die es braucht, um eine resiliente, regenerative, inklusive und faire Zukunft zu bauen. In den nächsten 10 Jahren wird die Herausforderung folglich nicht primär bei der Entwicklung neuer technischer Lösungen liegen, sondern darin, die verschiedenen Puzzleteile zu einem ganzheitlichen, nachhaltigen System zusammenzufügen.

Es ist deshalb besorgniserregend, dass das Schweizer Bundesamt für Umwelt (BAFU) den Innovationsbegriff sehr eng auf marktfähige Technologien und technische Verfahren begrenzt. In Anbetracht der gestiegenen Anforderungen an Innovation müssen wir uns die Frage stellen, ob das Credo «Fortschritt durch Wachstum» noch zeitgemäss und unser Innovationsverständnis noch zielführend ist — nicht nur beim Klimawandel. Können wir die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts tatsächlich mit denselben Strategien lösen, die am Ursprung dieser Probleme stehen?

Auf zur Erweiterung des Innovationsbegriffs

Eine Innovationspolitik mit dem Anspruch, auch in den kommenden Jahrzehnten Nutzen für die Gesamtbevölkerung zu stiften, versteht gesellschaftliche Herausforderungen als komplexe systemische Probleme. Dies bedeutet, dass diese Probleme aus dem dynamischen Zusammenspiel verschiedener Elemente im «System Gesellschaft» entstehen.

Eine Berglandschaft wie der Schweizer Nationalpark ist — genauso wie Städte, Lieferketten oder Küstenzonen — ein komplexes System. Ihre Gesundheit hängt von vielen Faktoren ab, z.B. von Temperaturen, Niederschlagsmengen, Biodiversität, Luft- und Wasserqualität, extremen Wetterereignissen sowie menschlichen Eingriffen wie Tourismus und Holzwirtschaft.

Technologien und technische Verfahren sind lediglich zwei Elemente einer Vielzahl von Verbindungspunkten in diesem System. Das Handeln einer Gesellschaft als Ganzes ergibt sich aus den Entscheidungen und der Interaktion einzelner Menschen, und wie die sich verhalten und entscheiden hängt u.a. davon ab, welche Bildung sie genossen haben, welchen sozialen Normen sie folgen, welche Gesetze sie befolgen und welche wirtschaftliche Sicherheit sie verspüren.

Aus einer systemischen Sicht genügt es also nicht, den Innovationbegriff an eine Vermarktungsfähigkeit zu koppeln oder ihn auf technische Neuerungen zu reduzieren. Um politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Rahmenbedingungen für den benötigten Strukturwandel zu schaffen, müssen wir auch an anderen Stellschrauben drehen. Wir brauchen nicht nur neue Technologien und technische Verfahren, sondern auch neue Geschäftsmodelle, andere Bildungssysteme, mutige Kollaborationsformen und Experimentiergefässe sowie diversere Partizipationsformate für Bürgerinnen und Bürger.

Die Bewegung «Fridays for Future» ist ein gutes Beispiel, um diesen Punkt zu verdeutlichen. Indem sie durch eine Reihe friedlicher Proteste einen Wertewandel in der Gesellschaft herbeigeführt hat, kam es in der «Klimawahl» 2019 zu einer Verschiebung der politischen Machtverhältnisse im Eidgenössischen Parlament, wonach umweltpolitische Anliegen auf eine stärkere politische Basis in Bern abstützen konnten. Um eine Bewegung wie «Fridays for Future» aber als Innovation zu verstehen, braucht es ein geschärftes Problemverständnis und eine breitere Definition des Innovationsbegriffs.

Hin zur Systeminnovation

In der Essenz geht es um einen Paradigmenwechsel: weg von der Verherrlichung der Punktinnovation, hin zu einem differenzierten Verständnis der Systeminnovation.

In der Systeminnovation werden verschiedene Veränderungshebel gleichzeitig bedient, wie zum Beispiel Gesetze und Regulierungen, Bildung, Kultur, gesellschaftliche Werte, Modelle der Ökonomie und Finanzen, Bürger:innenpartizipation und auch — aber halt nicht ausschliesslich — Technologien und technische Verfahren.

Was dies bedeutet, lässt sich gut anhand des Verkehrssystems aufzeigen. Viele Staaten arbeiten aktuell daraufhin, ihre Fahrzeugflotten zu elektrifizieren. Damit fände aber lediglich ein Technologietausch statt: Benzin- und Dieselautos gegen Elektrofahrzeuge. Elektrifizierung allein ändert grundsätzlich nichts daran, wieviel Mobilität konsumiert wird, wie unsere Strasseninfrastruktur gestaltet ist, wie wir Städteplanung machen oder welcher Anteil der öffentliche Verkehr an der Gesamtverkehrsleistung ausmacht. Eine echte Systemtransformation bedingt aber, dass wir an all diesen Stellschrauben drehen.

Eine Tesla lädt an einer “Supercharger”-Ladestation in der Walliser Gemeinde Steg-Hohtenn. Elektrofahrzeuge gehören zur Zukunft des Schweizer Mobilitätssystems. Aber echte, tiefgreifende Nachhaltigkeit in der Mobilität kann durch Technologie-Substitution allein nicht erreicht werden.

Dabei ist entscheidend, wie wir dies tun. Die Weiterentwicklung komplexer Systeme lässt sich nicht auf Jahrzehnte hinaus exakt planen. Komplexität bedeutet nämlich, dass niemand genau weiss, welchen Regeln ein System unterliegt und welche Rückkoppelungseffekte am Werk sind. Deshalb kommt es immer wieder vor, dass kleine unvorhergesehene Veränderungen einen massiven Einfluss auf ein System haben können, wie dies — um beim Beispiel «Fridays for Future» zu bleiben — bei einer 15-jährigen Schülerin der Fall war, die sich 2018 entschieden hat, vor dem schwedischen Parlament in den Schulstreik zu treten. Deshalb erfordert Innovation in komplexen Kontexten, dass Stakeholder aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen zusammen kollaborieren, experimentieren, beobachten und lernen.

Systeminnovation bedeutet eine Neuorientierung verschiedener Denkweisen: von wirtschaftsgläubig zu gesellschaftszentriert, von punktuellen Einzellösungen zu gesamtheitlichen Systemansätzen, von Wachstum zu Transformation, von der Verehrung des Heldentums (Monomythos) zur Wertschätzung der kollektiven Koordination (Polymythos), von den 30-Jahre-Masterplänen von Regierungen zu emergenten, auf Lernexperimenten aufbauenden Innovationsstrategien einer breiten Stakeholder-Allianz.

Eine systemische Denkweise verändert auch die Messung von Erfolg der Innovationsförderung. Von Interesse wären nicht mehr nur die statischen, produktivitätsbezogenen Metriken wie die Anzahl neu gegründeter Unternehmen oder neuer Patentanmeldungen. Viel aufschlussreicher wären Antworten zu Fragen, die dynamische, qualitative Aspekte ins Visier nehmen: Wie verändern sich Werte und Konsumverhalten in der Bevölkerung? Wie resilient sind die Lieferketten gegenüber globalen Krisen wie Pandemien? Wie schnell kann sich unser politisches System an solche Krisen anpassen?

Der Anteil der 18–24 Jährigen, die einen Führerausweis besitzen, ist ein Indiz dafür, wie sich die Einstellung zur Individualmobilität in der Bevölkerung verändert. Innovationen, die junge Menschen dazu animieren, gar nicht erst den Führerschein zu machen, können einen wichtigen Beitrag zur Mobilitätswende leisten.

Damit diese Aspekte relevant werden, muss sich aber zuerst die Zielfunktion der Innovationsförderung ändern. Auf einem Planeten mit beschränkten Ressourcen führt ausbeuterisches Wirtschaftswachstum unweigerlich zur Überschreitung von planetaren Grenzen — nicht nur beim Klima, sondern auch bei der Biosphäre, dem Süsswasserverbrauch, dem Ozonloch und den biogeochemischen Kreisläufen. Im Zentrum einer progressiven Innovationsförderung braucht also neue Modelle zur Erfolgsmessung, wie sie beispielsweise die britische Ökonomin Kate Raworth mit «Doughnut Economics» oder die OECD mit dem «Better Life Index» liefern.

Eine Chance für die Schweiz

In anderen Teilen der Welt ist dieses Verständnis bereits gereift. Organisationen wie UNDP, Demos Helsinki und Climate-KIC — die grösste EU-Initiative zur Förderung von Klimainnovation — haben vor Jahren auf systemische Innovationsansätze umgestellt. Und mit «Net Zero Cities» ist gerade eines der ambitioniertesten Klimaschutzprogramme der Welt gestartet: 100 europäische Städte sollen mithilfe von Systeminnovation bis 2030 an das Netto-Null-Ziel herangeführt werden — die Schweiz ist nicht dabei.

Tatsächlich steckt die Systeminnovation in der Schweiz noch in den Kinderschuhen. Die gesellschaftlich relevanten Akteurinnen und Akteure unseres Landes — allen voran aus Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Zivilbevölkerung — müssen sich an diesen neuen Ansatz herantasten und herausfinden, wie er sich in das direktdemokratische Politsystem mit seinen föderalistischen Strukturen einbetten lässt. Meso ist hier, um die Schweiz auf dieser Lernreise zu begleiten und ihr dabei zu helfen, das Neue neu zu denken.

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Dominic Hofstetter
Meso Partners

I write to inform, inspire, and trigger new strategies for tackling climate change.