Perfekt unperfekt.

Warum ich mich von technisch perfekten Fotografien losreißen will.

Michèl Passin
mpassin
4 min readSep 25, 2016

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Ursprünglich diente die Fotografie dazu Momente festhalten zu können. Es ging darum die Dinge so abzubilden wie sie sind. Authentisch, ehrlich, ungeschönt.

Mittlerweile hat sich in der Fotografie unglaublich viel getan. Sie ist Ausdruck von Leidenschaft, Zeitvertreib und eben auch künstlerisches Gestaltungsmittel — um nur ein paar zu nennen. Und mit mehr und mehr technischen Hilfsmitteln und Werkzeugen entstanden unzählige Stile und Varianten die eigenen Ergebnisse zu bearbeiten. Inzwischen werden dank CGI sogar komplexe Szenerien zu 100% am Rechner erstellt, ohne dass auch nur ein einziges dargestelltes Objekt jemals eine Kamera gesehen hat.

Alles wird bis ins letzte Detail optimiert und perfektioniert — doch ist es das was die Fotografie eigentlich möchte? Ist es das was ich möchte?

Möwen — Hamburg 2015

Möwen

Sicherlich nicht mein erstes “unperfektes” Foto, aber garantiert jenes das mich begonnen lassen hat umdenken. Die Aufnahme entstand an einem sehr regnerischen Tag in Hamburg. Ich lief mit meiner Freundin über den Fischmarkt, zückte die Kamera ohne großartig darüber nachzudenken und drückte bei dem vorbeifliegenden Möwenschwarm einfach ab.

Erst nachdem ich zu Hause die Bilder überspielt hatte bemerkte ich, dass die Aufnahme unscharf war. Mist! Doch irgendetwas an dem Bild hielt mich davon ab es zu löschen und seit knapp 1 Jahr hängt es sogar als Alu-Dibond Abzug bei uns im Schlafzimmer.

Amélie — Stralsund 2016

Amélie

Bei unserem letzten gemeinsamen Shooting in Stralsund, gingen Amélie und ich zum Abschluss noch ein wenig auf einen längeren Steg der ins Wasser reichte. Da es fürchterlich windig und wackelig war ging bei dem ein oder anderen Bild ab und an der Fokus etwas daneben.

Was mich an diesem Bild dennoch faszinierte war dieses einzige scharfe Haar und das es in seiner Gesamtheit dennoch 100% der Stimmung dieses Moments festhielt.

Begegnung — Berlin 2016

Begegnung

Dieses Bild entstand in der Tat erst gestern und ist auch der Auslöser für diesen Beitrag.

Ich befand mich auf dem Rückweg meines letzten Hochzeitsshootings des Jahres und wartete an der Friedrichstraße auf meine U-Bahn, als mich plötzlich ein Herr im Rollstuhl ansprach, ob ich so nett sei und ihm in die Bahn helfen könne.

Wir kamen direkt miteinander ins Gespräch. Kurz bevor er die Bahn wieder verlassen musste, sprang ich über meinen Schatten und fragte ihn, ob ich ihn nicht kurz portraitieren dürfte. Also schnell die Kamera aus der Tasche gezogen und zack zack — fertig.

Nachdem ich ihm wieder aus der Bahn half setzte ich mich und sah mir die Aufnahmen an. In meiner Hektik hatte ich die Kamera auf den letzten Einstellungen des Hochzeitsshootings gelassen und somit waren die Aufnahmen durch das ruckeln der Bahn leider etwas unscharf .

Ja, es ist unscharf, rauscht wie Hölle und seine Brille spiegelt. Und das ärgert mich. Dennoch gibt es Gründe die das Bild für mich perfekt unperfekt machen.

Es ist das erste Foto für das ich eine fremde Person auf der Straße gefragt habe. Und so seltsam es klingt — aber das macht mich stolz. Schon immer wollte ich es wagen und interessante Leute einfach so portraitieren, habe mich allerdings bisher nicht getraut es einfach zu machen.

Was aber viel wichtiger ist, ist die Tatsache dass das Portrait für mich einen Moment festgehalten hat. Während unseres Gespräches erzählte er mir von seinen Träumen und Plänen. Es faszinierte mich wie seine Augen während seiner Erzählungen glänzten. Wahrscheinlich war auch das der Auslöser für mich, ihn einfach nach dem Foto zu fragen. Ich wollte einfach das Geschehene festhalten.

Und genau das ist es was ich will!

Ich will nicht ständig perfekte Momente inszenieren, bei denen ich mit dem Finger auf den Auslöser warte bis alles zu 100% stimmt. Ich will die Momente so einfangen wie ich sie sehe und erlebe. Natürlich heißt das nicht, dass jedes noch so verwackelte Bild auf biegen und brechen aufgehoben wird. Aber egal wie schlecht es technisch gesehen — also aus Sicht eines Lehrbuches — auch sein mag, stellt es eine Verbindung zu dir oder jemand anderem her, dann ist es gar notwendig daran festzuhalten und die Gedanken an das perfekte wegzuwerfen.

Denn ist die Aufnahme authentisch, dann ist sie perfekt — perfekt unperfekt. Und ich glaube, dass es genau dieser Punkt ist, der gute von herausragenden Fotografen unterscheidet.

My name is Michèl Passin and I create interfaces for web and mobile applications. I have more than 11 years of professional experience in design, UI / UX and frontend development. Apart from that, I love to spend my time as a photographer. My favourite color is white.

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Michèl Passin
mpassin

head of design & user experience @t-online. photographer & videographer focusing on portrait and documentary.