Uber und die Freelancer-Realität

Johannes Kuhn
Munich West
Published in
2 min readSep 7, 2014

--

Neulich im Café: Die Mitzwanzigerin vor mir in der Schlange freut sich über ihren türkischen Kaffee. “Mal sehen, wie lange mich der durch meine Uber-Fahrten bringen wird”, sagt sie.

Im kurzen Gespräch stellt sich heraus, dass sie natürlich nicht hauptberuflich Uber fährt, so wie hier meinem Eindruck nach eigentlich niemand “Lyft-, Uber- und Sidecar-Chauffeur” bei LinkedIn angeben würde. Sie macht etwas Kreatives, und auch das ist typisch: Ridesharing-Fahrer suchen den Nebenverdienst, von der Firmengründerin mit Startschwierigkeiten über den Künstler bis zu Familienväter- und -müttern, die so das verfügbare Einkommen steigern.

Natürlich erinnert das an so manche Taxifahrer-Karriere, aber es ist natürlich etwas anderes, unreguliertes. So wie wir jetzt bei ODesk sehen können, dass der Copywriter in der Spalte unter uns die Hälfte von dem verlangt, was wir gerne hätten.

Sascha Lobo hat das unter dem Stichwort Plattform-Kapitalismus beschrieben, aber es gibt natürlich nicht nur die Seite der Portale und die Kunden, sondern eben jene “Mitarbeiter”. Warum werden Menschen also Ridesharing-Chauffeure oder Mini-Dienstleister? Zwei Gedanken:

(1) De facto handelt es sich bei dem Phänomen auf Angebotsseite nur um die konsequente Fortführung der Minijob-Ökonomie, die politisch durchaus gewollt ist — nicht nur im bösen kapitalistischen Amerika, sondern auch im ach so sozialen Deutschland.

Aber es sind ja nicht nur Durchgangsstationen, wie so oft getan wird, sondern in den anstehenden Jahren des “jobless growth”, also des Wirtschaftswachstums ohne Arbeitsplätze, Regelbeschäftigungen. Vielleicht sollten wir einmal darüber sprechen, welche Konsequenzen wir als Gesellschaft aus dieser Entwicklung ziehen, statt alle paar Jahre mal das Märchen der machbaren Vollbeschäftigung aus der Tasche zu ziehen.

(2) Uber und Lyft sind nicht nur für die Kunden, sondern auch für die Anbieter eine reibungslose Angelegenheit. Sie können fahren, wann sie möchten und wie lange sie möchten (abhängig z.B. vom Angebot und Nachfrage auf der Straße), und so lange, bis sie die gewünschte Summe eingenommen haben (was manchmal 12–14 Stunden sind).

Das ist schon sehr viel näher an einer echten Flexibilität, als sie herkömmliche Freelancer-Jobs oder gar Zeitarbeit bieten. Und ganz weit weg von dem, was ich in Deutschland über die Arbeitsagentur vermittelt bekomme. Am Ende ist es eine Simulation der Selbstbestimmung, weil alle Freelancer-Tätigkeiten auf Selbstausbeutung hinauslaufen. Aber das Gefühl der Entscheidungsfreiheit ist ein nicht zu unterschätzender Motivationsfaktor.

Wir können natürlich Zeitgeist und die Realität außer acht lassen und “aber jeder soll doch am Ende einen ‘richtigen’ Job machen” argumentieren. Die Probleme all jener, die inzwischen Einkünfte als Mini-Freelancer oder sonstige Mikro-Tätigkeiten zum Überleben benötigen, löst dies aber nicht.

Linktipp: Will Byrne macht sich zu dem Thema auch Gedanken und schreibt von einer Gig-Economy.

Foto: Paul Townsend (CC BY-NC 2.0)

--

--

Johannes Kuhn
Munich West

Journalist in New Orleans, u.a. @SZ. #Politik #Tech International Account: @johakuhn.