Sitzt die deutsche Fahrradhauptstadt fest im Sattel?

MU_Redaktion
Münster Urban
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7 min readJul 6, 2017

Ausgabe #5 | 24. Juni 2017

Münster gilt als deutsche Fahrradhauptstadt. In den 1980er und 1990er Jahren sorgte die Stadt regelmäßig mit mutigen Innovationen für Schlagzeilen: Fahrradschleusen, die erste Fahrradstraße, das große Fahrradparkhaus. Beim Fahrradklimatest 2016 des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs (ADFC) konnte Münster knapp seine Spitzenstellung behaupten. Städte wie Karlsruhe oder Freiburg setzen zum Überholmanöver an. Wie steht es um die Fahrradstadt?

„Der Lorbeer ist welk“, meint Andreas Bittner, Vorsitzender des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs (ADFC), Kreisverband Münsterland. Aus Sicht des ADFCs verwaltet die Stadt ihr Image als Fahrradstadt, von einer wirklichen Ver- kehrswende sei Münster weit entfernt. Der aktuelle Fahrrad-Klimatest 2016 des ADFC, an dem bundes- weit über 120.000 Radfahrer ihren insgesamt 539 Heimatgemeinden Noten gaben, scheint das zu bestätigen. Zwar konnte Münster seine Spitzenposition in der Größenklasse der 39 Städte mit mehr als 200.000 Einwohnern erneut behaupten. Doch die 1.711 münsterschen Radler, die am Klimatest teilnahmen, verpassten der hiesigen Verkehrspolitik deutliche Punktabzüge. Die Gesamtnote rutschte von 2,5 im Jahr 2014 auf 3,07. So gerade eben liegt Münster noch vor Karlsruhe (3,09) oder Freiburg (3,3). Setzt sich dieser Trend fort, wird Münster beim nächsten Klimatest in wenigen Jahren erstmals überholt werden. Kritisch sehen Münsters Radler vor allem das Thema Sicherheit und den verbreiteten Fahrraddiebstahl. Zwar ist der Klimatest kein objektiver Vergleich der Situation in verschiedenen Kommunen. Die wenigsten Teilnehmer dürften etwa in Münster, Karlsruhe und Freiburg geradelt sein. Aber er zeigt, wie Münsters Radfahrerinnen und Radfahrer die eigene Stadt bewerten. Und die Stimmung scheint sich einzutrüben.

Der weltweite Fahrradboom

Dabei erlebt das Thema Fahrrad einen dauerhaften Boom unter Urbanisten und Verkehrsplanern. Kaum eine Urbanitätsdiskussion, die nicht die Heilwir- kung des Fahrrades betonen würde. Urbaner Lifestyle ohne Fahrräder ist kaum vorstellbar. Selbst Städte wie New York investieren massiv in den Rad- verkehr. Den Mut der Probanden, die sich in Manhattan mit dem Fahrrad in den Verkehr stürzen, kann man nur bewundern. Münster war in den 1980er und 1990er Jahren des letzten Jahrhunderts Schrittmacher dieser Bewegung — lange bevor das Thema in seiner Breite entdeckt wurde. Natürlich hatte die Stadt günstige Startvoraussetzungen: Die Promenade als Fahrradauto-bahn und Verteilerring ist ein Geschenk der Vorväter, ohne das die Stadt den Anteil des Fahrrads an allen Fahrten von aktuell knapp 40 Prozent gar nicht bewältigen könnte. Doch die Stadt ruhte sich nicht auf diesen Lorbeeren aus und baute ihr Potenzial konsequent aus: „Fahrradschleusen“ vor den Ampeln, die Freigabe von Einbahnstraßen für Radfahrer in beiden Richtungen waren solche Maßnahmen. Immer lösten sie intensive Diskussionen aus, wurden aber schnell akzeptiert und bewährten sich im Alltag. Oft wartete die Stadt dabei nicht auf den Gesetzgeber. Die Schiller- straße wurde schon 1990 zur ersten Fahrradstraße. In der Straßenverkehrs-ordnung steht der Typus Fahrradstraße erst seit 1997. Münsters Verkehrsteil- nehmer akzeptierten die Innovation auch ohne gesetzgeberischen Segen. „Die Einweihung des großen Fahrradparkhauses am Bahnhof im Jahr 1999 war der letzte große Meilenstein“, erinnert sich Hans-Günter Ockenfels, Sprecher der Fachgruppe Radverkehr des ADFC. In den letzten Jahren machten eher Utrecht oder Kopenhagen Schlagzeilen — mit aufwendigen Fahrradautobahnen, einer grünen Welle für Radler oder kleineren „Show-effekten“ wie schräg montierten Papierkörben, die Radler im Fahren befüllen können.

25 Prozent mehr Radfahrten bis 2025

Doch Münster will nachlegen — allerdings weniger mit schillernden Leuchtturmprojekten als mit pragmatischen Maßnahmen in der Fläche. Im vergangenen Jahr legte die Verwaltung das Radverkehrskonzept 2025 vor. Vorher war zwei Jahre lang am Runden Tisch Radverkehr (RTR) mit Verkehrsverbänden und Polizei diskutiert worden. Normalsterbliche konnten sich bei einem Bürgersymposium Radverkehr zu Wort melden. Das Papier formuliert ehrgeizige Ziele: Der Anteil des Radverkehrs am sogenannten „Modal Split“ soll noch einmal von derzeit 39,1 Prozent auf 50 Prozent steigen. Das bedeutet eine Steigerung der Fahrradfahrten um 25 Prozent oder mehr als 110.000 zusätzliche Radfahrten täglich — bei gleichem Verkehrsaufkommen. Weil Münster aber bis 2025 von heute 306.000 auf dann 321.000 Einwohner wachsen will, müssen die Verkehrsplaner überdies auch mehr Verkehr einplanen. Wie ehrgeizig diese Vorgabe ist, zeigt ein Vergleich zu den Zahlen aus dem Radverkehrsplan 2010–2025 der Vorzeigestadt Kopenhagen. Der will die Zahl der innerstädtischen Radfahrten in 15 Jahren um 60.000 täglich steigern.

Gelingt die Steigerung, könnte Münster wie aktuell Kopenhagen ein Opfer des eigenen Erfolgs werden. Die Süddeutsche Zeitung berichtete Anfang Juni, dass die dänische Hauptstadt im Fahrradstau versinkt. Radfahrer brauchen auf den vollen Fahrradstraßen vor Ampeln teilweise mehrere Grünphasen, um die Kreuzung zu überqueren. Für Münsters Radler wäre das eine völlig neue Erfahrung.

Ist der Verkehrsinfarkt zu verhindern?

Die deutliche Steigerung des Radverkehrs soll auch den Verkehrsinfarkt vermeiden. Denn pro Verkehrsteilnehmer verbrauchen Radler 13 Mal weniger Fläche als Menschen im PKW. Das Auto ist ein Flächenfresser und Fläche ist in der Stadt die knappste Ressource. Möglichst viele dieser Radfahrten sollen eine der bisher 296.000 PKW-Fahrten ersetzen. Schon heute geht in der Rushhour auf vielen Einfallstraßen nichts mehr. Das Straßennetz ist auf 250.000 Einwohner ausgelegt. PKW-Fahrer stehen im Dauerstau — und mit ihnen auch Busse, dort wo es keine Busspuren gibt. Gerade im Oberzentrum Münster mit seinen Pendlerströmen hat die Statistik überdies einen gewichtigen Haken. Sie erfasst nur die inner- städtischen Bewegungen. Denn noch einmal 296.000 Autofahrten verursachen Pendler aus dem Umland. Radler aus dem Umland tauchen in der Statistik bisher gar nicht auf. Das soll sich einerseits durch die größere Reichweite von E-Bikes und andererseits durch das Velorouten-Konzept ändern, das Münster durch leistungsfähige Radwege mit dem Umland verbindet. Das ehrgeizige Ziel im Radverkehrskonzept ist nicht von Pappe. Der Radverkehrsanteil würde in acht Jahren um zehn Prozent zulegen, genauso viel wie in den 35 Jahren von 1982 bis heute.

DER KLASSIKER: Der berühmte Flächenvergleich aus dem Jahr 1990 zeigt den zentralen Vorteil des Fahrrads im urba- nen Verkehrsmix. Es verbraucht deutlich weniger Fläche als der PKW. Und Fläche ist im urbanen Raum die knappste Ressource. Als die Fotos ent- standen, hatte Münster einen Radfahrtenanteil von 33,9 Prozent, heute sind es 39,1 Prozent. Bis 2025 sollen daraus 50 Prozent werden. Die Vergleich- saktion in der guten Stube verlief übrigens durch- aus holprig. Weil zu wenig PKW-Fahrer kamen, mussten reichlich Taxen dazugebucht werden. Überdies hatten die Fotografen auf dem Turm der Lambertikirche den Sinn der Aktion nicht verstan- den und zoomten um die Wette. Es gibt keine drei Fotos mit exakt dem gleichen Bildausschnitt. Die Organisatoren mussten die Fotos unterschiedlicher Fotografen kombinieren. Um die Welt ging das Motiv dennoch und wird bis heute regelmäßig in sozialen Medien gepostet und gelikt. Es trug dazu bei, den Ruf Münsters als Fahrradstadt auszubauen.

Welche (Rad-)Wege führen nach Rom?

Umstritten ist, wie sich dieses Ziel erreichen lässt. Die Straßenzuschnitte in Münster sind — vor allem in der Innenstadt — nicht erweiterbar. Raum ist Mangelware. Genau wie bei den Autos ist die Infrastruktur für Radler an vielen Stellen am Limit. Mehr Platz für Radler bedeutet weniger Raum für PKW. Vor allem geparkte Autos stehen im Weg. „Kopenhagen hat jedes Jahr in der Innenstadt zwei Prozent des Parkraums für PKW gestrichen“, so Ockenfels. Mit ein paar Eimern roter und weißer Farbe ist es nicht getan. Utrecht gibt 46 Millionen Euro pro Jahr für Radverkehr aus. Das entspricht 137 Euro pro Einwohner. Amsterdam kommt auf 20 Millionen (27 Euro/ Einwohner), Kopenhagen immerhin auf 13 Millionen. Münster investiert drei Millionen Euro pro anno in den Leezenverkehr, was zehn Euro pro Kopf ergibt. Natürlich hinkt dieser Vergleich. In den Niederlanden bekommen die Kommunen deutlich mehr staatliche Mittel für Radverkehrsinvestitionen. Aber wer auch immer zahlt: Für den geplanten Quantensprung müsste Münster an vielen Stellen massiv investieren. Man stelle sich vor, was mehr als 100.000 zusätzliche Radfahrten täglich allein für das Thema Radparken bedeuten. Dem ADFC gehen die fixierten Maßnahmen im Radverkehrs-konzept nicht weit genug. „Das ist alles eher mutlos“, beklagt Bittner. „Bisher fehlt ein wirklicher Netzplan“, ergänzt Ockenfels. Nicht einig sind sich ADFC und Verwaltung über eine Reihe von Fragen — unter anderem die richtige Breite von Radwegen oder den Umgang mit der Radwegebenutzungspflicht. So will man sich laut Konzept künftig an die Radverkehrsstandards der ERA 2010 (Empfehlungen für Radverkehrsanlagen der Forschungsgesellschaft für Straßen und Verkehrswesen) halten, die in besonderen Fällen sogar über-schritten werden sollen. Diese Standards mit Radwegebreiten von 1,5 bis 4 Metern sind im Vergleich zur jetzigen Situation an vielen Stellen schon ein erheblicher Fortschritt. Allerdings orientieren sich selbst diese Vorgaben am Radlerau ommen „normaler“ Städte, nicht an der besonderen münsterschen Leezendichte. Doch abgesehen vom „Wie“ — woher das Geld kommen und wie es in nur acht Jahren verplant und verbaut werden soll, ist noch völlig ungeklärt. Und weil der erforderliche Umbau die Stadtgesellschaft massiv tangiert, scheint ein ambitioniertes Gesamtmobilitätskonzept nebst breit angelegter Diskussion überfällig. „Münster als wachsende Stadt bleibt nur wettbewerbsfähig, wenn wir das ema Mobilität lösen“, so Tobias Viehoff, Sprecher der Initiative Starke Innenstadt und Münster-Urban-Herausgeber. Das Fahrrad ist für den Kaufmann dabei ein Schlüssel. „Wenn ich eine attraktive, erlebbare Innenstadt will, kann der Radverkehrsanteil gar nicht hoch genug sein“, so Viehoff mit Blick auf die abgasfreie und Flächeneffiziente Lieblingsfortbewegungsweise der Münsteraner.

Radlertypen

Sie sind so unterschiedlich wie die Münsteraner an sich. Wir zeigen auf den nächsten Seiten vier von fantastisch vielen Fahrradfahrerkategorien, die täglich auf unseren Straßen anzutreffen sind …

Fahrradtypus 1: Der Purist

Radfahrer wie Boris Kapitza dulden keine Kompromisse. Design, Technik, Stil — alles muss passen. Ein Schindelhauer Single Speed ist die Antwort auf diese Ansprüche. Männer wie Boris lieben die cleveren Funktionen, den Anspruch an die Ästhetik und natürlich die präzise Fertigung bis ins Detail.

Fahrradtypus 2: Der Pragmatische

Das Rad als Alternative zum Auto — wer wie Franz Scheid ein informierter Zweiradfan ist, hat nicht nur ein einziges Top-Rad im Gebrauch. So auch Franz. Mit diesem stylishen E-Bike von Stromer düst er Tag für Tag aus Appelhülsen nach Münster und wieder zurück. Bei Wind und Wetter.

Fahrradtypus 3: Der Klassische

Stilvoll und mit einem Hauch Nostalgie — auch Nico Osthues gehört zu denen, die das Rad für alle täglichen Wege nutzen. Aufrecht, mit wehendem Mantel. Sein Tempo ist oft schneller, als das Hollandrad vermuten lässt — dennoch: Nico liebt diese charmante Art der Fortbewegung, die auch dem Geruckel des Prinzipalmarktpflasters standhält.

Fahrradtypus 4: Die Verspielte

Pimp my bike — wir könnten ein ganzes Heft mit Fahrrädern füllen, die mit Blüten, Schleifen, ja sogar mit Lichterketten verziert sind. Auch Eva Filius-Joepgen gehört zu denen, die ihr Lebensgefühl am Lenker tragen. Und deren kunterbuntes Rad namens Gazelle Miss Grace auch ein fröhliches Statement ihrer Lebensart ist.

Text: Jörg Heithoff | Fotos: Peter Leßmann

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