Zusammen ist alles viel besser

Münster Urban
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6 min readDec 5, 2017

Ausgabe #7 | 05. Dezember 2017

Im Rotkehlchen wird nur zu gerne verkuppelt: Wohnraum, Küche und Bar, raffinierte Gerichte und selbst kreierte Cocktails, hoher Anspruch und blühende Fantasie. Sogar die Aromen auf dem Teller und im Glas sind Komplizen. Ein Ausflug zu den Vogeleltern Marie und Nicklas Rausch.

Beruflich und privat ein eingespieltes Team: Nicklas und Marie Rausch haben 2012 das Rotkehlchen ausgebrütet.

Seit sieben Jahren sind Marie (31) und Nicklas Rausch (37) ein Paar, vor knapp fünfeinhalb Jahren haben sie ihr Rotkehlchen ausgebrütet. Herz über Kopf, beflügelt von der Leidenschaft für gute Lebensmittel und dem Wunsch, auf eigenen Beinen zu stehen, sagen die Vogeleltern. Statt mit einem bis ins Kleinste durchdeklinierten Konzept wollten sie einfach mit dem überzeugen, was sie am besten können: „Kochen, mixen und Gastgeber sein“, fasst Nicklas zusammen. „Und daran hat sich bis heute nichts geändert.“

Tatsächlich ist das ganz schön tiefgestapelt. Denn das Rotkehlchen hat sich nicht nur als Senkrechtstarter entpuppt. Mit der Idee, Speisen mit Cocktails zu verbandeln, haben die Gastgeber einen gerade erst aufpoppenden Trend früh erkannt. Eine Kompetenz, die sie höchstens mit knapp einem Dutzend Bar-Restaurants in ganz Deutschland teilen. Ebenfalls überfliegermäßig: Mittlerweile gehört Marie zu den besten Bartenderinnen im deutschsprachigen Raum. In den vergangenen Jahren hat die gelernte Hotelfachfrau Auszeichnungen und Preise in ganz Europa abgeräumt, zuletzt den Diplomático World Tournament 2017. Nachdem sie Anfang des Jahres den deutschen Vorentscheid gewann, mixte sie sich im Juni beim Weltfinale in London unter die ersten sechs.

Im Rotkehlchen haben alle Speisen eine passende Begleitung: Gin, Wein oder einen Cocktail. Beim Austüfteln von Aromaschnittmengen arbeiten Küchenmannschaft und Barteam eng zusammen.

„Wir sind mit den Jahren sicherlich erwachsener, ein gutes Stück weltläufiger geworden“, sagt Nicklas. Bekannter und begehrter sowieso: Reservierungsanfragen kommen inzwischen auch aus dem Rheinland, Hamburg oder Süddeutschland, zuweilen sogar aus London und Luxemburg. An der Tonart des Rotkehlchens ändere das natürlich nichts. Den Zwitschermodus prägt wie eh und je das freundliche und freundschaftliche Du, unabhängig von Alter und beruflichem Rang. „Die allermeisten finden’s gut. Viele sind sogar froh, besonders hochdekorierte Manager, ihren Abend inkognito genießen zu können.“

Als das Rotkehlchen im Mai 2012 losflatterte, damals noch etwas versteckt in der Bergstraße, war das alles genauso neu wie gewagt. Und Münster genau deshalb der richtige Ort. Nein, Maries Heimat Berlin wäre eben nicht näherliegend gewesen — „weil die Leute einen da erst registrieren, wenn man wieder zumacht“, scherzt Nicklas, der aus der Nähe von Darmstadt stammt. Als Jungkoch hatte er schon mal für kurze Zeit in Münster gearbeitet und war dann weiter Richtung Süden gezogen, um bei TV-Koch Stefan Marquard anzuheuern. Dass er dort Marie kennen­lernen würde, bei einem Pokerabend fürs Personal — ein Flügelschlag des Schicksals.

Die Punktlandung im Kiepenkerlviertel hat das Paar dem Tipp eines Getränkehändlers zu verdanken. Obwohl von Beginn an klar war, dass die Location nur für eine überschaubare Zeit zu vermieten sein würde, griff das Paar beherzt zu. Die ganze Verwandtschaft fasste mit an, um aus den abgerockten vier Wänden ein shabbyschickes Nest zu machen. Überhaupt steckt im Rotkehlchen ganz viel Familie, angefangen mit dem Namen: Er ist Maries Großmutter Leopoldine und deren Lieblingsvogel gewidmet. Seit dem Umzug in die Wasserstraße 2014, wo es fast doppelt so viel Platz und Plätze gibt, zeigt sich das auch in der Einrichtung. Da lehnt sich der alte Weinschrank von Maries Vater gemütlich an die Wand, verleihen Opas Teppich und Nierentisch dem Gesamtbild etwas Nostalgisches. Das aus 200 Jahre alten Balken gezimmerte Spirituosenregal hinter der Bar spielte einst sogar eine tragende Rolle auf dem Bauernhof von Nicklas’ Onkel. Tja, und wem die Wandvertäfelung neben den Cocktailsesseln am Eingang bekannt vorkommt, der hat vermutlich ein ziemlich gutes Gedächtnis und war schon in der Bergstraße Gast: Die Latten verkleideten dort früher den Tresen.

„Wir sind mit den Jahren sicherlich erwachsener, ein gutes Stück weltläu­figer geworden.“

Nicklas Rausch

Alt und neu mixen, Klassikern einen neuen Anstrich geben — das funktioniert eben nicht nur hinter der Bar. Aber dort besonders eindrucksvoll. Zum Herzstück wird das Reich von Marie und ihrem Kollegen Henry Thomas allein durch die Lackierung in Rotkehlchen-Rot. Vor allem die Zutatenparade ist großes Kino: Zig Einmachgläser gefüllt mit Gewürzen, Kräutern und Früchten stapeln sich auf dem Tresen. Im Regal drängen sich Spirituosenflaschen dicht an dicht. Maries Vorliebe für Gin — inzwischen fasst ihre Sammlung rund 180 Sorten — spiegelt sich dort ebenso wie ihre Leidenschaft für selbstgemachte Essenzen. Denn hinter der Bar wird nicht nur geschüttelt und gerührt, sondern auch püriert, getrocknet, gedämpft, vakuumiert und geräuchert. Deshalb nennt sich die Mixologin am liebsten Getränkeköchin.

Damit Speisen und Getränke sich gegenseitig protegieren und miteinander harmonieren, arbeiten Küchenmannschaft und Barteam eng zusammen. Alle vier Wochen wechselt die Karte und mit den Gerichten deren maßgeschneiderte flüssige Begleitung. Wählen kann man jeweils zwischen einem korrespondierenden Cocktail, Wein oder Gin mit Tonic. Vor allem die Cocktailempfehlungen laufen sozusagen außer Konkurrenz. Weil sie eigens für jede Vorspeise, Hauptspeise und jedes Dessert komponiert werden, sind sie nicht Teil der festen Getränkekarte, sondern ein eigenständiges Angebot mit Überraschungseffekt. Das gilt auch für das Tischleindeckdich-Vergnügen: fünf Gerichte plus ein Sorbet vor dem Hauptgang zum Festpreis von 51 Euro beziehungsweise 86 Euro mit abgestimmten Getränken. Klingt wie Foodpairing, ist es streng genommen aber nicht. Das Verbandeln von Aromen basiert eigentlich auf der wissenschaftlichen Analyse von Lebensmitteln und deren Aromastoffen. Demnach passen jene Zutaten besonders gut zueinander, die mindestens ein Hauptaroma teilen. Auf den ersten Blick eher ungewöhnliche Paarungen, aber laut dem sogenannten Food-pairing-­Tree durchaus harmonisch: zum Beispiel Austern und Passionsfrucht, Vanillegurke und Bohnen­humus oder Miesmuscheln und schwarze Johannisbeeren. Stark verkürzt geht es also um Aromaschnittmengen. Sie zu ertüfteln und aufeinander abzustimmen ist im Rotkehlchen aber nicht graue Theorie, sondern vor allem Bauch- und Finger­-spitzen­gefühl: in Erfahrungsschätzen stöbern, ausprobieren, „ganz viel laut denken“ und sich gegenseitig inspirieren.

Den „Drink of the Day“ mitgerechnet, entstehen auf diese Weise jeden Monat mindestens 25 neue Mixgetränke. So wurden neulich beispielsweise die Perlhuhnbrust, Wirsingchips und Kürbispüree zu­sammengespannt mit einem Cocktail aus Münster­länder Korn, Pflaumen- und Quittenbitter, Birnenbrand und Lillet Blanc. Die Kombination aus Licor 43, Pfirsichpüree, Zitronensaft, Coldbrew Coffee und einem ganzen Ei begleitete eine Creme von der Zitronenverbene, Knusper-Cannelloni, Pfirsich-Sorbet und -salat. Ob hinter der Bar oder am Herd, saisonale und regionale Lebensmittel sind im Rotkehlchen erste Wahl. Kurze Wege schaffen ein verlässliches Netz, das die Küche regelmäßig mit ausgesuchten Stücken und Raritäten versorgt. Dennoch wirkt die Karte mitnichten abgehoben: viermal „vorneweg“, genauso oft „mittendrin“ und dreimal „hinterher“. Die Zutaten schlicht aneinandergereiht, ohne umständliches an, zu oder mit — der Rest bleibt der Fantasie überlassen. Davon gibt es in der Küche reichlich. In den mehr als fünf Jahren hat sich kein einziges Gericht je wiederholt.

Inzwischen unterstützen Nicklas zwei Köche und ein Auszubildender, insgesamt zählt das Rotkehlchen-Team sechs Mitarbeiter. „Unsere Co-Gastgeber“, sagen die Vogeleltern. Eine Arbeitsfamilie, herzlich und authentisch, die von dienstags bis samstags ihr Bestes gibt, Gäste glücklich zu machen. Ebenfalls ein Stück vom Glück, Auszeichnung und Ansporn für die Gastgeber: Im Januar wird Marie nach New York fliegen. Fünf Tage lang darf sie dort auf der besten Barschule der Welt mit und neben Koryphäen aus aller Welt ihr Wissen vertiefen — als einzige und erste Deutsche. Die exklusive Einladung ist der Preis für ihren ersten Platz bei der Campari-Competition Forgotten Cocktails. Gegen 700 Mitbewerber hatte sie sich dabei im vergangenen Herbst durchgesetzt. Wenn sie im Big Apple die knallharte Abschlussprüfung besteht, kommt sie als Master of Bar zurück. Nicht nur eine wolkenkratzerhohe Ehre für die Getränkeköchin, sondern auch eine neue Flug­höhe fürs Rotkehlchen.

Rotkehlchen
Wasserstraße 1–3, 48143 Münster
Telefon 0251 39487684
Di.– Sa. 18–0 Uhr
rotkehlchen-muenster.de

Text Heike Hucht Fotos Peter Leßmann

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