Kyiv Sunrise, Photo by Maksym Diachenko on Unsplash

Ukraine Bookmarks 252

#3Links3Tweets am 252. Tag des Ukraine Kriegs

Gerald Hensel
Published in
6 min readNov 2, 2022

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#3Links3Tweets ist eine regelmäßige Rubrik, in der ich alle paar Tage drei lesenswerte Long-Reads und drei Twitter Snippets zum Ukraine-Krieg aufliste. Ein Art kuratierter Mini-Presse-Reader zum schlimmsten und wahrscheinlich folgrenreichsten Krieg in Europa seit 1945 mit den subjektiv lesenswertesten Posts dazu.

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Der Ukrainekrieg am 2. November 2022

Manchmal beginnt man, einen Artikel, wie diesen, zu schreiben, dann wird man nicht fertig und dann schaut man ein paar Tage später drauf und liest seine ersten Textfragmente durch. So auch heute. In meinem geplanten Artikel vor einer Woche ging es noch um die erfundene russische “Dirty Bomb Scare” — also dem auf verschiedenen Ebenen lancierten Versuch, der Ukraine den Angriff mit einer schmutzigen Bombe in die Schuhe zu schieben.

Ein Tweet des russischen Aussenministeriums

Dieses ziemlich idiotische und frei erfundene Thema wurde noch vor 1–2 Wochen als das HOT-SHIT-Thema von Russland behandelt 🤯. Mit den ersten Anrufen des russischen Verteidigungsministers Shoigu im Westen (seit sechs Monaten zum ersten Mal) und in Indien und China sowie im UN Sicherheitsrat. Die Befürchtung lag nahe, dass Russland selbst einen Atomeinsatz vorbereite, den es mit seiner sinnfreien Panikmache vor einer schmutzigen Bombe rechtfertigt.

Dass man nun seit mindestens fünf Tagen von dem Schwachsinn nichts mehr hört, spricht Bände. Der nächste russische Außenpolitik-Versuchsballon ist abgestürzt. Scheinbar spricht man sich hinter den Kulissen solcher Anrufe im Westen und mit Blick auf Indien und China doch so ab, dass Russland versteht, dass es keinen nuklearen Präzedenzfall schaffen sollte. Das finde ich trotz Animosität zwischen USA, UK, Frankreich, Indien und China beruhigend. Wenigstens da scheint man sich einig zu sein: Weltuntergang findet niemand so richtig cool.

Vogelperspektivisch bereiten sich am Boden die ukrainischen Fronten auf den langen harten Winter vor. Die Ukraine rückt zwar nach wie vor langsam vor. Die territorialen Gewinne bleiben aber geringer als im September. Rasputiza heißt die Zeit des Matsches, in der Ukraine, in der Fahrzeuge abseits befestigter Straßen kaum vorankommen. Mal schauen, ob sich das in Kherson noch im November ändert. Danach dürften sich alle eingraben für sechs Monate. Der harte ukrainische Winter naht.

Militärisch war die letzte Woche vor allem von zwei Ereignissen geprägt: Weiteren russischen Drohnen- und Marschflugkörperangriffen auf die ukrainische Energiestruktur, die vor allem kritische Bereiche wie Verteilerstationen zum Ziel hatten und haben. Damit hat man nun etwa die Hälfte des ukrainischen Energie-Netzes zumindest temporär ausgeschaltet, 80% von Kiew hatte vorgestern kein fließendes Wasser. Und dann war da noch der beeindruckende ukrainische Drohnenangriff auf den Schwarzmeerflotten-Hafen Sewastopol. Um den geht es heute vor allem.

Drei Links: Worüber wird gerade geschrieben?

Innovation in der Kriegsführung ist nach dem Drohnenangriff auf Sewastopol gerade das große Thema der Woche.

1. Newsweek: “Ukraine lädt Waffenproduzenten ein, Produkte zu testen”, David Brennan, 20. Juli 2022

Ein älterer Artikel aus dem Juli, dessen Inhalt kaum reflektiert wird, dessen Aussage wir aber gerade verstehen lernen. Der ukrainische Verteidigungsminister Reznikow lud im Juli Waffenproduzententen ein, die Ukraine als Testfeld zu betrachten, um neue Waffen dorthin zu verschiffen. Vor ein paar Monaten hätte uns so eine Aussage wahrscheinlich noch geschüttelt. Aber wenn man bedenkt, dass Waffensysteme wie das deutsche Luftabwehrsystem IRIS-T in der Ukraine in höchsten Tönen gelobt werden aber nicht mal der Bundeswehr zur Verfügung stehen, versteht man, dass die Industrie die Einladung annimmt: Von Granaten über experimentelle Artillerie bis hin zu Drohnen und AI dürften Ukraines zunehmend divers ausgestattete Streitkräfte gerade ziemlich viele Prototypen zur Verfügung haben — Russland testet übrigens auch fleißig.

Hier👇 geht’s zum Artikel

2. The Drive: “Ukraine startet Massenangriff mit Kamikaze-Drohne auf das Hauptquartier der russischen Schwarzmeerflotte”, Howard Altman, Stetson Payne, Tyler Rogoway, 29. Juli 2022

Letzten Samstag geschah etwas, dessen Folgen noch so unklar sind wie seine Durchführung, und das wohl deshalb auch kaum in Massenmedien reflektiert wurde. Ein vernetzter Angriff ukrainischer Drohnen aus der Luft und vom Wasser auf das Hauptquartier der russischen Schwarzmeerflotte. Damit wurde zum ersten Mal ein Flottenverband komplett von autonomen, automatisierten Einheiten angegriffen. Die Ukraine verfügt über neue, seegestützte Drohnen, die wie große Kanus aussehen und nahe der Wasseroberfläche Schiffe angreifen können. Beschädigt wurden bei dem Angriff wohl zumindest zwei Schiffe, darunter das — nach Versenkung des Kreuzers Moskwa — neue Flaggschiff der Schwarzmeerflotte.

Gleich was praktisch erreicht wurde: Der Angriff ist ein lautes Signal, dass sich die Seekriegsführung dramatisch wandelt. Wie beim Übergang der Dominanz des Schlachschiffs zum Flugzeugträger im Zweiten Weltkrieg wird plötzlich die Verletztlichkeit großer Überwassereinheiten gegenüber intelligenten, sprengstoffgefüllten Kanus offensichtlich. Dinge, die viel billiger und kleiner sind als ihre Ziele gewinnen plötzlich durch technische Überlegenheit schlachten. Militärplaner:innen machen wahrscheinlich gerade Nachtschichten.

Sehr lesenswerter Post👇 mit unglaublichen Videos.

Eigentlich will ich ja nur drei Links posten👇 Aber das ist die Fortsetzung zu dem Artikel oben. Hier geht es nochmal um die Tragweite des Events. Ich werte beide als einen Artikel 😬

3. Forbes: “12.000 russische Truppen sollten Kaliningrad verteidigen, dann gingen sie in die Ukraine um zu sterben”, David Axe, 27. Juli 2022

Eingekeilt zwischen Litauen und Polen liegt die russische Exklave Kaliningrad an der Ostsee. Das alte deutsche Königsberg. Kaliningrad hat enormen Wert für Russland und wird immer wieder als besonders bedrohter Ort im vermeintlichen Konflikt mit der NATO angeführt. Hier kommt ja angeblich westlicher Revanchismus und eine besonders verletztliche Lage zusammen. Umso interessanter, dass praktisch keine russischen Truppen mehr Kaliningrad verteidigen. Ebenso wie im Falle der baldigen längsten russischen NATO Grenze Finnland sind auch in Kaliningrad alle Truppen frühzeitig in die Ukraine verlegt worden, um verheizt zu werden. Einer von vielen untrüglichen Indikatoren, dass die angebliche Angst vor NATO und vermeintlicher Osterweiterung nichts als Propaganda-Bullshit war.

Zu Forbes👇

Drei Tweets

1. Hugo Kaaman, 19.10.2022

In Schweden gab es einen Massendiebstahl von Verkehrskameras. Der Hybridkrieg-Experte Hugo Kaaman vermutet, dass sie zur Nutzung im Drohnenkrieg nach Russland verschifft wurden.

2. Captain Black Sea, 23.10.2022

Durch die schiere Größe des Krieges und die nie gekannte Dichte an Kameras gibt es auch Videoaufnahmen aus Situationen, die man nie zuvor gesehen hat. Oft auch nicht sehen wollte. Hier zeichnet die Helmkamera eines russischen SU-25 Erdkampfflugzeugs den eigenen Abschuss auf. Der Pilot überlebte.

3. Igor Sushko, 30.10.2022

Stell dir vor, man hat dich vor deiner Wohnung abgefangen und einen Mobilisierungsbefehl in die Hände gedrückt. Weihnachten mit den Kindern wird leider nichts. Aber keine Sorge: Bevor der Zug nach Belgorod, an der ukrainischen Grenze, rollt, gibt es noch eine megageile Musik-Performance zum Abschied.

Die Menge tobt.

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Gerald Hensel
Neue Bellona

Neu-Hamburger, Politologe und Sicherheits-/Geschichtsfreak. Hier nur privat. Beruflich: Co-Gründer und GF bei superspring Marketing Consulting.