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Ukraine Bookmarks 354

#3Links3Tweets am 354. Tag des Ukraine Kriegs

Gerald Hensel
Neue Bellona
Published in
7 min readFeb 12, 2023

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#3Links3Tweets ist eine kuratierte und kommentierte Liste an Links zum Ukraine Krieg, die ich gerade lesenswert finde. Ein Art bewerteter Mini-Presse-Reader zum schlimmsten und wahrscheinlich folgenreichsten Krieg in Europa seit 1945 mit den subjektiv lesenswertesten Posts dazu.

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Der Ukrainekrieg am 12. Februar 2023

“Die nächsten Wochen werden entscheidend”, ist ein Satz, den ich seit Anfang des Ukrainekrieges in jeder einzelnen Phase gehört habe. Auch jetzt. Und das, obwohl gar nicht so richtig viel Bewegung möglich ist. Aktuell zumindest nicht. Denn dominierend bleibt in der Ukraine die Rolle des Wetters. Kälte erschwert es Menschen, Logistik und schweren Waffen, sich zu bewegen. Zugleich steht Rasputiza, die Schlammsaison, vor der Tür. Russland wirft in der nach wie vor tobenden Schlacht von Bakhmut alles (fast alles) nach vorne, was es hat, während die Ukraine die kleine Stadt zu verteidigen versucht. Die Bedingungen müssen schon ziemlich entsetzlich sein, wenn man per Drohne russischen Soldaten dabei zusehen kann, wie sie ihre eigenen Offiziere mit Schaufeln verprügeln. Für beide Seiten hat Bakhmut mittlerweile einen symbolischen Wert, der wichtiger ist als die strategische Bedeutung der kleinen zerbombten Stadt.

Front-Berichte aus Bakhmut wirken aus ukrainischer Sicht aktuell nicht besonders ermutigend. Der unten stehende Thread gibt gut Aufschluss über die Lage der ukrainischen Verteidiger, die zunehmend logistisch unter Stress gerät und von den Russen vor allem im Norden in die Klammer genommen wird. Russland scheint immer noch den Versuch einer Einkesselung zu unternehmen.

Doch auch abseits der akuten Lage in Bakhmut ist schon seit einer Weile umstritten, ob das Halten von Bakhmut überhaupt Sinn macht. Strategisch hat die Stadt nicht die Bedeutung, die den hohen Opferzahlen zukommt. Schon im Januar meldeten die USA Zweifel an, ob das Halten von Bakhmut jenseits der symbolischen Dimension wirklich Sinn macht und die hohen Opferzahlen rechtfertigt. Statt sich eine Abnutzungsschlacht aufzwingen lassen, die man im Zweifel nicht gewinnt, kann ein Rückzug zum Manövrieren durchaus die bessere Wahl sein, um Initiative zurück zu gewinnen. Bei allem, was ich aktuell lese, wird Bakhmut wahrscheinlich bald fallen oder eben dieser Rückzug nötig sein. Persönliche Meinung: Bakhmut fühlt sich mittlerweile wie ein ukrainischer Fail an, bei dem Durchhaltewille und Symbolik sinnvolle Kriegführung dominiert. Aber wir werden sehen.

Teuer zu stehen kommt der Irrsinn der russischen Invasion erstmal Putins Schergen. Denn es gibt aktuell ein klein wenig Rätselraten, ob das die russische Frühjahrsoffensive schon ist oder ob sie noch kommt.

Fraglich ist auch, ob Russland überhaupt Menschen und Material hat, um eine Offensive durchzuführen. Vor allem, die hohen täglichen Verluste, die auf extrem hohen Einsatz von Menschen hindeuten.

Das britische Verteidigungsministerium rechnet dabei mit massiv gestiegenen russischen Verlusten seit Jahreswechsel. Zudem hat Russland mittlerweile knapp die Hälfte seiner Kampfpanzer verloren. Und die historisch schlechte Motivation der Russen dürfte sich durch Übergriffe und Erschießungskommandos für eigene Soldaten nicht verbessert haben. Speziell bei den Killerkommandos von WAGNER rumort es mächtig. Neben neuen Exekutionsvideos (vermeintlich illoyale Wagner-Soldaten werden vor laufender Kamera mit Vorschlaghammer exekutiert) und Berichten über extreme Gewalt in der Truppe selbst,

mehren sich Berichte über einen versuchten “Soft-Putsch”, an dem WAGNER-Chef Prigozhin letzten Herbst Teil gehabt haben könnte. Ziel sei — mitsamt Tschetschenenführer Kadyrow und Ukraine-General Surowikin — die Übernahme des russischen Verteidigungsministerium gewesen. Der Plan scheiterte mit Zuteilung des Ukraine-Oberkommandos an die alte Garde um General Gerassimow vor wenigen Wochen.

Aber ganz im Ernst: Was da Wunsch und Wirklichkeit ist, weiß ohnehin niemand. Russland fährt immer Zweigleisig und wer die alte Double Think Logik aus 1984 im Kopf hat, weiß, dass in Russland immer zwei bis drei Realitäten parallel möglich sein können und müssen. Speziell in Führungsfragen und wenn es um die nächste Stufe der Invasion geht. Denn auch da werden widersprüchliche Signale ausgesendet. Und einige Stimmen sind überzeugt: Rund um den Jahrestag des Einmarschs Ende Februar gibt es eine russische Großoffensive. (Link)

Andere zweifeln das massiv an, und selbst in Russland scheint man sich nicht mehr so sicher zu sein, ob das Land überhaupt noch irgendeine Variante von Offensivbewegung umsetzen kann. Neben der Frage, ob Russland das Material dazu noch hat, spielt vor allem die Logistik eine entscheidende Rolle. Ukrainische HIMARS Raketen aus US-Produktion haben 90km Reichweite und kann damit russische Logistik nahe der Front ausschalten. Das stört jede Offensivkapzität massiv. Mit Eintreffen der neuen GLSDB Rakete erhöht sich diese Reichweite auf 150km. Heißt: Jede russische Granate muss 150km nach vorne geschafft werden. Das ist zu viel für eine wirklich große Offensive. Und zusammen mit den oben erwähnten russischen Verlusten, scheint es wahrscheinlicher, dass es nur noch zu punktuellen russischen Offensiven kommen kann. Aber auch hier: was Wunsch und Wirklichkeit ist und ob Russland noch in der Lage ist, mehr als rund um Bakhmut eine Großoffensive zu starten, werden wohl die nächsten 30 Tage zeigen. Das Ergebnis dieser Beobachtung erlaubt für uns alle jedenfalls wichtige Rückschlüsse, wozu Russland in diesem Krieg überhaupt noch in der Lage ist. Viel besser als jetzt wird es für Putin nicht mehr. Egal wann.

Drei Artikel, die ich aktuell empfehle

Bei meiner Ukraine-Leseliste versuche ich mich vor allem auf Artikel zu fokussieren, die einen grundsätzlichen, langfristigen Wert haben. Dazu gehörten die nachfolgenden drei Links für mich in den letzten Tagen:

1. Timothy Snyder: “Nuclear War!” — Substack Newsletter

Wenn es neben meinen Substack Newslettern irgendeinen gibt, den man lesen sollte, dann der des Historikers Timothy Snyder. Der Mann ist ein Leuchtfeuer in intellektuell dunkler Nacht. Kenntnisreich in Osteuropa, geschichtlich versiert und dazu furchtlos mit Blick auf Moskau. Ein Anti-Varwick, wenn man so will. In seiner aktuellen Ausgabe, erklärt er, warum der Atomkrieg ausfällt, egal was Putin sagt. Snyders Argumentation ist bestechend einfach und psychologisch komplett nachvollziehbar. Indem Putin und seine Lakeien möglichst viel über einen Atomkrieg reden, küssen sie bei uns das Gefühl wach, selbst Opfer zu sein, was Wut produziert. Denn so lange wir Opfer sind, müssen die Ukrainer:innen ha Täter:innen sein, wenn sie unsere angebliche Gefahr nicht durch Selbstaufgabe managen. Good news: Wir sind keine Opfer. Lasst uns denen beistehen, die es sind.

2. Washington Post: “Ukraine’s rocket campaign reliant on U.S. precision targeting” , 9. Februar 2023

Menschen scheinen hierzulande immer noch zu glauben, dass 18 Leopard Panzer ein so signifikanter Beitrag sind, dass sie den Unterschied zwischen Krieg und Nicht-Krieg ausmachen. Die Diskussion beweist wieder einmal, wie sehr unsere kollektive Denke in der Denke tradierter Kriege verhaftet ist. Denn wesentlich signifikanter (und im Zweifel auch folgenschwerer) ist der Beitrag der unsichtbar ohnehin die ganze Zeit geleistet wird: die Welt der Daten, der Aufklärung und der Ziellösungen. Letzte Woche schrieb die Washington Post, dass praktisch keine ukrainische HIMARS-Rakete auf ein russisches Ziel abgefeuert wird, ohne dass die Feuerlösung dafür aus den USA kommt. Wer jetzt zuckt: Ja, das ist gut so. Und es sagt viel über die Ernsthaftigkeit russischer Drohungen, dass sie darauf nicht reagieren, wohl aber auf deutsche Panzerlieferungen.

3. BBC: “How is Power restored after Russian attacks?”, 3. Februar 2023

Absolut sehenswerter Beitrag der BBC über die Held:innen an der ukrainischen Heimatfront. Die Ingenieur:innen und Techniker:innen, die wieder und wieder unter größten persönlichen Gefahren das ukrainische Stromnetz in Gang setzen nach, während und vor russischen Marschflugkörperattacken.

Drei Tweets, die ich lesenswert fand

1. Igor Lodvinenko: Putins Kriege und Zustimmungsraten

Es ist ein einfacher Zusammenhang. Aber es ist ein Zusammenhang: Zustimmungsraten zu Putins Politik und Kriege, die er beginnt.

2. Francis Scarr: Das Ziel ist klar

BBC Journalist Francis Scarr mit einem kleinen Ausschnitt aus einer russischen Talkshow. Der russische Presenter Sergei Mardan macht nochmal kurz klar, was Russlands Ziel ist: Auslöschung der Ukraine.

3. Orion Intel: NATO Aufklärung

Orion Intel hat die öffentlich verfügbaren Daten von NATO Aufklärungsflügen über europäischem Territorium visualisiert. Dies sind nur die Flüge, die öffentlich verfügbar sind. Viele werden nicht visualisierbar sein, weil sie auf keiner Karte auftauchen. Die Map gibt aber gut Aufschluss wie eng das Nebeneinander westlicher und russischer militärischer Assets ist. Vor allem im Schwarzen Meer, rund um die Krim. Und die Kola-Halbinsel im Norden, vor der regelmäßig intensive Aufklärer Flüge von Briten und Amerikanern stattfinden, ist nicht mal abgebildet.

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Abschließend

24.2., Berlin: Demo für die Ukraine

Am 24. Februar findet in Berlin eine Demonstration zur Solidarität mit der Ukraine nach einem Jahr genozidalen Angriffskrieg statt. Ich werde da sein, seid auch da. https://libmod.de/demonstrationsaufruf_24-feb/

Ab 22.2., Arte: Kunst als Waffe

Mein Freund Philipp Kohlhöfer war Ende des Jahres in der Ukraine um einen Film über Kunst und Krieg zu drehen. Dabei traf er viele sehr interessante Menschen. Die Doku kommt ab 22.2. auf Arte https://www.arte.tv/de/videos/111756-000-A/kulturkrieg-kunst-als-waffe/

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Gerald Hensel
Neue Bellona

Neu-Hamburger, Politologe und Sicherheits-/Geschichtsfreak. Hier nur privat. Beruflich: Co-Gründer und GF bei superspring Marketing Consulting.