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Ukraine Daily: Transformationen

Gerald Hensel
Neue Bellona
Published in
8 min readMar 3, 2022

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Eine vielleicht regelmäßige Kolumne mit ganz subjektiven Lageeinschätzungen zur Ukraine. Geschrieben von jemandem, der sich viel mit Sicherheitspolitik beschäftigt hat und aktuell viel zu schlecht schläft. Ich bin kein Journalist und schreibe diesen Blog nebenbei. Man sehe mir also Unperfektionen nach. Meine Twitterlist zur Ukraine-Krise ist hier. Der Artikel von gestern ist hier.

➡️ Donnerstag, 3.3.2022, wieder viel zu früh:

Hast du gestern vom Eindringen von vier russischen Jagdbombern in schwedischen Luftraum gehört? Oder von einem Helikopter, der zeitgleich in japanischen Luftraum geflogen ist? Hast du wahrscheinlich nicht. Weil wir so sehr auf das starren, was uns gerade an Schrecken und Informationsüberflutung jeden Tag erreicht. Wie soll man auch den Terror von Charkiw und Kiew, von Mariupol und bald Odessa irgendwie sinnvoll kontextualisieren mit der nächsten Herausforderung, die noch gar nicht eingetreten ist?

Life will defeat death, and light — darkness.

Kriege transformieren Gesellschaften, egal ob diese angegriffen werden oder angreifen. Egal, ob diese als positiver Support an der Seitenlinie stehen (so wie wir aktuell oder die USA vor 1941) oder gerade mit Marschflugkörpern beschossen werden. Danach ist nichts mehr wie davor. Und dabei passiert etwas. Schön auf den Punkt bringt das Jaroslav Hašeks “braver Soldate Schwejk”, dessen fröhlich-naiver Versuch, sich im Ersten Weltkrieg der Transformation zu widersetzen durch dem Versuch, sich mit seinem Saufkumpanen Woditschka “nach dem Krieg um halb sechs im Kelch!” zu verabreden. Aber Zeit ist nicht so statisch im Krieg. Alle verändern sich dauernd.

Vor zwei Tagen schrieb ich über die Notwendigkeit, dass wir in unseren Köpfen Szenarien modellieren, wie der Krieg in der Ukraine weitergeht und wie “wir” ihn so managen, dass wir ihn als Individuen, als deutsche Gesellschaft und letzten Endes auch als NATO führen können, obwohl wir ihn nicht führen: In unseren Köpfen. Was sind “unsere” Interessen und “deren Interessen”? Was unterscheidet die Interessen Deutschlands von denen der Ukraine? Sehen wir diese Unterschiede? Und wenn ja: Wie arbeitet man mit diesen Unterschieden?

Während verständlicherweise UkrainerInnen laut und vernehmlich nach einem Eingreifen der NATO schreien, kann es nicht unser Interesse sein, das zu tun. Wir werden fast alles unterhalb einer Schwelle tun, was eine direkte Konfrontation ausschließt. So verhindern wir einen Dritten Weltkrieg. Wir müssen dabei aber auch aushalten, dass Menschen in unserer Nachbarschaft sterben werden. Auch das wird uns auf Dauer verändern.

Transformation 1: Karten

In den nächsten Tagen und Wochen wird sich die Natur dieses Krieges und auch das “ukrainische Kriegsglück” ändern. Der tapfere und stark von der NATO gestützte Widerstand zerfällt zwar nicht. Aber er wird mutieren, und er wird von einer ukrainischen Armee (mit Flugzeugen, Panzern und geschlossenen Formationen) zu einer Guerilla-Armee transformieren, weil die Frontlinien sich ab bald massiv zu Ungunsten der Ukraine verändern werden.

Ein Blick auf die Karte des (ehemaligen) Schwarzmeer-Teils der Ukraine zeigt das: die Angriffsvektoren aus der Krim im Süden und dem Donbas im Osten haben nun den Link geschafft. Die Ukraine hat nun keinen Zugang mehr zur Azowschen See. Weiter wird es bei Kherson (gerade besetzt) nach Westen (Odessa) gehen und dann nach Südwesten entlang der Küste. Damit hat die freie Ukraine keinen Seezugang mehr.

Der Zoom raus

via @UkraineInvasionMapBot 🇺🇦

Der Zoom raus verdeutlicht die Lage in der Ost-Ukraine gerade. Wenn die rote Fläche unten (die jetzt erstmal Richtung Westen nach Odessa laufen wird) sich mit der roten Fläche oben bei Kiew vereinigt, hat Russland den gesamten Ostteil der Ukraine abgeschnitten.

Ein Blick auf die Population Density Map zeigt, was das bedeutet: Russland kann damit Waffenlieferungen in die wesentlichen Städte im Osten vielleicht nicht komplett verhindern. Aber dennoch wesentlich besser unterbinden. Der Kampf der UkrainerInnen wird anders. Aus dem kleinen heldenhaften David, der die Invasion Force stoppt, wird zunehmend ein Akteur, der in die Defensive gerät. Und wir werden lernen, dass der inkompetente, brutale Goliath Russland, nun Städte und Lände gewinne verzeichnen wird.

Das mögen wir nicht. Aber es wird so sein.

Transformation 2: “Wir”

Wichtig wird, wie Russland dann weiter manövriert. Ist man zufrieden mit einer Kontrollzone irgendwo westlich der Linie Kiew-Odessa und lässt den Rest als Puffer? Oder geht es weiter nach Westen. Die Region Lviv, das alte Lemberg im Westen (etwa so groß wie Frankfurt), ist offensichtlich auf den Karten aller russischen Generäle. Russland steht dann dort noch 70km von Polen entfernt. Das ist nicht so gut.

Das wird etwas mit “uns” machen. Momentan ist der Ukraine-Krieg für die meisten von uns noch etwas, was sehr weit weg stattfindet. Ukrainiophil-russophobe polnische NATO-Truppen und die blutbefleckte russische Armee direkt voreinander stehen zu haben, eröffnet eine ganz neue Anzahl an unbeabsichtigten Eskalationsszenarien. Und Russland testet “uns”. Testet “unsere” Einigkeit und das an neuen Orten.

Schweden:

Japan:

Russische Jagdflugzeuge und Jagdbomber bedrängten den Luftraum besonders der Baltikum-Anreiner schon länger. Direktes Eindringen passiert allerdings eher selten. Vor allem nicht parallel zum Eindringen eines Hubschraubers 8.000km weiter östlich.

Moskau will die Reaktionen der NATO ausprobieren. Ein hochgefährliches Spiel, das da auf uns zukommt. Sowas wird es in naher Zukunft sehr viel mehr geben. Und unsere Angst, die damit zusammenhängt, werden wir managen müssen. Als Bevölkerung der NATO werden wir akzeptieren müssen, dass wir wahrscheinlich eine ganze Weile an einer Grenze stehen, die man als Fast-Krieg mit Russland bezeichnen kann. Je näher sich beide Seiten in Zukunft physisch stehen, desto gefährlicher. Eine Frage wird zum Beispiel sein, ob Putins Armee direkt bis an die polnische Grenze läuft. Wir werden uns in diesem Prozess mental und gedanklich transformieren müssen.

Transformation 3: “Die”

Aber es ist ja nicht nur so, dass uns der Arsch auf Grundeis geht. In Russland sieht das ja nicht viel anders aus. Die Transformation, die da seit Anfang der Woche stattzufinden scheint, ist multidimensional, äußerst dynamisch und äußerst komplex. Sie findet auf verschiedenen Ebenen statt und es ist derzeit völlig unklar, worauf sie hinausläuft. Aber vereinfacht gesagt verwandelt sich Russland gerade in eine Nordkorea-Variante der Sowjetunion — nur mit mehr wirtschaftlichen Problemen. Ein Traum.

Der Zerfall der russischen Gesellschaft aktuell, verläuft für uns fast unsichtbar und durch Zensur kaum spürbar. Aber es muss massiv sein und seit Montag leider auch sehr viele Menschen ins Unglück gestürzt haben. Wir reden einerseits über Jobverluste, kein Bargeld mehr, keine Reisefreiheit mehr. Auf der anderen Seite auch über massive Einschnitte in den letzten freien Medien.

Nach Sperrung zweier halbwegs freier Sender in Moskau und tausenden Inhaftierten nach Demos im ganzen Land, scheint sich der massive Eingriff persönlicher Freiheiten auch in die Provinz auszuwirken. Ein Beispiel twitterte Meduza hier:

Kurz: Russland, das schon lange zumindest eine Autokratie war, mutiert in Lichtgeschwindigkeit zu einer verarmten, zentral kontrollierten Version von Orwells “Eurasia” in 1984. Ein riesiges, instabiles Experiement. Viele Zungen munkeln von der Ausrufung des Kriegsrechts bis Ende der Woche. Das wäre dann der letzte, endgültige Sprung in den Totalitarismus. Und selbst Nahrungsmittelengpässe sind Thema.

Für DurchschnittsrussInnen muss die Transformation schreckenerregend und völlig unvorhersehbar sein. Ja, die freie Presse war schon lange unter Druck. Ja, Demonstrationen waren lange schon schwierig. Aber was seit Montag passiert, ist eine andere Dimension. Zugleich steht der Große Führer Putin seinem Vorbild Stalin auch in einem anderen Punkt in nichts nach. Als der nämlich im Juni 1941 – entgegen der Meinung Stalins – die UdSSR überfiel, sprach „der Stählerne“ nicht zu seinem Volk. Er verkroch sich, deprimiert und alkoholgetränkt, ließ alles schleifen und fürchtete sich vor einem Putsch. Dass sich Putin seit Kriegsbeginn nicht einmal an die RussInnen wandte, spricht Bände. Normale RussInnen sind nicht zu beneiden, bezüglich der neuen, paranoiden, Orwell-Welt, die ihnen ihr Diktator aufgezwungen hat.

Aber es gibt auch positive Neuigkeiten: Mit Gerhard Schröders Bonus dieses Jahr sieht es nicht ganz so gut aus.

Aber ganz im Ernst: Das sind große Räder, die gerade mahlen. Es gibt verschiedene Varianten unserer Zukunft. Unsere Moral, Denke, unsere Ängste und Wünsche spielen einen wesentlichen Anteil in der Frage, welche Wirklichkeit wahr wird.

Transformation 4: Medien

Keinen guten Job machen dabei in meinen Augen unsere Medien:

Widersprüchlich, sensationsgeil und oft ohne Kompetenz in “diesen Sachen”, auf die wir alle keinen Bock haben (wer will schon einen T-80 von einem TOS-1 Flammenwerfer unterscheiden?). Es tut mir weh, das zu sagen: Aber BILD (mit Ronzenheimer vor Ort und einigen Leuten, die das Metier kennen) macht in Sachen Ukraine aktuell bessere Arbeit als zum Beispiel der SPIEGEL, der wirklich keinerlei Gegelenheit auslässt um die Alarmglocken zu bedienen. Ich finde es journalistisch grob fahrlässig, mit Headlines wie “Um kurz nach drei liegt der Bündnisfall auf dem Tisch” zu arbeiten. Vor allem, wenn der darauffolgende Text etwas völlig anderes sagt.

Beispiel 2: Widersprüche.

Ein Beispiel von der SPIEGEL Startseite heute morgen. Zwei nicht zusammenhängende Artikel, die Vladimir Putin aktuell völlig unterschiedlich charakterisieren und einordnen. In Artikel 1 ist er “größenwahnsinnig” und völlig unberechenbar. Artikel 2 macht ihn zum rationalen Schachspieler. Ja, wie denn nun, lieber SPIEGEL?

Unzweifelhaft stehen wir in einer riesigen Transformation mit ungewissem Ausgang. Diese Transformation ist nicht nur “unsere” Transformation. Es sind mehrere Transformationen gleichzeitig, die wir zum Teil (Beispiel Russland) gar nicht sehen, messen und erfassen können.

In einer so dynamischen Situation ist “Haltung” weit mehr als nur ein Purpose Marketing Buzzword. Wir müssen auf uns selbst aufpassen, aber wir sollten uns auch eine Denke antrainieren, die für jeden von uns auch psychologisch nicht allzu viele böse Überraschungen in einer so dynamischen Welt bereit hält. Wir müssen kompetent werden in Dingen, in denen wir nie kompetent werden wollten. Der russische Schachspieler Dawid Ionowitsch Bronstein sagte einmal “Die stärkste Waffe im Schach ist es, den nächsten Schritt führen zu können.” Das gilt für das große Spiel da draußen. Das gilt mental für jeden von uns.

P.S.: Wer diesen Artikel hilfreich fand, darf ihn gerne teilen. Mir geht es nicht um Internetherzchen. Aber ich glaube, dass es wichtig ist, den Diskurs in dieser krisenhaften Zeit mitzugestalten. Ich freue mich deshalb über LeserInnen und Kommentare. Folgen kann man mir auch auf twitter.

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Gerald Hensel
Neue Bellona

Neu-Hamburger, Politologe und Sicherheits-/Geschichtsfreak. Hier nur privat. Beruflich: Co-Gründer und GF bei superspring Marketing Consulting.