Bild: Gerben van Es/Ministerie van Defensie — http://www.defensie.nl/onderwerpen/materieel/inhoud/communicatie-en-informatiesystemen/doelgegevens-evaluatie-cel-dec

Von der Renaissance der Artillerie

Gerald Hensel
Neue Bellona
Published in
5 min readDec 1, 2022

--

In den letzten Tagen stoße ich auf immer mehr gute, analytische Artikel, die erklären, wie es in der Ukraine zu dem Desaster für Russland kam, das es ist. Kriege brauchen scheinbar eine Zeit, bis man in der Lage ist, ein halbwegs verlässliches Bild des Ist-Zustands zu treffen. Im Social Media Zeitalter, wo Videos, Virals und Schlachtfeld Mythen unser aller Wahrnehmung verzerren, umso mehr.

Nach wie vor ist nicht vollständig geklärt, wie die ukrainische Armee eine russische (zum Teil) 10:1 Übermacht schlagen konnte. Diese Frage zu beantworten, ist auch für unsere eigene Sicherheitsarchitektur wichtig. Der Bundeswehr geht es bekanntlich nicht gut. Was wir aus dem Ukrainekrieg lernen und in konkrete Anschaffungen und Reorganisationen überführen können, ist sicherheitspolitisch für uns absolut zentral — vor allem mit einem auf Jahre hinaus revanchistischen Russland vor unserer Tür. “Zeitenwende” — da war doch was, oder?

In der Wahrnehmung, “was ist” gibt es nicht nur ein Problem mit der Dynamik des Krieges sondern auch mit viralen Mythen und dem omnipräsenten Glauben an High-Tech als heiliger Gral auch des militärischen Fortschritts. Dazu hat heute “The Economist” ein sehr lesenswertes Stück im Angebot, das eine Studie analysiert, die die ukrainischen Siege in der ersten Hälfte des Jahres 2022 unter die Lupe nimmt. Ich habe es hier 👇 verlinkt (leider mit Paywall).

Ein paar Textauszüge. Der Artikel bezieht sich übrigens auf eine aktuelle Studie, die die Learnings aus dem Krieg zwischen Februar und Juli untersucht:

Entgegen der landläufigen Meinung haben die von den Amerikanern und Briten gelieferten Panzerabwehrraketen Javelin und NLAW nicht die Ukraine alleine gerettet, obwohl sie in den Videoaufnahmen der ersten Woche des Konflikts sehr häufig zu sehen sind. Auch die türkischen Bayraktar tb2-Drohnen, die nach dem dritten Tag kaum noch zu gebrauchen waren, haben kaum geholfen. “Der Propagandawert westlicher Ausrüstung … war zu Beginn des Krieges extrem hoch”, bemerkte Jack Watling von rusi, einer der Autoren des Berichts, kürzlich in “The Russia Contingency”, einem Podcast über russische Militärfragen. “Bis zum April hatte das keinen wirklich wesentlichen Einfluss auf den Verlauf der Kämpfe…”. Der entscheidende Faktor sei eher prosaisch gewesen. “Was den Russen nördlich von Kiew einen Strich durch die Rechnung machte, waren zwei Artilleriebrigaden, die jeden Tag aus allen Rohren feuerten.

Statt Drohnen, Javelins und ferngesteuerten, feuerspeienden Cyber-Laseraffen, waren es zwei gut positionierte Batterien Artillerie, die die Hauptstadt retteten. Ein Waffensystem, das 600 Jahre alt ist, ist immer noch relevant? Was für eine unangenehme Vorstellung für unseren Fortschrittsglauben.

Aber der Artikel geht weiter:

Die zentrale Rolle der Artillerie ist ein ernüchternder Gedanke für die westeuropäischen Armeen, deren Feuerkraft seit dem Ende des Kalten Krieges dramatisch geschrumpft ist. Zwischen 1990 und 2020 ist die Zahl der Artilleriegeschütze in den großen europäischen Armeen um 57 % zurückgegangen, so eine Aufstellung des International Institute for Strategic Studies, einer weiteren Denkfabrik in London. Das Arsenal der Ukraine war hingegen immer beeindruckend. Zu Beginn des Krieges verfügte sie über mehr als 1.000 Rohrartilleriesysteme (mit langen Rohren) und 1.680 Mehrfachraketenwerfer — mehr als Großbritannien, Frankreich, Italien, Spanien und Polen zusammen und damit die größte Artillerietruppe in Europa nach Russland. Das größte Hindernis für die Ukraine war die Munition.

Und noch eine weitere Facette rettete die Ukraine: Vorausschauende Logistik, die auch nicht neu ist. Die ukrainischen Streitkräfte distribuierten rechtzeitig Munitionsvorräte und Waffensysteme vor dem russischen Einmarsch weg von zentralen Depots.

Die Ukraine überstand diesen ersten Blitzangriff vor allem deshalb, weil sie vorausschauend eine Woche vor der Invasion ihre Munitionsbestände aus den wichtigsten Arsenalen verteilte und diese Bemühungen drei Tage vor dem Krieg noch beschleunigte. Flugzeuge und Luftabwehrsysteme wurden innerhalb von Stunden nach dem Angriff verteilt. Infolgedessen wurde nur ein Zehntel der mobilen Luftverteidigungsanlagen getroffen.

Ohne Zweifel ist der Ukraine Krieg auch ein Experimentierfeld für viele neue Waffensysteme. Aber durch die schiere Größe des Landes und die beteiligten Akteure mit ihren großen alten Sowjetausrüstungen sind es eben keine Stealth Fighter und Cyber Warriors, die hier wirklich den Unterschid machen.

Es sind Kanonen und vor allem kleine Drohnen (nicht große), die Schlachten entscheiden und dabei in atemberaubender Menge runtergeholt werden - 90% aller Drohnen wurden abgeschossen. Beide Systeme sind eng verbunden. Kleine Drohnen sind Artilleriespotter. Ein Job, den früher Menschen machten.

Zur wesentlichen Rolle der Artillerie im Ukrainekrieg auf beiden Seiten noch zwei Zahlen: Im Sommer 2022 verfeuerte die russische Armee in zwei Tagen das an Granaten, was die gesamte britische Armee an Granaten eingelagert hat. Wir reden von bis zu 50.000 Granaten pro Tag. Die Ukraine kam zeitgleich auf 5.000–7.000 Granaten pro Tag. Ein unglaubliche Menge.

Deutschland könnte nach letzter Rechnung nicht mal das NATO Minimalziel von 30 Tagen Munition für den Ernstfall aufrecht erhalten. Die Ursprungsrechnung ging wahrscheinlich auch nicht von einer Intensität wie in der Ukraine aus. Würde man die Intensität dort auf das NATO Ziel und die deutschen Depots umrechnen, könnte Deutschland wahrscheinlich einen Vormittag Krieg führen. Der früh-2000er Fokus auf den Krieg gegen den Terror — bei dem man gar nicht mehr annahm, dass es nochmal zu einem großen Krieg in Europa kommt, hat einen Paradigmenwechsel eingeläutet. Schwere Systeme, Artillerie und Panzer wurden gegen Sondereinheiten eingetauscht. Mit Folgen, die der Artillerieexperte Thomas Theiner in einem Twitter Thread so zusammenfasste:

Natürlich braucht die NATO mehr Artillerie!

Während des Kalten Krieges verfügte die NATO im Durchschnitt über 2,1× Artilleriebataillone pro Brigade. Allein in Deutschland gab es über 200 alliierte Artilleriebataillone.

Heute gibt es in Deutschland 8× Artilleriebataillone (4× US Army & 4× Bundeswehr), der aktuelle westeuropäische NATO-Durchschnitt liegt bei 0,98× Artilleriebataillonen pro Brigade. Nur die USA, Griechenland und die Türkei verfügen noch über eine entsprechende Anzahl.

Also, ja: alle NATO-Mitglieder müssen in neue (und mehr) Artilleriesysteme und viel Munition investieren — denn: ARTILLERIE GEWINNT KRIEGE!

Das Problem der Ukraine ist nicht, dass sie zu wenig Waffen hatte. Das Problem der Ukraine ist die schiere Intensität des Kampfes, den sie zu führen hat. Die Größenordnung überfordert jedes NATO Depot. Und das ist tatsächlich unser Problem. Denn auch wenn die amerikanische HIMARS-Raketenartillerie in der Ukraine einen entscheinden Beitrag zu den letzten Siegen leistete: Es gibt viel zu wenig davon in der NATO. Und: Nachproduzieren dauert lange und ist teuer.

Lange Rede kurzer Sinn. Eine Lehre, die wir aus dem Ukraine Krieg ziehen müssen, ist die Stärkung der Artillerie als Waffenkategorie, inklusive der Wiederaufbau der dazu notwendigen Munitionsvorräte. Aus “moderner Sicht” scheint ein Geschütz keine “moderne Waffe” zu sein.

Tatsächlich ist es Artillerie und ihre massive Verfügbarkeit vor Ort sowie der Ausbau mit moderneren NATO Geschützen, die diesen Krieg für die Ukraine entscheiden. Allerdings muss Artillerie verfügbar bleiben und skalierbar sein. Derzeit setzt die NATO auf wenige Edel-Geschütze mit Premium-Munition im Werte von Einfamilienhäusern. Damit gewinnt man Kriege wie den in der Ukraine nicht mehr. Und auch China wird lernen, dass Stalin mit einem Satz recht hatte: die Artillerie ist “der Gott des Krieges.”

--

--

Gerald Hensel
Neue Bellona

Neu-Hamburger, Politologe und Sicherheits-/Geschichtsfreak. Hier nur privat. Beruflich: Co-Gründer und GF bei superspring Marketing Consulting.