Der Sinn des Sinnbefreiten

Wer jede Minute sinnvoll nutzen will, vergisst schon mal, dass es manchmal auch wichtig ist, nichts zu tun. Ein Plädoyer für den Müßiggang.

Neue Narrative
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10 min readAug 20, 2018

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Von Laura Erler

Illustration: Henriette Rietz

Wenn man moderne Großstadtmenschen nach ihrem größten Problem im Alltag fragt, antworten sie in den meisten Fällen wie aus der Pistole geschossen: „Ich habe zu wenig Zeit.“ Karriere, Workout, Selbstverwirklichung, Familie — wie soll man das nur alles in 24 Stunden quetschen? Angesichts dieser Zwickmühle ist es kein Wunder, dass viele von uns sich abstrampeln in dem Versuch, jedes Minütchen der knappen Zeit sinnvoll zu nutzen. Doch dabei bleibt häufig etwas Entscheidendes auf der Strecke: das sinnfreie Tun, das Nichtstun. Der Müßiggang — das entspannte Verstreichenlassen von Zeit, während der man vergnüglichen Tätigkeiten nachgeht, die keinem bestimmten Zweck folgen — hat heutzutage einen schlechten Ruf. Alles, was sinnbefreit ist, erscheint anrüchig, das Wort „Hobby“ hat einen negativen Beigeschmack bekommen und klingt nach Hobbykeller, Modelleisenbahn und Briefmarkensammlung. Müßiggang passt nicht in unsere von Effizienz besessene, durchoptimierte Beschleunigungsgesellschaft und wird mit Unproduktivität gleichgesetzt. Doch es geht auch anders.

Illustration: Henriette Rietz

In der Antike galt die vita contemplativa als erstrebenswertes Gegenstück zur Plackerei. „Das Leben in Muße ist der Arbeit vorzuziehen“, sagt Aristoteles in seiner Politik. Doch mit dem Christentum wurde mit dem Sinnspruch ora et labora (lat.: bete und arbeite) der fleißige, arbeitsame Mensch zum Ideal erhoben. Faulheit und Trägheit wurden dagegen zur Sünde erklärt, ganz nach der Devise: „Müßiggang ist aller Laster Anfang.“ Mit der Industrialisierung wurde das Nichtstun dann nahezu komplett abgeschafft. Die Maschinen durften schließlich nicht zum Stehen kommen. Seit Aufkommen des Kapitalismus steigern wir in den westlichen Industrienationen stetig unsere gewinnbringenden, produktiven Aktivitäten, während sinnbefreite Zeit als Gefahr für den Fortschritt angesehen wird. Dabei ist die Arbeit ins Zentrum unseres Lebens geraten, die Grenzen von Beruf und Privatleben lösen sich auf. Das Smartphone ist immer dabei, berufliche E-Mails werden rund um die Uhr gelesen. Und auch in unsere Freizeit wollen wir so viel vermeintlich Sinnvolles wie möglich hineinzwängen. Immer mehr trendige Freizeitaktivitäten sind mit einem bestimmten Zweck verbunden oder haben etwas mit Selbstoptimierung zu tun. Bootcamps, Body Shaping, Low Carb oder Clean Eating sind da nur einige der Stichworte. Doch auch wer damit nichts am Hut hat, sondern in seiner Freizeit lieber herumwerkelt, bleibt von der zwanghaften Zweckhaftigkeit seines Tuns nicht verschont. Heute soll jeder sein „Hobby zum Beruf machen“ oder zumindest monetarisieren. Was früher Basteln, Handarbeit und Tüfteln zum Selbstzweck war, heißt heute Do It Yourself, und die hergestellten Produkte werden am Ende bei Etsy oder Dawanda verkauft. Damit sind die produktiv-gestalterischen „Hobbys“ also de facto auch Arbeit, nur als Muße verkleidet. Gereist wird auch kaum noch mehr ins Blaue hinein, also nicht einfach mal ohne besondere Agenda „ein bisschen in die Sonne“, um die Seele baumeln zu lassen. Stattdessen werden „Bucket Lists“ abgehakt und noch während des Urlaubs müssen Reiseblog und Instagram-Feed gefüttert werden. Irgendwie können wir nichts mehr „einfach nur so“ tun, ohne Ziel dahinter.

Und was haben wir davon? Vor lauter Fixierung auf die produktive Nutzung unserer Zeit verlieren wir den Spaß an der Sache, leiden unter immer mehr Stress- und Erschöpfungszuständen, die am Ende sogar zu Burnout oder Depressionen führen können. Das Schlimmste jedoch ist, dass es in dieser durchgetakteten Welt kaum noch Platz für kontemplative Momente gibt, die wir aber brauchen, um Problemlösungen und kreative Einfällen zu entwickeln. Die Worte Muße/Müßiggang und das lateinische meditari (Nachsinnen) sowie das griechische medesthai (überlegen/bedacht sein) haben dieselbe indogermanische Wortherkunft. Zufall? Nein, denn daraus lässt sich ableiten, dass man, um zu Sinn zu gelangen, erst einmal sinnbefreite Zeit, die Muße, benötigt, die keinem Zweck außer ihrer selbst folgt. Phasen des Müßiggangs sind schöpferische Zustände — ohne sie kann das Hirn sich nicht von der stressbedingten Reizüberflutung erholen und wird unkreativ. Das bedeutet folglich im Umkehrschluss, dass wir gerade beim sinnbefreiten Nichtstun auf sinnige Ideen stoßen.

Doch was fangen wir mit dieser wiederentdeckten Erkenntnis an? Offenbar ist Müßiggang im Jahr 2018 eine verschüttgegangene Kulturtechnik, die viele arbeitswütige Menschen erst wieder neu erlernen müssen. Das geht am besten, indem wir uns bewusst eine Freizeitbeschäftigung suchen, die weder der Selbstoptimierung dient noch einen konkreten ökonomischen Nutzen besitzt. Ein paar Anregungen gefällig? Es folgen drei.

Fischen ohne Fisch

Illustration: Henriette Rietz

Das Fangen von Fischen ist so alt wie die Menschheit und gehört zu den frühesten Jagdpraktiken. Doch, zumindest in den modernen Industrienationen, muss heute kaum jemand mehr in einen Fluss steigen und seine Nahrung selbst fangen. Warum also angeln Menschen? Vor allem Großstädter? Ist das nicht ziemlich sinnbefreit? Spricht man mit Anglern, sind sich viele einig: Der Weg ist das Ziel. Das Vorbereiten der Angelutensilien, der Nervenkitzel, die Ungewissheit, ob sich etwas regt und anbeißt — der Reiz liegt im Abwarten und geduldigen Herumsitzen. Wenn man einen Fisch fängt, sei das zwar schön, aber zweitrangig, berichten sie. Es gibt zwar auch die „Kochtopfangler“, die nur so lange sitzen bleiben, bis ein Exemplar in ihrem Eimer schwimmt, das sie dann für die Fischpfanne zuhause mitnehmen können, aber zumindest neunzig Prozent der Karpfenangler in Deutschland betreiben „Catch and Release“. Sie behalten die Fische also nicht, sondern werfen sie nach dem Fangen wieder ins Wasser — und so mancher Angler mag den Geschmack von Fisch nicht einmal. Tom Hodgkinson, erklärter Freund des Müßiggangs und Gründer des Magazins The Idler, erklärt in seinem Buch How to be Idle (2004), dass das Angeln die perfekte müßige Tätigkeit sei, weil ihr Sinn eben darin bestehe, leise und regungslos zu sein, womit sie eine Legitimation des Nichtstuns darstelle. Daher kann dieses Hobby sehr sinnstiftend sein, denn es handelt sich dabei quasi um eine Form der Meditation. Der hibbelige Großstädter übt beim Angeln das Stillsein und findet Zeit nachzusinnen. Er begibt sich aus der Stadt und deren Geschäftigkeit heraus und hinein in die Natur. Auch die britische Angler-Ikone Chris Yates, der regelmäßig für The Idler schreibt, sagt, dass eine der größten Freuden am Angeln die Verbundenheit mit der Natur sei, in der man wunderbar nachdenken könne.

Diesem Ursprungsgedanken des Angelns kommt man übrigens am nächsten, wenn man dabei auf das inzwischen angebotene Hightech-Equipment verzichtet. Stattdessen empfiehlt es sich, jenen skurrilen Einzelgängern nachzueifern, die eine Wissenschaft aus der Angelprozedur machen, stundenlang am richtigen Köder frickeln und ganz allein am Ufer sitzen, ohne mit jemandem zu reden. Nur dann stehen die Chancen gut, dass man sich außer den Fischen auch noch die eine oder andere philosophische Erkenntnis angelt.

Flanieren ohne Ziel

Illustration: Henriette Rietz

Im 19. Jahrhundert waren die Städte bevölkert von behandschuhten Intellektuellen mit Spazierstock, die im wahrsten Sinne des Wortes müßig gingen, indem sie plan- und ziellos durch die Straßen wandelten. Man nannte sie Flaneure (aus dem Französischen für flâner: „umherstreifen, schlendern“). Besonders in Paris war der Flaneur ein häufig anzutreffender Zeitgenosse, und als literarische Figur spaziert er noch heute durch die Erzählungen von Charles Baudelaire oder Edgar Allan Poe. Kernidee des Flanierens war es, sich treiben und den Blick schweifen zu lassen sowie Details wahrzunehmen, aus denen sich Reflexionen über die Umgebung ableiten ließen. Das Gehtempo war laut Walter Benjamin idealerweise dem einer Schildkröte angepasst, weshalb es wohl um 1840 en vogue war, eine solche als Haustier zu halten und in den Pariser Passagen spazieren zu führen. Benjamins philosophisch-literarisches Passagen-Werk (1927) entstand als Aktualisierung des Flaneurtums, während der Autor ziellos umherschlenderte und die Pariser Passagen, Straßen und Warenhäuser auf sich wirken ließ. Flaneure waren für Benjamin der Inbegriff des Widerstandes gegenüber der arbeitsamen, bürgerlichen Gesellschaft. Wer schlendert, lehnt sich auf gegen das Gehetze und die Geschäftigkeit und macht sich frei für neue Ideen. Dass beim beobachtenden Spazieren gute Ideen entstehen, versinnbildlicht auch der prototypische Flaneur Sherlock Holmes, der regelmäßig in Straßen herumlungert, stundenlang Situationen und Personen observiert und schließlich Brandy schlürfend seine Erkenntnisse zur Lösung eines verzwickten Kriminalfalls verdichtet. In ähnlicher Weise flanierte auch Victor Hugo, Beethoven komponierte auf langen Spaziergängen im Kopf und Søren Kierkegaard hatte beim Umherstreifen durch Kopenhagen mitunter derart gute Einfälle, dass er sie manchmal noch im Mantel mit dem Spazierstock in der Hand zwischen Tür und Angel aufschreiben musste, um sie nicht zu vergessen.

Illustration: Henriette Rietz

Leider ist das Flanieren im Zuge der Industriellen Revolution zunehmend in Vergessenheit geraten und heute vor allem in Großstädten kaum noch vorstellbar. So wird Bummeln heutzutage an vielen Orten beinahe als Todsünde wahrgenommen: Wer auf einer Rolltreppe ganz ohne böse Absicht auf der falschen Seite stehen bleibt, wird augenrollend abgestraft. Leute hasten von A nach B, rennen U-Bahnen hinterher, obwohl in fünf Minuten bereits die nächste kommt.

Wer das Flanieren in seiner Heimatstadt zu seinem Hobby machen will, verlangsamt also schon einmal seinen Schritt. Wem eine Schildkröte oder ein Ameisenbär an der Leine im Stil Salvador Dalís zu exzentrisch sind, der kann sich auch einen alten, eher trägen Hund zulegen. Außerdem sollte man als echter Flaneur auf jegliche Form der Ablenkung (beispielsweise in Form von Podcasts oder Musik im Ohr) verzichten. Der sonntägliche Trödelmarkt bietet sich da an, aber nicht um ein Schnäppchen zu ergattern, sondern einfach, um zu schauen und zu schlendern. Und um in einer fremden Stadt zu flanieren, streicht man am besten die Internetrecherche im Vorfeld sowie die durchgeplante Sightseeing-Tour von der To-Do-Liste (die ist ohnehin überflüssig!) und praktiziert lieber das absichtslose Umherstreifen und absichtliche Verlaufen — ohne Karte und Google Maps.

Spähen ohne Auftrag

Illustration: Henriette Rietz

Die in England verbreitete Freizeitbeschäftigung Trainspotting kennt man zumindest vom Namen aus dem gleichnamigen Film. Aber was steckt genau dahinter? Ein sogenannter „Spotter“ ist eine Person, die gezielt Objekte oder Phänomene beobachtet, im Falle des Trainspotters also Züge, deren Zugnummern er gelegentlich auch notiert. Doch auch andere Formen des Spottings erfreuen sich einiger Beliebtheit. Zwei britische tractor spotter, Angehörige des Dull Men’s Club, deren Mitglieder hobbymäßig den alltäglichen belanglosen Dingen im Leben huldigen, sind ein Jahr lang durch die Lande gezogen und haben einen Film über unterschiedliche Traktorentypen gedreht. Auch Journalist David Denk macht es sich in seinem Buch Der Hobbyist (2014) zur Aufgabe, das „sinnvoll zweckfreie“ Steckenpferd in diesen „hobbyfeindlichen Zeiten“ zu retten und probierte sich unter anderem im Planespotting. Ziel der flugzeugbegeisterten plane spotter ist es, von jeder Airline, jedem Flugzeugtyp und jeder Lackierung am Ende entweder ein Foto zu besitzen oder die Registrierungsnummer notiert zu haben. Im Zuge seiner Recherche traf sich Denk auf der Besucherterrasse des Flughafen Schönefeld in Berlin mit einem plane spotter und fand heraus, dass es diesem bei seiner Beschäftigung einzig und allein ums Sammeln geht. Auch beim Planespotting ist der Weg das Ziel. Der Spotter weiß, er wird nie eine vollständige Fotosammlung haben, doch das bloße Archivieren an sich ist das Reizvolle. Auch das Spotting ist kontemplativ, es geht ums Fokussieren, Wahrnehmen und Beobachten um des Beobachtens willen. Was von vielen belächelt wird, ist im Grunde nichts anderes als eine Form der Achtsamkeit.

Illustration: Henriette Rietz

Wer nicht so sehr auf Fahr- und Flugzeuge, sondern eher auf Wald und Wiese steht, kann eine noch viel klassischere Form des Beobachtens ausprobieren: die Vogelschau, oder auf Neudeutsch „Birding“. Die Tradition der hobbymäßigen Ornithologen und Vogelgucker, die mit dieser Aktivität dem trubeligen Alltag entkommen, reicht weit zurück. Nikola Tesla war zum Beispiel fasziniert von Tauben, beobachtete und fütterte täglich die Exemplare im New Yorker Bryant-Park. Doch damit nicht genug: Er nahm sie sogar mit in sein Hotel und stellte eine eigene Rezeptur für ein Tauben-Gourmetfutter zusammen. Heute wächst die Anzahl der Vogelfreunde stetig, vor allem in den Städten. Im Berliner Tiergarten frönen Menschen dem after work birding und in London liegen urban birder wie David Lindo sogar mit Ferngläsern auf dem Gehweg, um ein paar der gefiederten Freunde vor die Linse zu bekommen. Wer über Spotter spottet oder einen Birder als komischen Kauz bezeichnet, hat keine Ahnung. Denn Spotter machen alles richtig. Egal, ob Gegenstände oder Lebewesen: Sie schulen sich in bewusster Wahrnehmung, im Warten und in Geduld. Zusätzlich bekommen sie den Kopf frei und können sich dadurch besser konzentrieren, wenn es wieder darum geht, zielgerichteten Tätigkeiten nachzugehen.

Müßiggang ist nicht aller Laster, sondern aller Tugend Anfang. Wer öfter mal nichts, oder zumindest sinn- und zweckfreie Dinge tut, hat am Ende nicht nur ein entspannteres Leben mit einem höheren Spaßfaktor, sondern oft auch die besseren Ideen, wie zahlreiche Künstler, Poeten und Philosophen bewiesen haben. Denken wir nur an Newton, der das Verständnis des Gravitationsgesetzes angeblich einem Nickerchen unter einem Baum zu verdanken hat. Daher ist das sinnfreie Hobby alles andere als sinnlos oder gar unsinnig. Oder anders ausgedrückt: Das Sinnlose wird am Ende doch sinnvoll. Daher haben selbst die Sinn- und Effizienz-Maximierer unter uns keine Ausrede mehr, nicht gelegentlich auch abzuschalten. Derzeit besuchen sie teure Mindfulness-Coachings zur Stressreduzierung, wo ihnen beigebracht wird, den Geschmack einer Rosine bewusst wahrzunehmen und endlich wieder achtsamer zu sein… Der Müßiggänger lacht, denn nichts anderes bekommt er völlig umsonst beim Angeln, Vogelschauen oder Aktzeichnen.

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