Hallo Zukunft!

Verteilte Führung, Arbeitsverweigererhosen im Konzern und ein Vorstand mit besetztem Büro. Der kurvenreiche Weg von Europace in die Selbstorganisation.

Neue Narrative
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13 min readNov 19, 2018

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Von Lena Marbacher

[Das ist ein gesponserter Beitrag. Europace unterstützt das Neue Narrative Magazin damit finanziell, wofür wir unserem Partner sehr dankbar sind. Wenn du wissen willst, was genau ein sponsored post ist oder wenn du Feedback dazu hast, schreib uns an hallo@neuenarrative.de]

Barfuß im Atrium. Der Empfang und die polierten Klingelschilder vermitteln den klassischen Konzern-Eindruck: clean und erfolgreich. Genau dieses Bild tut sich auf, wenn man an einen software-lastigen Finanzdienstleister denkt: nüchterne Einrichtung, wenig Emotionen, Männerüberhang und die entsprechende Ingenieurs-Denke. Hallo, Schublade!

Es geht auch ganz anders: Auf Netzstrümpfen läuft Anna Spöttl durch das Atrium und fährt in den ersten Stock. Dort gibt es gläserne Flure, rechts und links sitzen Leute vor ihren Rechnern, beschreiben Wände oder lümmeln auf bunten Sofas. Das ist keine Seltenheit mehr in Konzernen. Schließlich passen sie sich zunehmend den Anforderungen der jungen Mitarbeiter*innen an, die Home-Office verlangen und ohne Post-its nicht mehr denken können. Rund 160 Menschen arbeiten hier. Anna geht in ein verlassenes Büro, lehnt sich an einen großen Stehtisch und klappt den Laptop auf. Sie ist im Vorstandsbüro. Und weil beide Vorstände gerade nicht da sind, nutzt sie die leeren Räume als temporären Arbeitsplatz. Das ist keine Ausnahme, sondern die Regel.

Rollen statt Stellen. Kreise statt Abteilungen.

Anna ist seit zwei Monaten bei der Europace AG und verantwortet mit ein paar Kolleg*innen das Employer Branding. Als sie die Anzeige zu ihrer Stelle las, dachte sie: „Wenn so viele Vorteile in einer Jobanzeige stehen, dann kann das nicht stimmen. Ich war mir sicher, dass alles nur Gerede ist und ich den Job eh nicht bekomme.” Nun ist sie hier. Fünf Jahre hatte sie in ihrem vorherigen Job verbracht, angefangen mit der Ausbildung zur Bürokauffrau. Im Grunde ist sie das auch geblieben, der ewige Azubi, wie sie es nennt. Es gab keine Möglichkeiten zur Weiterentwicklung, das Unternehmen wurde ausschließlich von Männern geführt. Es galten die Regeln: Du kannst dich einbringen, aber entscheiden tun am Ende immer die Chefs. Du kannst widersprechen, aber womöglich kostet dich das deinen Job. Also lernte Anna sehr schnell, den Mund zu halten. Aber das gefiel ihr nicht. Nach fünf Jahren beschloss sie, dass etwas passieren müsse, und so schaute sie sich auf dem Arbeitsmarkt um. Sie wollte das machen, was sie ohnehin privat mit Leidenschaft tat: sich mit Social Media, Marketing, Fotos und Videos beschäftigen. Ohne Studium und mit der Ausbildung zur Bürokauffrau gar nicht so leicht. Als sie nach vielen Absagen irgendwann die Anzeige von Europace entdeckte, dachte sie nur: „Finanzdienstleister klingt echt lame.” Sie bewarb sich trotzdem.

Zum Vorstellungsgespräch traf sie nicht wie erwartet nur den Personaler, sondern das ganze Team. Und es klappte. Nach wenigen Wochen bei Europace hatte sie die erste Fortbildung zum Thema Selbstorganisation. Der Workshop zur Organisationsarchitektur Holacracy gehört zum Standard Onboarding-Prozess. Anna hat dort gelernt, dass bei Europace nicht in Abteilungen, sondern in Kreisen gearbeitet wird, dass sie keine Stelle für immer hat, sondern eine Rolle ausfüllt, die eine bestimmte Verantwortung trägt und dass sie mit der Zeit auch andere Rollen ausfüllen könnte. Der Unterschied zur klassischen Struktur liegt darin, dass man in der einen Rolle Führungskraft sein und zur gleichen Zeit in einem anderen Kreis eine Rolle als Praktikant*in haben kann. Annas aktuelle Rollen sind Dolmetscher, Social Media Evangelist und Publisher Social Media.

Und Anna ist nicht die einzige Person im Unternehmen mit der Rolle Social Media Evangelist, denn Rollen können mehrfach besetzt werden. Annas Rollen liegen im Kreis Marketing. So wie jede Rolle einen definierten Purpose hat, hat auch der Kreis einen beschriebenen Sinn und Zweck: „Wir sorgen für das gute Gefühl, dass Europace die richtige Wahl ist!” In ihrem Kreis hat Anna eine Frau als Führungskraft. Von ihrer anfänglichen Sorge, wie es wohl mit einer Frau als Führungskraft ist, ist Anna mittlerweile kuriert: „Ehrlicherweise war ich etwas skeptisch, wie das mit einer Frau als Chefin ist. Ich hatte vorher noch nie eine weibliche Führungskraft. Aber ich habe gemerkt: Vielleicht stimmt es doch und Frauen sind einfach sensibler. Ich bin glücklich und fühle mich gesehen und ernst genommen. Ich kann immer sagen, was mir durch den Kopf geht. Das war ich bei dem von Männern dominierten Arbeitgeber von früher überhaupt nicht gewohnt.”

Sich zu trauen, jemandem ihre Meinung zu sagen, daran gewöhnt sich Anna gerade. Eine Situation ist ihr noch gut in Erinnerung: Ihr Kollege Stefan Kennerknecht kam ins Büro und hatte mal wieder eine Idee. Für besonders sinnvoll erachtete Anna die Idee nicht und sagte dann auch: „Nein, das machen wir nicht, das passt einfach nicht.” Im ersten Moment fühlte sich das komplett richtig an. Dann erschrak sie: „Hab ich gerade Nein zum Vorstand gesagt?”. Ja, das hatte sie. Er nickte, sagte: „Okay, dann nicht”, und ging wieder.

Selbstorganisation statt Chaos

Seit ungefähr drei Jahren experimentiert Europace mit dem Thema Selbstorganisation. Aber im Grunde war sehr offen und frei, welche Aspekte davon berücksichtigt werden und welche nicht. Selbstorganisiert in die Selbstorganisation war das unbewusste Motto. Andreas Hertel ist seit elf Jahren im Unternehmen und arbeitet heute als Coach und Trainer im Kreis People & Organisation. Er hilft seinen Kollegen auf dem Weg in die Selbstorganisation, bei der persönlichen Weiterentwicklung und agilen Projekten. Er selbst hat noch das klassische Traineeprogramm für angehende Führungskräfte bei Europace durchlaufen. Zwar wurden schon damals Bücher wie Die fünfte Disziplin von Peter Senge als Lektüre empfohlen, aber gelebt wurde davon nichts. Wie viele andere große Unternehmen hatte Europace eine starke Trennung zwischen fachlicher Marktverantwortung und technologischer Entwicklung geschaffen. Diese Silos kosteten die Organisation lange viel Kraft und Potenzial, weil die Leistungen, Produkte und Angebote nicht ganzheitlich gedacht wurden, nicht end-to-end. Die IT-Abteilung arbeitete schon 2006 mit agilen Methoden wie Scrum und Kanban, in der restlichen Organisation kannte das aber niemand. Dabei entstanden ganz eigene Kulturen, die im Ganzen immer wieder zu Konflikten führten.

Klar ist mittlerweile, dass die Organisationsstrukturen entscheidend dafür sind, ob die Menschen im Unternehmen sinnvoll miteinander arbeiten und ihre Wirksamkeit nach außen tragen können. Deshalb, und nicht etwa aus Sozialromantik, hat Europace sich dazu entschieden, selbstorganisiert zu werden: „Wir hatten wenig Erfahrung und wussten eigentlich nichts. Aber die Idee davon, dass es keine Chefs mehr gibt, klang erst mal gut.”, erzählt Andreas von den Anfängen. 2016 legte die Hypoport AG als Muttergesellschaft der Hypoport Gruppe, von der Europace ein Teil ist, vier Prinzipien fest, die alle Unternehmen der Gruppe leiten sollen:

1. Wir führen gemeinsam.

2. Wir arbeiten gemeinsam miteinander.

3. Wir lernen und entwickeln uns bewusst weiter.

4. Wir organisieren uns dezentral und autonom.

Wie diese Prinzipien genau zum Leben erweckt werden sollen, war nicht vorgegeben. Etwa ein Jahr lang galt: Tu, was du willst, solange du dem Unternehmen nicht schadest. Alle stellten sich dieselben Fragen: Wie treffen wir Entscheidungen in Gruppen? Wie entwickeln wir im Kreis strategische Themen? Wie sorgen wir für ausgewogene Kommunikation und dafür, dass ungeliebte Aufgaben nicht liegen bleiben? Aber alle lösten sie unterschiedlich.

Im Frühjahr 2018 entschied der Vorstand in Abstimmung mit dem Kreis People & Organisation, sich künftig stärker an der Holakratie-Verfassung auszurichten. „Als wir das auf einer Mitarbeiterveranstaltung verkündeten, gab es heftigen Widerstand.”, sagt Andreas. Für ihn war das fast zu erwarten, denn gemeinsame Regeln bedeuteten wieder stärkere Leitplanken. Das erschien manchen wie ein Rückschritt. Andreas glaubt, dieser kurvenreiche Weg hatte trotzdem seine Vorteile: „Ich glaube nicht, dass für jeden derselbe Weg der richtige ist. Ich finde es deshalb immer noch gut, dass hier viel ausprobiert werden kann und die einzelnen Kreise an unterschiedlichen Stellen ihrer Entwicklung stehen. Auch wenn das ab und an sehr frustrierend ist.” Bei Europace trafen sehr unterschiedliche Menschen und Kulturen aufeinander: Einige, die die Luft anhielten, sobald der Chef das Büro betrat und andere, die seit über zehn Jahren agile Softwareentwicklung in Hawaii-Hemd und Jeans machten. Unter den Schlipsträgern nannte man das damals noch Arbeitsverweigererhosen. Heute sind die Schlipsträger die Exoten. Und nur weil Holacracy als Managementsystem eine Struktur bietet, heißt das nicht, dass Mindset und Kultur im Doppelpack automatisch mitgeliefert werden. Es gibt deshalb viele Ebenen, auf denen Andreas und seine Kreis-Kolleg*innen im Unternehmen Unterstützung bieten. Schulungen zu Persönlichkeitsentwicklung, Angebote zu persönlichem Coaching für jede*n Mitarbeiter*in oder Kommunikationstrainings, beispielsweise in gewaltfreier Kommunikation nach Marshall B. Rosenberg, helfen dabei, das gegenseitige Verständnis zu fördern.

„Hab ich gerade Nein zum Vorstand gesagt?”

Und langsam etabliert sich Stabilität. Es wurden die vier Standard-Rollen der Holakratie-Verfassung übernommen: Lead-Link, Rep-Link, Facilitator und Secretary. Die Kreise haben diese Standardrollen besetzt und wissen, wie sie mithilfe von Governance-Meetings an ihren eigenen Strukturen arbeiten. In Tactical-Meetings, die der Synchronisation dienen, wird die operative Arbeit organisiert. Die Kreise stellen selbst den Bedarf für die Schaffung und Besetzung von Rollen fest und rekrutieren ihre eigenen Mitarbeiter*innen mit Unterstützung vom Kreis People & Organisation. Auftretende Konflikte können durch interne oder externe Coaches begleitet werden.

Wer von außen auf das System guckt, kann den Eindruck gewinnen: Die Kreise, die sich gerade stark mit ihren Strukturen beschäftigen und lernen, sind zum Teil etwas weniger leistungsstark als die, die noch klassischer unterwegs sind. Für Andreas ist das vollkommen normal. Denn wer sich gerade mit dem Innen beschäftigt, kann nicht gleichzeitig genauso intensiv das Außen bearbeiten. Er betrachtet es als Investition in die Zukunft, die Dynamikrobustheit, Innovationskraft und Nachhaltigkeit schafft.

Geteilte Führung

Anderer Kreis, andere Rolle: Volker Kultermann füllt im Kreis Produktentwicklung at Europace (PEP) derzeit die Rolle des Lead-Links aus. Er ist seit 17 Jahren bei Europace — seitdem es die Organisation gibt. Eingestiegen ist er als Programmierer, aufgrund seiner fachlichen Expertise führte er schnell kleinere Teams und Projekte. Später war er Abteilungsleiter für die Produktentwicklung und froh, als Europace entschied, sich von den Silos zu verabschieden und selbstorganisiert zu arbeiten.

Als es darum ging, aus Abteilungen Kreise zu machen, entschied Europace sich, die Teams entlang der Wertschöpfung zu schneiden. Es gibt deshalb nicht mehr die Abteilung Key Account, in der alle Key Accounter zusammensitzen, sondern der entsprechende Key Accounter sitzt mit im PEP-Kreis. Insgesamt sind es etwa 30 Rollen, die im PEP-Kreis liegen, aber nicht als ein großes unübersichtliches Team, sondern aufgeteilt in Unterkreise, die sich je einem Produkt widmen und damit in sich abgeschlossen sind. Mit der Schaffung der Kreisstrukturen schauten sich Volker und seine Kolleg*innen die alten Stellenbeschreibungen der Führungskräfte genau an, um sie in sinnvolle Rollen aufzuteilen: „Da liegen so viele schwer miteinander vereinbare Aufgaben und Verantwortungen in einer Rolle, das kann kaum gut gehen. Eine Führungskraft, die das alles auf einmal exzellent erfüllen soll, ist ein Übermensch.”, sagt Volker. Und davon gibt es bekanntlich nur sehr wenige, oder besser: gar keine. Deshalb haben sie sich dazu entschlossen, die Führung auf mehrere Rollen aufzuteilen und damit auch die Verantwortungen, die bisher in einer Person zusammenliefen.

Die Rolle der formalen Führungskraft heißt People Lead und trägt die Verantwortung für Leistungsfeedback, für Kündigungen und das Festlegen von Gehältern. Sie wird vom vom PEP-Kreis gewählt und muss der Wahl selbst auch zustimmen. Der Vorstand hat ein Veto-Recht. Diese Rolle ist quasi das Überbleibsel der alten disziplinarischen Führungskraft. Eine weitere Führungsrolle ist die Rolle Mentor. Sie ist dafür verantwortlich, eine*n Mitarbeiter*in in seiner oder ihrer beruflichen Entwicklung inhaltlich zu unterstützen. Jedes Kreismitglied wählt sich seinen eigenen Mentor. Der darf auch außerhalb des Kreises sein.

Die Rolle Vertrauensperson ist für die Gesunderhaltung, persönliche Themen und bei Konflikten für den oder die Mitarbeiter*in da. Jedes Kreismitglied wählt sich eine eigene Vertrauensperson, auch die darf außerhalb des Kreises liegen. Die einzige Regel, für die sich Volker stark gemacht hat: Die Rolle People Lead und die Rolle Vertrauensperson sollten nicht in ein und derselben Person liegen. Warum? Weil zu viel Spielraum für schlechte Führung in der Kombination dieser beiden Rollen liegt. Eine Vertrauensperson sollte keinen fertigen Plan für den oder die Mitarbeiter*in haben und nicht im Interesse der Organisation handeln, sondern im Interesse des Mitarbeiters bzw. der Mitarbeiterin. „Eine formale Führungskraft, die gleichzeitig Vertrauensperson oder Coach ist, da schwingt für mich Manipulation mit.”, sagt Volker.

Der Vorteil gegenüber der bisherigen Form von Führung liegt für ihn auch darin, dass ein oder eine Mitarbeiter*in mehrere Führungsrollen hat, von denen er oder sie lernen kann. Vorher war diese Möglichkeit auf die eine Führungskraft limitiert. Es ist wichtig, dass die Ernennung der Führungsrollen durch die Mitarbeiter*innen selbst geschieht: „Die schlechteste Art von Führung ist die, die durch extern verliehene Macht entsteht. Für mich ist Führung etwas, das natürlich entsteht. Der erste, der dir folgt, macht dich zur Führungskraft.”

Wer bei Europace Führungskraft sein möchte, muss sich von Schulterklappen verabschieden. Und auch von Status und Ego. Trotzdem ist es gut, Führungserfahrung zu haben und Talent dafür mitzubringen. Wenn der PEP-Kreis um Volker eine Führungsrolle ausschreibt, ist es bislang noch schwer nach außen zu vermitteln, was die Person erwarten kann. „Personen mit Führungserfahrung sind oft gewohnt, dass sie kommen und dann eben Führungskräfte sind. Bei uns entsteht Führung aber erst nach einiger Zeit durch eine natürliche systemische Ordnung. Ein Lead-Link hat zwar eine gewisse Autorität, aber es ist eben nur eine ausgefüllte Rolle und kein extern verliehener Status, den man für immer behält. Das frustriert dann manche Personen, die aus klassischen Organisationsstrukturen zu uns kommen”, erklärt Volker. Was eine Führungskraft bei Europace gewinnt? Einen abwechslungsreichen Alltag. Kolleg*innen, die Initiative zeigen, Verantwortung übernehmen und gestalten. Entscheidungsprozesse, die nicht nur von oben nach unten, sondern gemeinsam entstehen. Tägliches Lernen und Mitgestalten. Die ständige Weiterentwicklung der Strukturen und der eigenen Potenziale. Und die Sicherheit, die ein Konzern bieten kann.

„Die schlechteste Art von Führung ist die, die durch extern verliehene Macht entsteht. Für mich ist Führung etwas, das natürlich entsteht.”

Volker ist froh über das neue Verständnis von Führung, das sie hier etablieren. Trotzdem ist der Prozess nicht immer leicht, denn der Wandel hat viel mit der persönlichen Reife jedes und jeder Einzelnen zu tun. Selbstorganisation kann auch überfordern und frustrieren: „Entweder Leute nehmen eine steile Lernkurve oder sie verlassen uns. Wer lange so sozialisiert wurde, alle Probleme an die nächsthöhere Instanz zu eskalieren, merkt hier bei uns, dass das nicht mehr geht. Und das fühlt sich natürlich doof an”, sagt Volker. Was die Selbstorganisation fördert, aber auch fordert, ist Eigenverantwortung im Umgang mit Spannungen. Jede*r ist selbst für sein bzw. ihr Problem verantwortlich. Das kann auch dazu führen, dass an manchen Stellen ein Führungsvakuum entsteht, wenn sich keiner für die Konflikte von anderen verantwortlich fühlt. Volker weiß jedenfalls, warum er schon so lange bei Europace dabei ist: “Es fühlt sich eigentlich an, als hätte ich hier mittlerweile vier bis fünf Jobs gemacht. Es ist möglich, sich immer wieder zu verändern und das brauche ich auch.”

Vorstand in der Selbstorganisation

Abwechslung hat auch Stefan Kennerknecht. Auch wenn seine Rolle als Vorstand eher der klassischen Stellenbeschreibung entspricht. Nach dem Aktienrecht kann der Vorstand die Verantwortung für das Unternehmen nicht einfach so abgeben. Diese Verantwortung zu tragen bedeutet auch, ein Risiko einzugehen, also dafür zu haften, dass das Unternehmen eine funktionierende Unternehmenssteuerung hat und regelkonform arbeitet. Seine Verpflichtung ist es, sich ein Bild vom Zustand des Unternehmens zu machen und dieses Bild nach innen und außen zu vertreten. Stefan Kennerknecht ist einer von zwei Vorständen bei Europace. Sein Vorstandskollege Thomas Heiserowski und er teilen das Büro mit den Kolleg*innen, werden geduzt und sind nicht von allen anderen zu unterscheiden, wenn man nicht tiefer in die Strukturen blickt. Weil die Bürowände gläsern sind, sehen sich die Kolleg*innen gegenseitig in ihren Büros. Als vor ein paar Monaten ein neuer Mitarbeiter neben Stefan und Thomas eingezogen war, winkten sie sich morgens von Tisch zu Tisch zu. Ein paar Wochen später begegneten sie sich dann auf dem Flur und gaben sich die Hände: „Wer bist du denn eigentlich?”, fragte der Neue. Ein anderer Kollege stand daneben und lachte: „Das ist dein Vorstand. Dein Ober-Chef”. Stefan freut sich darüber. Bei seinem vorherigen Arbeitgeber, der klassisch hierarchisch organisiert war, waren ihm rund 75 Leute unterstellt. Davon etwa acht Führungskräfte und ein paar Referenten: „Ich habe dort enorm viel Zeit mit Berichtswegen und allem drum und dran verbracht. Trotzdem war das eine wichtige Erfahrung für mich. Heute geht es darum, Verantwortung abzugeben, loszulassen und Vertrauen zu haben. Ich hoffe, irgendwann braucht es mich hier nicht mehr.”

Neben seinen Aufgaben als Vorstand hat Stefan diverse Rollen im Unternehmen. Er ist Lead-Link im Compliance-Kreis, im Kreis Organisationsentwicklung, im Kreis Commission und im General Circle, außerdem People Lead für zehn Personen in der Organisation. Stefan mischt im Employer Branding mit und hat kürzlich eine Lead-Link-Rolle an einen neuen Kollegen abgegeben: „Ich merke an vielen Entwicklungen, wie positiv sich die Entscheidung zur Selbstorganisation auswirkt. Die Menschen wollen die Verantwortung und die Möglichkeit, wirklich mitzugestalten. In einer Organisation wie unserer, in der es um komplexe Probleme geht, würde ich zu hundert Prozent unterschreiben, dass Selbstorganisation die Mitarbeiter glücklicher und das Unternehmen erfolgreicher macht”, sagt er. Trotzdem kennt er einige Menschen im Unternehmen, die froh sind, dass sie sich nach wie vor an ihren People Lead wenden können, wenn sie ein operatives Problem haben. Nicht alle Kreise bei Europace haben die Führungsrollen so aufgeteilt wie der PEP-Kreis. Bei einigen gibt es nur den People Lead und die Holakratie Standard-Rollen. Verantwortung zu tragen kann auch ungewohnt und anstrengend sein. Und wenn die betroffenen Kreise zufrieden mit ihrem Status Quo sind, zwingt sie niemand, sich radikal zu ändern.

Für Stefan selbst war es ein faszinierender Moment, den Kolleg*innen mehr Verantwortung zu übertragen. Wenn er heute mal eine Woche nicht da ist, dann ist das okay. Es fällt nicht mal großartig auf. Den Wandel von klassischer zu selbstorganisierter Führung beschreibt er so: “Du nimmst eine bisher starre Hierarchie und machst sie beweglich. Verantwortung und Entscheidungskompetenzen werden neu an die Menschen im Unternehmen verteilt, die diese Verantwortung tragen wollen und auch können. Unabhängig davon ob sie mal Führungskräfte waren oder nicht. Und dann wartest Du ab und lässt die Leute experimentieren. — So kann etwas vollkommen Neues entstehen.”

Weil sie bei Europace in Teilen schon einen sehr kollegialen Umgang zwischen Chefs bzw. Chefinnen und Mitarbeiter*innen hatten, war die Umstellung von Stellen auf Rollen für Stefan nicht so problematisch: „Ich habe ja nun die vier Streifen am Hemd. Aus meiner Position lässt sich das also leicht sagen. In meinem vorherigen Job hätte mir das schon eher Schwierigkeiten bereitet, vor allem, weil die Kultur dort nicht zugelassen hätte, die Macht abzugeben.“

Dazu gehört auch, Feedback von allen zu bekommen, die welches anbieten. Früher hat Stefan das in seinen Führungspositionen vor allem verteilt. Heute tauscht er sich mit seinem Vorstandskollegen Thomas aus, bekommt Feedback vom Aufsichtsrat und natürlich von den Kolleg*innen aus den Kreisen. Wie z.B. von Anna, wenn er mal wieder eine Idee fürs Marketing hat. Und das ist gut so.

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