Machtmomente

Unser Verhältnis zur Macht verändert sich, je nachdem in welchem Kontext wir ihr begegnen. Drei Machtgeschichten.

Neue Narrative
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5 min readSep 12, 2018

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Von Lena Marbacher

Illustration: Moritz Wienert

Macht ist überall. Sie begegnet mir in jeder Beziehung, die ich habe: zum Verkäufer im Supermarkt, zur Kollegin im Büro, zum Auftraggeber, zu meinem Hund. Und diese Machtverhältnisse unterliegen einem steten Wandel. Auf Dominanz zu verzichten, hat nicht nur in der Hundeerziehung faszinierende Ergebnisse. Eine Einladung zur Kooperation ist oft mächtiger als Zuckerbrot und Peitsche. Der Peitschenschwinger ist hinter vorgehaltener Hand meist doch nur der, der das Futter bringt.

Was Macht ist, zeigt sich für mich am besten in Geschichten. Von Mächtigen und Macht-Empfängern. Von Hackordnungen und Partnerschaften. Es folgen drei kleine Anekdoten aus meiner Biografie, die für mich viel darüber sagen, wie unterschiedlich Macht aussehen kann.

Die Drohung

Ich befinde mich auf dem Schulhof und bin etwa 9 Jahre alt. Es klingelt zur nächsten Stunde, die große Pause ist vorbei. Meine Klassenkameraden und ich beginnen in Richtung Schulgebäude zu strömen. Zu dieser Zeit bewegten wir uns nur rennend vorwärts. Unser Klassenlehrer steht in der Tür zum Treppenhaus, hält sie auf und wartet auf uns. Ein tägliches Ritual, bei dem er besondere Freude daran hat, die rennenden Mädchen mit den Armen einzufangen und kurz an sich zu drücken. Ich hasse das. Auch wenn ich diesem Mann keine Vorwürfe machen möchte, ich fühle eine Grenze überschritten und versuche, es abzuwenden. Dazu kommt, dass er an irgendeiner Krankheit leidet, wegen der er fürchterlich schwitzt. Ich verabscheue seine Umarmungen und seinen schwitzenden Körper. Und ich finde, es steht ihm verdammt noch mal nicht zu, alle wie er will in den Arm zu nehmen. Ich hätte ihn gern eingetauscht. Und er mich auch.

Ich erinnere mich nicht daran, was ich tat, um ihm das Leben schwer zu machen, aber offensichtlich tat ich es. In meinem Zeugnis stand: „Lena ist ein sehr impulsives Mädchen und neigt zur Schwatzhaftigkeit.“ Das klingt für mich heute noch gut. Damals musste ich meine Mutter fragen, was impulsiv bedeutet. Sie lachte. Kurze Zeit später schlug mein Lehrer vor, dass ich vielleicht besser in eine andere Klasse wechseln sollte. Ich wurde des Öfteren vor die Tür geschickt, weil ich zu mitteilungsbedürftig war. Vor der Tür war es aber auch nicht schlecht, dort konnte man wunderbar aus dem Fenster in die Sonne gucken. Meine Mutter nahm mich mit auf einen Spaziergang und sagte mir, sie könne mich verstehen, aber ich müsse wohl ein bisschen netter zu meinem Lehrer sein, wenn ich in der Klasse bleiben wolle. Ich hatte ihr nie von den Umarmungen erzählt.

Ich blieb und es fühlte sich gut an zu wissen, dass mein Lehrer sich offenbar nicht in der Lage sah, mir anderweitig Herr zu werden, als zu drohen, mich aus der Klasse zu werfen. Seine Machtdemonstration wirkte ohnmächtig, aber sie wirkte. Ich leistete seiner Drohung Folge, doch es fühlte sich nicht wie eine Niederlage an. Seine Grenzüberschreitung und der Machtmissbrauch hatten mich dazu gebracht, mich zu ermächtigen und gegen ihn zu stellen. Er nahm mich nie wieder in den Arm. Ich stand noch ab und zu vor der Klassentür.

Das Experiment

Das Team sitzt müde im Büro und spricht über den Verlauf eines abgeschlossenen Projekts, das ich leitete. Ich bin Angestellte und Ende zwanzig. Meine Kollegen, ich und mein damaliger Chef erzählen nacheinander von unserer jeweiligen Perspektive auf das Projekt, in dieser Reihenfolge. Das stellt niemand in Frage, das ist immer so. Jeden Morgen bei unserem täglichen Update-Meeting, läutet der Chef das Gespräch ein und spricht als Letzter. Als ich das einmal anspreche, ist die Antwort, er habe ja auch am meisten zu sagen. Mächtig ist, wer gehört wird. Und wenn niemand freiwillig zuhört, dann entscheidet die Hierarchie, dass alle zuzuhören haben. Ist das Macht?

Illustration: Moritz Wienert

Wir sitzen also in unserem Meeting und mein Chef spricht. Nach einem durchaus positiven Feedback zum Projektverlauf und zu meiner Arbeit, kommt ein entscheidender Satz, den ich mir bis heute gemerkt habe und der einen Wendepunkt in der Zusammenarbeit mit meinem ehemaligen Chef markierte: „Für mich war das ja auch ein Experiment, ob du das hinkriegst. Das wollte ich mal sehen, viel weniger wichtig war, ob das jetzt ein Erfolg wird oder nicht.“ Diese Aussage hat etwas mit mir gemacht, so harmlos sie da jetzt steht und mich an die Situation erinnert. In mir entstand ein fader Beigeschmack. Einer meiner Kollegen reagierte sofort und erwiderte, „Das geht gar nicht. Du kannst doch nicht Experimente mit deinen Mitarbeitern machen!“ Mein Chef ruderte zurück. „Vielleicht ist Experiment das falsche Wort.“

Das machte es nur unwesentlich besser. Denn was ich bisher für volles Vertrauen gehalten hatte, offenbarte sich plötzlich als Skepsis. Worin ich eine reale, ernstzunehmende Aufgabe sah, war tatsächlich ein Labor und ich Teil eines Versuchs. Die Filmszene, als Truman Burbank gegen die Wand des Filmstudios stößt, geht mir durch den Kopf. Ich fühle mich wie der letzte Trottel. Ich habe schon oft meine Fähigkeiten unter Beweis stellen müssen, das ist nicht mein Problem. Was sich so falsch anfühlt, ist, dass ich erst im Nachhinein gesagt bekommen habe, dass es ein Test ist. Das sage ich ihm. Er nimmt es an — und ändert nichts. Damals habe ich beschlossen, nie wieder jemandes Versuchskaninchen zu sein.

Der Sinn

Ich beschreibe einen Post-it und klebe ihn auf das Whiteboard. Darauf steht „Magazin für Neues Arbeiten“. Es ist Ende Oktober 2016 und wir sind auf „Worcation“. Ein Format im Grünen, das wir zwei Monate zuvor ins Leben gerufen hatten. 16 Menschen verbringen drei Tage an einem schönen Ort auf dem Land, kochen und arbeiten gemeinsam. Die Agenda des Tages ergibt sich aus den Vorschlägen am Whiteboard. Mein Post-it ist einer davon. Melden sich Freiwillige dazu, findet die Session statt. Zwei Personen heben die Hände — eine Idee gewinnt ihre Mitstreiter. Zur Anschauung, was ich mir darunter vorstelle, habe ich einen Prototypen mitgebracht. Eine lose Blattsammlung mit ersten Gedanken, zusammengehalten durch eine Klammer.

Unser Whiteboard füllt sich schnell mit weiteren Ideen, der Zeitplan wird festgelegt. Im Dezember wird der nächste Prototyp in kleiner Auflage gedruckt. Innerhalb von sechs Wochen schreiben, gestalten und produzieren wir Inhalte. Ich schiebe am Rechner die 72 Seiten mit Artikeln, Tools und Bilderreihen der Kollegen in eine lesbare Reihenfolge, gestalte ein Poster zur Beilage. Bis Januar bauen wir eine simple Landingpage und drehen mit dem Handy ein kleines Video. Dann bringen wir die 150 Magazine unter die Leute und bitten um Feedback. Weil das sehr gut ausfällt, beschließen wir, Geld und Mittel aufzutreiben, um ernst zu machen.

Macht kommt von machen. Hätten wir nicht einfach losgelegt und hätte ich die anderen nicht gefragt und durch meinen Vorschlag inspiriert, gäbe es kein Magazin. Eine kleine Idee kann, in die Tat umgesetzt, unheimliche Energie entfalten. Und dazu führen, dass es auf einmal ein Magazin für Neues Arbeiten gibt. Du liest schließlich gerade darin.

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