Mit gepfeffertem Feedback, aber ohne viel Gebrüll

In der Gastronomie wird gebrüllt. Entschieden wird autokratisch von oben nach unten. Jeder Fehler wird kommentiert. Sind das alles nur Vorurteile? Jein. Ein Besuch beim Berliner Speiselokal Nobelhart & Schmutzig.

Neue Narrative
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9 min readJan 16, 2019

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Von Lena Marbacher und Lisa Baier

Das Team des Nobelhart & Schmutzig (Foto: Marko Seifert)

Google ist eine gefährliche Maschine. Tippt man den Namen Nobelhart & Schmutzig ein, werden viele Artikel, Interviews und tausende Kommentare von unterschiedlichen Social Media Plattformen angezeigt. Das verzerrte Bild, das sich aus diesen Fetzen zusammensetzt, zeichnet vor allem den extravaganten, extrovertierten, provokanten Restaurantbesitzer Billy Wagner, der ein Schild an seiner Restauranttür anbringt, auf dem die Buchstaben AfD durchgestrichen sind, der eine brutal regionale Küche proklamiert und weibliche Geschlechtsteile in Karamell abgießt, um sie seinen Gästen als Wegzehrung mitzugeben.

Wer sich lieber sein eigenes Bild machen möchte, besucht das Nobelhart & Schmutzig in der Friedrichstraße in Berlin und trifft einen sensiblen, energiegeladenen, ehrlichen Mann mit Schnauzbart und schwarzer Kappe: Billy Wagner. Keinen egoistischen Showmaster. Und keinen provokanten Arsch.

Er fragt gar nicht erst, was für ein Kaffee es sein soll, denn er weiß, was schmeckt. An einem heißen Tag wie diesem serviert er Cold Brew, und zwar in viereckigen, schweren Gläsern. Im Nobelhart & Schmutzig Gast zu sein heißt auch, darauf zu vertrauen, dass das Servierte durch viele erfahrene und geschulte Gaumen erprobt ist und genauso auf den Tisch kommt, wie es sein soll. „Wir servieren bewusst weder Milch noch Zucker zum Kaffee. Das braucht man eh nur, wenn der Kaffee scheiße schmeckt“, sagt Billy.

Im Nobelhart & Schmutzig wird kuratiert. Auf der Karte gibt es nur ein Menü, das genauso und nicht anders auf dem Teller des Gastes ankommen soll. Das ganze Team in der Küche arbeitet daran, dass alle Elemente eines Gerichtes ideal aufeinander abgestimmt sind. Natürlich nimmt das Team Rücksicht, wenn jemand keinen Fisch essen möchte, oder vegetarisch, vegan, ohne Laktose, Haselnüsse, ohne Apfel, Sellerie, ohne Gluten, ohne Krustentiere, ohne Austern, ohne Zucker oder ohne Pilze. Eigentlich gerne auf alles. Trotzdem ist es hier bewusst der Standard, sich in die vertrauensvollen Hände des Teams zu begeben. Loslassen und führen lassen ist die Losung: sowohl im Hinblick auf Gewohnheiten als auch auf Erwartungen. Das betrifft ebenfalls die Getränkebegleitung, die so heißt, weil sie eben keine normale Weinbegleitung ist. Es gibt auch mal einen edlen Schnaps, Tee oder Ayran.

Billy Wagner und Micha Schäfer (Foto: Marko Seifert)

Dass sich die Auswahl der Getränke am Essen statt am Gast orientiert, klingt vielleicht erstmal ungewöhnlich in Zeiten, in denen Unternehmen in Design-Thinking-Workshops lernen, aus der Perspektive des Nutzers zu denken — und ist doch genau das, worum es geht. Ein Gast im Nobelhart & Schmutzig kommt, um mit allen Sinnen die gut durchdachte Komposition aus Essen, Getränken, Raum, Sitzplatz, Geselligkeit und guten Gesprächen zu erleben, für die die Gastgeber den Raum erschaffen haben. Wer im Winter zum Rauchen nach draußen geht, bekommt einen dafür angefertigten warmen Umhang über die Schultern gelegt, im Bad gibt es Seife, die die Gewürze der Wurst „Roter Presssack“ enthält, kurz: Die Macher*innen vom Nobelhart & Schmutzig wissen, was sie wollen, und das wissen sie besser als der Kunde. Ja, teilweise wirkt es fast so, als würden sie ihre Kunden erziehen.

Nur wer aktiv nachfragt, kann von der kuratierten Komposition abweichen. Es kommt beispielsweise häufiger vor, dass ein Gast lieber einen anderen Wein hätte als den zum Essen empfohlenen. Dann stellen Billy und seine Kolleg*innen dem Gast folgende Frage: Sollen die Getränke Ihr Essen begleiten, oder aber Sie? Beides ist möglich und vollkommen legitim. Häufig hat der Gast allerdings keine Ahnung, was gut zusammen geht: „Ob ein Wein zum Essen passt, merkt man erst, wenn man das Essen im Mund hat und dann einen Schluck davon dazu nimmt. Nicht nacheinander. Das kann man mal ausprobieren und dann merkt man, wie viele Weine eben nicht zum Essen passen“, sagt Billy. Will ein Gast dennoch einen Rotwein trinken, wird ihm dieser natürlich nicht verwehrt — auch wenn eigentlich angedacht ist, sich von der ans Menü angelehnten Getränkebegleitung überraschen zu lassen.

Wir müssen Fehler sofort ansprechen, denn die könnten an dem Abend ja noch 100 Mal passieren. Da wird nicht gebrüllt, aber es ist auch keine Zeit für Bitte und Danke.

Weil sie viele Dinge anders machen, als man sie in der Ausbildung beigebracht bekommt, müssen die Mitarbeiter*innen im Nobelhart & Schmutzig unfassbar viele Details lernen. Fehler passieren dabei zwangsläufig. Direkte Kritik gehört deshalb zum Alltag in der Küche. „Wir müssen Fehler sofort ansprechen, denn die könnten an dem Abend ja noch 100 Mal passieren. Da wird nicht gebrüllt, aber es ist auch keine Zeit für Bitte und Danke. Und der Fehler darf auch 15 Mal passieren, aber er muss jedes Mal angesprochen werden. Wie soll der andere das denn sonst lernen?“, erklärt Billy. Genauso erwartet er, dass man ihm sagt, wenn er Mist gebaut hat. Neulich hat er vergessen, Juliane rechtzeitig mitzuteilen, dass ein Kollege aus dem Service krank ist. „Das wird mir dann auf jeden Fall gesagt, dass ich viel zu spät Bescheid gegeben habe, und so muss es auch sein.“ Früher, das gibt er zu, hat er selbst öfter mal geschrien. Mittlerweile kommt das nur noch selten vor, und jedes Mal ärgert er sich darüber. Billy weiß, dass er sich bewusst Ventile suchen muss, an denen er den Stress der Arbeitstage rauslassen kann. Wenn er sich selbst besser organisiert, merkt er an, kann er die Balance halten und ist ausgeglichener. Auch das Alter und seine Frau Inga, die von Beruf Psychotherapeutin ist und ihm persönliches Feedback gibt, haben ihn schon viel ruhiger gemacht. Luft nach oben ist auf jeden Fall noch, und die wird er nicht ungenutzt lassen.

Chefkoch Micha Schäfer entspricht nicht dem Klischee des cholerischen Egomanen. Er wirkt ruhig, konzentriert und bestimmt. Warum in der Gastronomie häufig so katastrophal und unmenschlich geführt wird, erklärt er so: „Normalerweise ist eine Küche ein Ort, wo jemand führt, der eine Kochausbildung hat und sonst nichts. Der in seinem Arbeitsumfeld überfordert ist, sowohl körperlich als auch durch den Mangel in der Ausbildung und von den täglichen Herausforderungen, die auf ihn zukommen. Der schlecht bezahltes, unerfahrenes Personal hat. Das führt zu Frust auf allen Seiten, zu cholerischem Führungsverhalten und zu ständigem Wechsel im Team. Was wiederum mehr Arbeit zur Folge hat und erneut zu Frustration führt, die sich abermals an den Mitarbeitern entlädt.“ Mit dem Nobelhart & Schmutzig wollten sie es anders machen — und einen Ort schaffen, an dem alle gerne sind. So geben sich Micha und Billy Mühe, das Team möglichst lange zu halten, bieten eine überdurchschnittliche Bezahlung und einen Arbeitsplatz der besonderen Art: Denn gekocht wird hier nicht hinter verschlossenen Türen, sondern auf einer Fläche von rund 40 Quadratmetern direkt vor den Augen der Gäste. Es gibt auch keine Tische wie im klassischen Restaurant, stattdessen eine lange u-förmige Theke um die Küche herum. Die Speisen werden oft direkt von den Köch*innen persönlich serviert. Transparenz heißt hier auch, dass der Gast alles mitbekommt, was geschieht: Fehler, Umgangston und die Zubereitung der Gänge. Für Micha ist deshalb das Herausforderndste nicht der Umgang im Team, die Kolleg*innen kennen sich ja untereinander, sondern der Umgang mit den 40 fremden Menschen, die Abend für Abend um sie herum sitzen. Sicherlich ist das ein Umstand, den man mögen muss — aber der das Nobelhart & Schmutzig zu dem besonderen Ort macht, den Micha und Billy im Sinn hatten.

Micha Schäfer und Kolleg*innen (Foto: Marko Seifert)

Das Verhältnis von Arbeit und Freizeit ist für Billy und seine Mitarbeiter*innen ein weiteres wichtiges Thema. So hat das Restaurant nur fünf Tage in der Woche geöffnet und zwei Tage hintereinander geschlossen. Im Sommer bleibt es vier Wochen am Stück zu, im Winter nochmal zwei. Wenn die Restaurantleiterin Juliane Winkler ihren Arbeitstag um 13:30 Uhr beginnt, obwohl sie eigentlich erst um 15:00 Uhr anfangen müsste, weist Billy sie darauf hin. „Ich finde das nicht gut, weil sie die anderthalb Stunden vorher in der Sonne liegen sollte. Und wenn im Restaurant was liegen bleibt deswegen, dann ist das eben so, das kriegen wir dann schon geregelt. Es ist wichtig, dass hier alle genug Freizeit haben. Denn wenn die Leute sich ihre private Zeit nicht nehmen, dann wirkt sich das auch auf’s Restaurant aus“, sagt er. Bei der letzten Mitarbeiterbefragung hat sich außerdem abgezeichnet, dass sich das Team eine Vier-Tage-Woche wünscht. Das wäre ein großer Schritt für das Unternehmen. „Das kann man leicht ausrechnen. Wir haben rund 10 Monate geöffnet. Das sind 42 Wochen. Streich da mal 42 Arbeitstage. Das ist schon viel. Aber vielleicht ist es möglich, das wenigstens im Sommer zu machen“, sagt Billy. Natürlich ist so ein Wunsch also nicht im Handumdrehen erfüllt, aber Billy denkt darüber nach, wie ein Anfang aussehen könnte.

Auch, wenn sich jede*r Mitarbeiter*in mit eigenen Ideen und Wünschen einbringen kann, gibt es im Nobelhart & Schmutzig klare Hierarchien. Das Restaurant ist eine Kommanditgesellschaft (KG) und Billy der Kommanditist des Unternehmens. Er haftet persönlich und mit seinem Privatvermögen, wenn das Restaurant misswirtschaftet. Operativ beschreibt er seine Aufgaben so: „Micha macht die Gäste satt und ich sorge dafür, dass Gäste da sind.“ Es gibt das Küchen-Team, in dem Micha das Sagen hat, und das Service-Team, das von Juliane angeleitet wird. Für ihren jeweiligen Bereich treffen beide die Personalentscheidungen und sind Ansprechpartner*in für das gesamte Team. Besonders während der fünf Stunden hektischen Abendbetriebs ist es für alle Mitarbeiter*innen wichtig zu wissen, an wen sie sich auf die Schnelle wenden können.

Es ist wichtig, dass hier alle genug Freizeit haben. Denn wenn die Leute sich ihre private Zeit nicht nehmen, dann wirkt sich das auch auf’s Restaurant aus.

Aber es ist nicht in erster Linie das ausgewogene Verhältnis von Arbeit und Freizeit, was das Team vom Nobelhart & Schmutzig verbindet. Es ist der Sinn und Zweck, der dem Restaurant die Richtung gibt und für den es steht: eine landwirtschaftlich orientierte Gastronomie. Brutal lokal nennen sie ihr Motto. Auf den Teller kommt, was qualitativ hochwertig zu dieser Jahreszeit in der Region verfügbar ist. Sie kennen jeden Menschen und Acker hinter ihren Produkten. Für Micha ist diese vermeintliche Einschränkung die Herausforderung, die er braucht, um immer wieder kreativ zu sein. Damit hat er dem jungen Restaurant innerhalb eines Jahres einen Stern erkocht: „Brutal lokal ist für mich der Weg, darüber nachzudenken, was eigentlich gut ist, was ich eigentlich im Leben will, und welche Projekte und Wirtschaftsunternehmen ich mit meinem Geld unterstütze“, sagt er. Billy geht es auch um ein gesellschaftliches Statement, die regionale Esskultur ernst zu nehmen und den Menschen eine Idee davon zu geben: Wie schmeckt eigentlich Berlin und die Region drum herum?

(Foto: Marko Seifert)

Und auch andere Aktionen, mit denen sie sogar Schlagzeilen gemacht haben, sind für viele Kolleg*innen motivierend, im Nobelhart & Schmutzig und keinem anderen x-beliebigen Restaurant zu arbeiten. Denn dort haben sie eine klare Haltung zu gesellschaftlichen Themen und es gibt immer einen Purpose dahinter. Da wäre das Keine-AfD-Schild, das Billy zu den anderen Verbotsschildern an die Tür des Restaurants geklebt hat: „Wir haben uns bewusst dazu entschieden, Menschen auszugrenzen, die Menschen ausgrenzen“, sagt er. Oder die Vulven aus gereifter Butter, Zucker und Kamille, die die Gäste für den Heimweg als Wegzehrung mitbekommen. Der Besuch einer Ausstellung und die Auseinandersetzung mit dem Künstler*innenkollektiv Vulvae haben Billy dazu inspiriert, dem Thema im Schaufenster des Restaurants Raum zu geben. Im Team haben sie dann darüber diskutiert und sich überlegt, was sie selbst zum gesellschaftlichen Diskurs um das weibliche Geschlecht beitragen wollen: „Hier kommen jeden Abend so viele Menschen unterschiedlichster Couleur zu Besuch, die eben nicht Teil der Filterblase Feminismus sind. Wir tragen damit einen kleinen Teil dazu bei, das Thema über den Tellerrand der Gäste hinaus zu tragen“, sagt Billy. Jeder Gast bekommt bei der Mantelübergabe seine Vulva, dezent verpackt in einem kleinen Karton, der mit einem erklärenden Text bedruckt ist. Jeder kann sich selbst und allein damit auseinandersetzen. Und davon kosten.

Wir haben uns bewusst dazu entschieden, Menschen auszugrenzen, die Menschen ausgrenzen.

Das Besondere an diesem Restaurant ist, dass Billy und sein Team einen Ort innerhalb der Gastronomie geschaffen haben, an dem es überhaupt erst möglich wurde, sich Gedanken darüber zu machen, was man tut und warum man es tut: wie man führt, was regionale Küche und Nachhaltigkeit in aller Konsequenz bedeuten, warum sie sich als Gastgeber ihre Gäste aussuchen wollen und auch, was es heißt, in unserer Gesellschaft zum weiblichen Geschlecht zu gehören. Das „Speiselokal“, wie es an der Tür heißt, lässt sich nicht auf das ausgezeichnete Essen reduzieren. Vielmehr erweitern hier alle gemeinsam, und zwar nicht nur kulinarisch, ihren Horizont. Billy hat, wie er selbst sagt, noch nicht die passenden Worte dafür gefunden, aber er will seine Gäste, Mitarbeiter*innen und sich selbst mit diesem Konzept „auf eine bestimmte Art und Weise zu besseren Menschen machen“. Und das klingt ganz und gar nicht heroisch oder provokativ, wie das der Eindruck aus den Social Media-Fetzen vermittelt — nein, das klingt nach einem Mann, der mit seinem Unternehmen Verantwortung übernehmen will.

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