Sie werden schon nicht vom Stuhl fallen

Prof. Dr. Ingo Fietze erforscht an der Berliner Charité unsere wichtigste Pause: den Schlaf. Wir haben ihn gefragt, wieso der Schlaf viel zu wenig beachtet wird, welche Schuld Unternehmen daran tragen und welche Strategien es gibt, sich effizient auszuruhen, wenn kein Bett in der Nähe ist.

Neue Narrative
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8 min readMar 19, 2019

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Interview mit Prof. Dr. Ingo Fietze, von Lisa Baier und Anja-Simone Michalski

Foto: ILLING & VOSSBECK

Herr Prof. Fietze, Ihrer Meinung nach wird mit dem Schlaf zu sorglos umgegangen. Weshalb ist das so?

Gegenfrage: Warum ist das in Asien nicht so? Letztlich ist es eine Erziehungsfrage, denke ich. In Asien werden Kinder damit groß, dass schlafen normal ist. Auf der Straße, in der Schule, in der U-Bahn, überall wird geschlafen und genapped. Bei uns hingegen hat Schlaf ein schlechtes Image, genauso wie Schlaftabletten. Und so ein Image hält sich, das ist sehr zäh. Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite stehen wir vor der Herausforderung, dass wir in unserer wachen Zeit immer mehr machen wollen: online sein, Kinder, Beruf, Haushalt. Dann versucht man, irgendwie aus der Mühle herauszukommen, und spart am Schlaf, weil man denkt, das sei die einzige Reserve, die man noch hat. Und das ist nicht gut.

Wie lange sollte man denn schlafen? Und wann ist Schlaf am erholsamsten?

Wenn man gesund leben will, weiß man ja, dass man sich gesund ernähren und am Tag 10.000 Schritte oder was weiß ich noch alles machen soll. Wenn man ein Gesundheitsfanatiker ist, dann müsste man auch jeden Tag 7 bis 7,5 Stunden schlafen. Das gilt für jede Person, egal welchen Alters. Schlaf ist dann erholsam, wenn wir morgens aufstehen und der Meinung sind, wir fühlen uns fit. Die wichtigste Schlafphase umfasst aber schon die ersten vier Stunden, weil wir da viel im Tiefschlaf sind. Man könnte nach vier Stunden aufstehen und arbeiten gehen, aber dann würde man schneller wieder müde werden und müsste sich wieder für vier Stunden schlafen legen.

So lange der Chef nicht sagt: “So, hier darf man den Kopf zwischendurch auf die Tastatur legen”, so lange wird sich wenig bewegen.

Woran liegt es, dass so viele Menschen dem eigenen Schlaf zu wenig Priorität einräumen?

Eine Journalistin erzählte mir mal, sie schläft jede Nacht 8 bis 8,5 Stunden, traut sich aber nicht, das jemandem zu sagen. Das ist traurig. Was wir letztendlich wahrscheinlich brauchen, ist ein Vorreiter, wie bei allem im Leben. Irgendeinen Prominenten, einen Künstler, Politiker oder so, der sagt: „Ich schlafe jede Nacht acht Stunden und damit bin ich fit.“ Es gibt solche Menschen ja schon, aber nicht in Europa bzw. Deutschland. Menschen, die da eine Philosophie draus machen und das wirklich auch im eigenen Betrieb umsetzen. Wahrscheinlich brauchen wir genau diese Initialzündung, um ein bisschen mehr zu erreichen.

Inwiefern ist die Gestaltung vieler Arbeitsplätze denn daran schuld, dass der Schlaf zu Hause bleiben muss?

Wenn ich in einem Betrieb einen Vortrag über Powernapping halte, klatschen hinterher immer alle. Aber da sitzen in der Regel keine Entscheidungsträger, zwar die gesamte übrige Belegschaft, aber die Führungsriege arbeitet weiter und ignoriert das. So lange der Chef nicht sagt: „So, hier darf man den Kopf zwischendurch auf die Tastatur legen“, so lange wird sich wenig bewegen. Letztlich wäre das eine vollkommen kostenlose Maßnahme, aber keiner führt sie ein.

Sie fordern das Recht auf ein Nickerchen am Arbeitsplatz. In südeuropäischen Ländern gibt es ja die Siesta, aber das scheint mir weit entfernt von unserer Kultur hier. Glauben Sie, Ihre Forderung ist realistisch?

Eine Siesta ist ja ein richtiger Mittagsschlaf von etwa 1,5 Stunden. Ein Nickerchen von 10 bis 20 Minuten direkt am Arbeitsplatz hat damit erst einmal nichts zu tun. Würde man richtige Betten am Arbeitsplatz bereitstellen, so liefe man Gefahr, dass die Angestellten für ein bis zwei Stunden richtig tief schlafen. Das würde zwar theoretisch auch gehen, aber wir wollen ja nicht gleich ins Mittelalter zurück. Und wenn ich mir anschaue, dass wir uns in Deutschland schon schwer damit tun, den Unterrichtsbeginn in der Schule eine halbe Stunde nach hinten zu verschieben, erscheint mir so eine Mittagspause mit Mittagsschlaf auch unrealistisch. Meine Forderung vom kleinen Nickerchen hingegen ist absolut machbar und im Vergleich zur zehnten Tasse Kaffee, zur zehnten Zigarette oder zum schweren Schnitzel auch deutlich gesünder.

Mach es, wenn du müde wirst, und nicht nach geregelten Zeiten.

Wäre aber Ihre Forderung nicht fast gefährlicher für die Gesundheit? Ich denke dabei an die arbeitswütigen Menschen, die schon jetzt langfristig auf bi- oder polyphasische Schlafstrategien zurückgreifen.

Die Gefahr, dass Leute gezielt auf das Nickerchen am Arbeitsplatz ausweichen, anstatt nachts richtig zu schlafen, sehe ich nicht. Denn man kann nicht sagen: „Ich werde heute fünf Nickerchen machen, um mein Schlafdefizit auszugleichen.“ Das lässt sich nicht provozieren, sondern geht nur, wenn ich müde bin. Müde wird man bei einem normalen Schlaf-wach-Rhythmus zwischen 9 und 10 Uhr, zwischen 12 und 14 Uhr und zwischen 16 und 18 Uhr. Deswegen heißt es auch „Nickerchen am Arbeitsplatz“: Mach es, wenn du müde wirst, und nicht nach geregelten Zeiten. Man kann natürlich seinen Körper trainieren und darauf achten, zu welchen Zeiten die Müdigkeit kommt, aber man kann nicht sagen: „So, jetzt hab ich Zeit, jetzt nicke ich kurz ein.“

Kann man denn vor- oder nachschlafen?

Vorschlafen geht für die Nacht: Wenn man vor der Nachtschicht schläft, dann ist die Nacht leichter durchzuhalten. Und nachschlafen kann man am Wochenende. Das ist genauso gesund, wie wenn man jeden Tag 7 bis 7,5 Stunden schläft. Am Ende der Woche sollte man 50 Stunden geschlafen haben.

Und als Nächstes muss man begreifen, dass schlafen nichts mit hinlegen zu tun haben muss.

Wie kann ich das Nickerchenmachen trainieren? Das ist ja keine gängige Praxis und deswegen vielleicht erst einmal befremdlich, einfach so den Kopf auf die Tastatur zu legen …

Das hat zunächst einmal etwas mit Bewusstwerdung zu tun: Man sollte begreifen, dass man alle 1,5 Stunden müde wird, das merkt man vielleicht nicht sofort, aber alle drei bis vier Stunden macht es sich bemerkbar. Also sollte man an erster Stelle lernen, wann man seine Müdigkeitsphasen hat. Wenn einem die Augen verschwimmen vor dem Computer, dann nicht aufstehen und sich den nächsten Kaffee holen, sondern einfach mal die Augen geschlossen halten und sehen, was passiert. Sie werden schon nicht vom Stuhl fallen.

Und als Nächstes muss man begreifen, dass schlafen nichts mit hinlegen zu tun haben muss. Das ist so ein Vorurteil in Deutschland. Wer in den Zug steigt oder als Beifahrer im Auto mitfährt, kennt das: Sobald man anrollt, fallen einem die Augen zu, weil man selbst keine Verantwortung fürs Fahren trägt und die Monotonie einen müde macht. Den ganzen Tag auf den Bildschirm zu schauen, ist ebenfalls sehr monoton. Wenn ich mehr körperlich arbeite, dann ist wahrscheinlich die Essenspause wichtiger als die geistige Erholung.

Halten Sie selber Nickerchen vor Ihrem Rechner?

Ja. Am späten Nachmittag werde ich müde.

Sie geben Präventionsseminare, sogenannte Mitarbeiterschulungen für Unternehmen zum gesunden Schlaf-wach-Verhalten. Was lehren sie dort?

Über die Schlafakademie Berlin geben wir solche Seminare für gesunde wie auch gestörte Schläfer, was einen großen Unterschied macht. Sobald wir in Betriebe gehen, sitzen da nicht nur schlafgestörte, sondern auch schlafgesunde Menschen. Letztendlich wird dann besprochen, was man alles falsch machen kann mit seinem Schlaf. Schlaf kann man nicht intensivieren, man kann ihn nicht besser machen, aber man kann eben kommunizieren, worauf man achten sollte: Schlafzeit und -länge, den richtigen Schlafkomfort, was man abends essen muss und nicht trinken sollte. Tipps dazu kann man überall nachlesen, zum Beispiel in meinen Büchern oder denen anderer Autor*innen oder im Internet.

Forschen Sie in den Betrieben auch über einen längeren Zeitraum hinweg dazu, wie sich der Schlaf der Mitarbeiter*innen entwickelt?

Dafür wird leider noch kein Geld ausgegeben. Es gibt Gesundheitstage in Betrieben, an denen wir dann eine Schulung anbieten, sehr selten sind es mehrere. Und auch in diesen Fällen läuft derselbe Kurs nur mehrmals ab, weil es für eine Sitzung zu viele Mitarbeiter wären. Es hält sich alles noch in Grenzen, aber wir merken, dass Unternehmen zunehmend das Thema Schlaf entdecken. Zu den anderen zwei wichtigen Präventionssäulen Ernährung und Fitness macht man schon viel, da ist auch langsam die Luft raus, jetzt kommt der Schlaf.

Aber der Schlaf ist noch lange nicht da, wo er sein sollte. Das Thema ist noch lange nicht bei der Politik, bei Krankenkassen, öffentlichen Institutionen oder anderen Entscheidungsträgern angekommen. Zwar gibt es ein Präventionsgesetz zur Gesundheitsförderung in Deutschland, für das Millionen ausgegeben werden, aber da steht Schlaf gar nicht drin. Gemeinsam mit der Initiative „Deutschland schläft gesund“ ist eines unserer Ziele, dass wir Schlaf in dieses Präventionsgesetz bringen, damit die Krankenkassen für das Thema Schlaf überhaupt Geld ausgeben können. In das Gesetz aufgenommen zu werden, ist ein langer Prozess, auch weil wir bisher nur eine kleine Gruppe von Menschen sind, die dafür kämpfen: Ärzte, Experten und ähnliche Verfechter. Es gibt Massen von Schlafgestörten, aber was uns trotzdem fehlt, ist eine geeinte Patientenstimme, eine Betroffenenbewegung, die wahrscheinlich viel besser wahrgenommen würde.

Es gibt nicht eine App, die sinnvoll die einzelnen Schlafphasen erfassen kann.

Und was raten Sie Schichtarbeitern?

Wenn Sie mich so fragen: aufhören mit der Schichtarbeit. Das ist ungesund, kann man aber so auch wieder nicht kommunizieren, weil wir ja noch Menschen brauchen, die Tag und Nacht arbeiten. Aber eigentlich ist das schon Körperverletzung. Wenn man Schichtarbeiter befragt, sagen in der Regel 7080 Prozent: „Ja, ich kenne Müdigkeit und Schlafstörungen und irgendwie versuche ich, damit umzugehen, weil mein Job mir wichtig ist, und irgendwie muss ich ja meine Familie ernähren.“ Ja, was soll man dazu sagen?

Ich helfe Schichtarbeitern dann schon dabei, wie sie tagsüber am besten schlafen können. Aber Schichtarbeitern Tipps zu geben, ist relativ schwierig, denn sie sind ja abhängig von ihrem Schichtsystem. Seit Jahrzehnten wird daran herumgeforscht und es gibt ein paar Regeln, welche Schichtwechsel am gesündesten sind. Aber das ideale Schichtsystem hat noch keiner gefunden, und das wird es auch nicht geben, denn es widerspricht dem normalen gesunden Rhythmus.

Es gibt ja mittlerweile eine Handvoll Apps, die den Schlaf tracken und optimieren sollen. Ist die technische Unterstützung eine Entwicklung hin zu besserem Schlaf oder genau das Gegenteil?

Kennen Sie irgendeine App, die Ihnen hilft, Ihr Herz gesünder zu machen? Wenn ich ein Problem mit dem Herzen habe, gehe ich zum Arzt. Ich weiß nicht, woher es kommt, dass sich so viele mit ihrem Schlaf eher an eine App wenden als an einen Schlafexperten mit Schlaflabor. Mit solchen Apps wird viel Geld verdient und genauso viel Unfug getrieben. Es gibt nicht eine App, die sinnvoll die einzelnen Schlafphasen erfassen kann. Sonst könnte ich meinen Patienten einfach ein Smartphone ans Bett legen und müsste ihnen nicht mehr die Strippen an den Kopf kleben. Was ich mit Smartphones einigermaßen messen kann, ist die Schlaflänge. Wer die kontrollieren will, kann das gerne so machen. Aber mehr bitte nicht.

Wird das Handy neben dem Bett denn noch verteufelt?

Die Handystrahlung stört den Schlaf nicht, das ist nachgewiesen. Die Erreichbarkeit stört, der Gedanke, ich könnte ja angerufen werden. Damit schläft man automatisch schlechter. Ein Drittel der Deutschen sind gesunde Schläfer, denen macht das wenig aus. Aber die anderen zwei Drittel, die sensiblen Schläfer, die stört so etwas.

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