The Nunhead Gardener: Von zweien, die loszogen, eine Oase zu schaffen

Nach 25 Jahren im Finanzwesen fingen Peter Milne und Alejandro Beltran noch einmal von vorne an, mit Schubkarre und Gartenhandschuhen: Auf einem vernachlässigten Stück Land in London gründeten sie eine kleine Gärtnerei. Heute ist The Nunhead Gardener ein wichtiger Ort für Pflanzenliebhaber*innen und ein fester Bestandteil des Viertels.

Neue Narrative
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7 min readJun 3, 2019

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von Louka Goetzke

Foto: Mark Box
Peter Milne ist einer der beiden Gründer der Gärtnerei. Bei The Nunhead Gardener möchte er seine Leidenschaft für Pflanzen weitergeben und etwas tun, das ihm wirklich am Herzen liegt. (Foto: Mark Box)

Zwei Fußminuten vom Nunhead-Bahnhof im Süden Londons liegt ein kleines Paradies, geöffnet täglich von neun bis sechs. Hinter dem unscheinbaren Zaun geht es heute sehr geschäftig zu. Es ist ein sonniger Herbstsonntag und in der Gärtnerei tummeln sich Eltern mit ihren Kindern, Rentnerpaare, Student*innen und trendige Mittdreißiger, die mit ihren Hunden Gassi gehen. An Wochentagen sei es etwas ruhiger, sagt Peter Milne, einer der beiden Gründer von The Nunhead Gardener, aber es sei immer etwas los. Er wippt nervös auf und ab, denn eigentlich hat er für ein Gespräch gar keine Zeit. Seit einer Stunde herrscht Chaos im Paradies: Eine Kasse ist ausgefallen und die Kund*innen stehen Schlange, nehmen die Wartezeit jedoch gelassen. Wer hierher kommt, bringt Zeit mit, um neue Pflanzen zu entdecken, für eine Plauderei oder einfach nur, um das Ambiente zu genießen.

Die Gärtnerei ist klein und so stapeln sich die Pflanzen an den Wänden und bedecken die Hälfte des Bodens. Neben robusten Zwergpalmen und pflegeintensiven Alpenveilchen hängen auch alte Straßenschilder, Vogelhäuschen und andere Schätze an der Mauer des ehemaligen Bahnhoftunnels. Eine Sammlerin aus dem Viertel bringt sie ab und an vorbei, diese Woche stellt auch ein lokaler Künstler seine Monoprints hier aus. In einem Becken schwimmen Fische, die besonders von den jüngsten Besucher*innen bestaunt werden, und im Hintergrund läuft melodische Musik mit Naturklängen. Wenn die echten Vögel vor dem Bahnlärm nebenan flüchten, übernehmen die Lautsprecher.

Im Herzen der Community

Es geht hier nicht nur darum, Pflanzen zu verkaufen. The Nunhead Gardener ist für viele mehr als bloß eine Gärtnerei. Viele Leute kommen jede Woche, obwohl sie keine Pflanze brauchen. Sie mögen die Atmosphäre, ein Besuch in der Gärtnerei ist Teil ihrer Routine. So auch für Beth, die heute nur vorbeigekommen ist, um eine Runde durch den Laden zu drehen und mal Hallo zu sagen. London könne sehr kalt und anonym sein, meint sie. Die meisten Menschen arbeiteten viel, um sich die teuren Mieten leisten zu können, dazu kämen die langen Pendelwege. „Der Laden liegt auf meinem Weg zur Arbeit. Für mich ist das hier ein Ort zum Durchatmen vor oder nach einem stressigen Tag.“ Wohnraum ist knapp in London und von einem eigenen Balkon oder Garten können viele Londoner nur träumen. „Ich selbst habe keinen Balkon und nicht viel Platz für Pflanzen“, sagt auch Tobias, der seit einer Stunde die verschiedenen Gewächse studiert. „Ich merke aber, wie sie mich entspannen.“ Peter und Alejandro kenne er wegen seiner regelmäßigen Besuche inzwischen gut, er komme jeden Tag mit seiner Hündin Coco vorbei. „Hier ist es schön und Pflanzen sind wie Medizin. Deswegen komme ich hierher.“

Ein Ort, an dem Menschen Pause machen können, das soll The Nunhead Gardener sein. „Wir wollten einen verzauberten Ort schaffen, an dem es ruhig ist. Ein Ort, an dem Leute Zeit verbringen wollen, mit ihren Freund*innen, ihren Familien“, erzählt Peter. Vor drei Jahren begannen er und Alejandro, ihre Idee in die Tat umzusetzen. Heute finden in der Gärtnerei neben dem normalen Tagesbetrieb auch schon mal eine Modenschau oder ein Fotoshooting statt. „Inzwischen kennen wir alle unsere Kund*innen und haben das Gefühl, im Herzen der Community zu sein. Menschen teilen ihre Lebensgeschichten mit uns, wir bekommen Hochzeiten, Geburten und Todesfälle mit.“

Der zweite Teil des Gründerteams, Alejandro Beltran, sagt: „Ich liebe diese Arbeit. Meine Mutter hat mir beigebracht, mich um Pflanzen zu kümmern und ich bin sicher, sie wäre stolz auf mich. Pflanzen waren schon immer Teil meines Lebens und werden immer Teil meines Lebens sein.“ (Foto: Mark Box)

Nach 25 Jahren noch einmal von vorne anfangen

Die Lust auf Menschen und die Lust auf Pflanzen waren es, die Peter aus Neuseeland und Alejandro aus Kolumbien dazu bewegten, den Wunsch nach einer eigenen Gärtnerei Wirklichkeit werden zu lassen. Nach mehreren Jahren des Zögerns kündigten sie beide ihre gut bezahlten Jobs in der Finanzbranche. Peter hatte dort 25 Jahre lang eine Arbeit, für die er, wie er selbst heute sagt, keine Leidenschaft empfand. „Ich war an einem Punkt in meinem Leben, an dem ich auf der Suche nach mir selbst war“, erinnert er sich. „Ich fragte mich: Gibt es nicht mehr im Leben, als einfach bloß Geld zu verdienen? Ich wollte etwas tun, für das ich brenne, und mehr Zeit mit meinem Partner Alejandro verbringen.“ Anstatt nur am Schreibtisch zu sitzen und mit Zahlen zu hantieren, hatte er Lust, kreativ zu sein. „Ich wollte jeden Tag aufwachen und etwas tun können, das ich wirklich liebe, mit Menschen, die ich wirklich um mich haben will. Und das alles in einer Umgebung, die entspannend ist. Nur meine Hypothek zurückzuzahlen, Dinge zu kaufen und in den Urlaub zu fahren — all das machte mich irgendwann nicht mehr glücklich.“

Er bereue aber nicht, wie er zuvor gelebt habe. „All die Dinge, die ich davor gemacht habe, all die Jobs, helfen mir jetzt, diese Gärtnerei zu führen.“ Als Peter und Alejandro 2016 ihr ganzes Leben auf den Kopf stellten, um das gemeinsame Business zu starten, hatten sie keine Ahnung, ob ihr Plan aufgehen würde. Sie wagten den Sprung ins kalte Wasser: „Wir sagten uns: Wenn es klappt, dann klappt es und wenn nicht, dann nicht. Wir können immer wieder zurückgehen und uns einen anderen Job suchen.“ Das Paar hat die Entscheidung bis heute nicht bereut. Alles begann mit einer längeren Jagd nach einem geeigneten Grundstück: Sie fuhren mit dem Auto in Südlondon herum und hielten an, wenn sie ein passendes leeres Grundstück sahen, um herauszufinden, ob sie es mieten konnten. Nach monatelanger Suche fanden sie schließlich ein vernachlässigtes Stück Land gegenüber des Nunhead-Bahnhofs. Es war vermüllt und voller Gestrüpp, der alte Bahnhofstunnel war mit Wasser vollgelaufen. Doch davon ließen sie sich nicht entmutigen, sie krempelten die Ärmel hoch und verwandelten das Grundstück nach und nach in einen Ort, der jetzt an manchen Stellen an einen kleinen botanischen Garten erinnert. „Wir hatten nicht viel Geld, die meisten Reparaturen habe ich selbst mit der Hilfe von Freunden erledigt“, erinnert sich Alejandro. Im ersten Jahr verkauften sie Weihnachtsbäume bei Kerzenlicht, weil es noch keinen Strom auf dem Grundstück gab.

Foto: Mark Box

Seit der Gründung haben die beiden viel Unterstützung von der lokalen Community erfahren. Von Menschen, die mit anpackten, Kontakte vermittelten oder das Projekt bekannter machten. „Ich bin so dankbar für alle, die uns geholfen haben, unseren Traum zu verwirklichen“, sagt Alejandro. Aus dem beschädigten Bogengang des alten Bahnhofs wurde der überdachte Teil des Ladens, die Außenfläche beherbergt Garten- und Balkonpflanzen, aber auch bunte Keramiktöpfe, die Peter und Alejandro selbst ausgesucht haben.

Pflanzen sind eine gemeinsame Liebe des Paares. Alejandro lernte von klein auf von seiner Mutter, wie wichtig der richtige Umgang mit Pflanzen ist, und auch Peter weiß noch, wie er bereits als Vierjähriger seinen ersten Garten gestaltete und seitdem von einer eigenen Gärtnerei träumte. Sie entschieden sich, das Hobby zu ihrem Beruf zu machen. Ihre Leidenschaft für Pflanzen wollen sie weitergeben. Wer eine Frage zur richtigen Pflege hat oder mit einer kränkelnden Pflanze in den Laden kommt, erhält von Peter, Alejandro oder dem Team eine kompetente Beratung. Regelmäßig finden in der Gärtnerei auch Workshops statt, bei denen die Besucher*innen lernen, ihre eigenen Pflanzenterrarien zu bauen oder einen Weihnachtskranz zu flechten. Im nächsten Jahr wollen sie auch Workshops für Besucher*innen anbieten, denen der grüne Daumen erst noch wachsen muss — für gärtnerische Anfänger*innen also.

Foto: Mark Box

Der Laden brummt, eine Pause gibt es für die beiden nicht

Schon bevor sie ihr eigenes Geschäft gründeten, hatte sich das Paar gegenseitig versprochen, nicht mehr bis neun oder zehn Uhr abends zu arbeiten, sondern um sechs Uhr abends die Firma zu verlassen. „Und wir stellten fest, dass die Welt nicht zusammenbrach, wenn wir das taten, und dass es wichtiger ist, ein ausgeglicheneres Leben zu führen“, sagt Peter heute. „Allerdings muss ich auch sagen,“ und jetzt lacht er herzlich, „seinen eigenen Laden zu haben, ist anstrengender und mehr Arbeit, als ein Job als Angestellter in einem Unternehmen es jemals sein kann.“ Mehr als hunderttausend Pflanzen, Bäume und Blumen haben sie seit ihrer Eröffnung im Dezember 2015 bereits verkauft, pro Monat kommen an die fünftausend Besucher*innen. Peter und Alejandro möchten, dass alle Kund*innen eine persönliche Beratung bekommen und eine Pflanze finden, die zu ihnen passt.

„Wir wollen, dass du dich in dem Moment, in dem du durch diese Tür läufst, relaxed fühlst, so als wärst du in einer Oase.“ Damit das gelingen kann, fallen außerhalb der Öffnungszeiten noch allerlei Arbeiten an. „Wirklich weniger als in meinem Job als Finanzdirektor arbeite ich jetzt nicht. Es gibt einfach so viel zu tun“, sagt Peter. Aber hier seien sie ihre eigenen Chefs, müssen keine Unternehmensziele erreichen und am Ende des Monats nur sich selbst Rechenschaft ablegen. Der Stress sei ein anderer. Es sei eine Arbeit, die sie aus Liebe zu den Pflanzen und den Gästen machen, und zwar mit Leidenschaft, wie Peter immer wieder betont. Peter und Alejandro wollen, dass die lokale Community stolz auf The Nunhead Gardener ist. Dabei ging es für die beiden nie darum, möglichst viel Geld zu machen. „Ich habe das Gefühl, wirklich am Leben anderer Menschen teilnehmen zu können. Das hatte ich nicht, als ich noch in einer Firma gearbeitet habe. Ich glaube, das ist eigentlich das Beste an dieser Arbeit.“

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