„Wenn es mir darum ginge, mich in Szene zu setzen, müsste ich Team-Leader bei der Tour de France sein“

Seit 2013 versammelt TechBikers Germany ein Mal im Jahr fahrradbegeisterte Menschen aus der europäischen Tech- und Startup-Welt. Um den Sport geht es dabei nur am Rande: In erster Linie hat sich die Community zum Ziel gesetzt, Geld für einen guten Zweck zu sammeln.

Neue Narrative
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9 min readOct 23, 2018

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Von Martin Wiens und Sebastian Klein

Wir haben uns gefragt: Was passiert, wenn 40 Personen, die selber Führungsaufgaben haben, an einem gemeinsamen Strang ziehen sollen? Folkert Behrends sitzt selbst im Sattel und führt den Ride jedes Jahr an. Wir haben mit ihm gesprochen, um herauszufinden, wie Führung in dieser Extremsituation aussehen kann.

Bei den TechBikers kommen 40 Leute zusammen, die sich nicht kennen und gemeinsam eine Extremsituation durchlaufen müssen. Wie führt man eine solche Gruppe?

Es ist sehr schwierig und komplex, aber man muss es erscheinen lassen, als wäre es die Normalität schlechthin. Du hast 40 Alpha-Männchen und Alpha-Weibchen vor dir und zehn Sekunden Zeit, die Leute abzuholen und dafür zu sorgen, dass sie Follower der gemeinsamen Idee werden. Deshalb ist es zu Beginn besonders wichtig, ein Signal zu setzen: Hier kommt etwas, das euch alle interessiert, ihr wisst es nur noch nicht. Und das Interesse schüre ich ganz klar aus dem Warum.

Was ist denn bei den TechBikers das gemeinsame Warum?

Es geht darum, gemeinsam als Gruppe gesund in Berlin anzukommen. Über dieses Warum erzeuge ich einen Magneten. Ich schreie einmal laut „Listen up, please!” in den Raum rein. Das ist natürlich sehr dominant, aber es hat auch eine Signalwirkung. Danach lasse ich eine kurze Wirkungspause. Und dann, wenn ich die Aufmerksamkeit der Gruppe habe, gebe ich kurz und präzise die Informationen, die die Teilnehmer*innen brauchen, um das Ziel zu erreichen.

„Das ist für mich Leadership at its best: Wenn du die Leute so gut enablest, dass du irgendwann nicht mehr regulierend einzugreifen brauchst.”

Warum braucht es überhaupt Leadership, wenn das Ziel schon so klar definiert ist?

Für mich reicht es nicht, eine Zieldefinition zu geben. Eine ständige Aufgabe von Leadership ist es, das gemeinsame Framing sicherzustellen. Wir sagen immer wieder „It’s not a race”, wir wollen also kein Rennen fahren, aber gleichzeitig wollen wir, dass sich jeder auf seinem Level ausleben kann. Und gleichzeitig lebt das Motto „We go together, we come together”. Man kann fünf Millionen Wege von Posen nach Berlin fahren, aber es bringt ja nichts, wenn wir 30 Leute haben, die nach und nach am Brandenburger Tor ankleckern. Das würde unser Warum verfehlen. Wir wollen zusammen Rad fahren, gemeinsam und sicher ankommen.

Wie würdest du deinen Führungsstil konkret beschreiben?

Ich nenne meinen Stil immer dynamisch. Es ist nicht so, dass ich vorher einen festen Plan habe, sondern ich habe ein Ziel und reagiere von Mal zu Mal auf die Situation. Dazu gehört beispielsweise, in Konversationen informierend und vielleicht sogar unterstützend einzugreifen. Das heißt, ich arbeite gemeinsam mit der Person heraus, wie eine bestimmte schwierige Situation entstanden ist und was passieren würde, wenn es so weitergeht wie bisher. Und dann mache ich die Abfrage: Wie könntest du unterstützen, dass diese Konsequenz nicht eintritt? Ich gebe also die Ownership ab und lasse die andere Partei entscheiden.

Die Grundidee ist für mich ganz klar: Ich möchte bestimmte Abläufe, die wirklich in dem Team funktionieren, so implementieren, dass sie irgendwann ein Automatismus sind. Und das ist für mich Leadership at its best: Wenn du die Leute so gut enablest, dass du irgendwann nicht mehr regulierend einzugreifen brauchst.

Hast du ein Beispiel dafür, wie du funktionierende Abläufe verstetigst?

Ich versuche immer, mit genau vier Aussagen auf komplexe Situationen wie Kreuzungen, Gegenverkehr oder gemeinsames Losfahren zu reagieren: Die erste ist Stop!, die zweite ist Careful!, die dritte ist Auto! — weil die Wörter car und careful zu dicht beieinander sind– und die vierte ist Go! Go! Go!. Das rufen die Teilnehmer*innen sehr gerne, weil es dann progressiv nach vorne geht. Dagegen wird Stop! aus einem anderen Grund gerufen: weil sich die Leute schützen wollen. In dem Moment, wo sie Stop! schreien, wollen sie aber auch, dass die anderen Leute die Verantwortung mit übernehmen, damit keine Fahrer*innen ineinander crashen. Es geht also darum, aufeinander aufzupassen. Und dieses Bündnis trägt sich im Laufe des Rides so weit, dass ich vorne gar nicht mehr schreien muss. Deshalb bin ich der Meinung, dass solche einfachen Kernaussagen implementiert werden sollten.

Du gibst der Gruppe also Ankerpunkte für bestimmte Abläufe vor. Ist sie innerhalb dieses Rahmens überwiegend selbstgesteuert?

Ja. Eine Gruppe kann nur dann erfolgreich sein, wenn ich es schaffe, innerhalb des vorgegebenen Rahmens Follower zu erzeugen, die selber Ownership übernehmen. Stell dir vor, wir kämen in Berlin an und wir hätten 20 Polizisten, die uns flankieren und uns zum Ziel begleiten. Was meinst du, wie die Konzentration in der Gruppe sinken würde! Eine Gruppe, die sich selbst steuert, in der jeder aufpasst und Verantwortung übernimmt, ist viel stärker.

Ändert sich dein Stil im Laufe einer solchen Tour, die drei Tage dauert?

Am ersten Tag möchte ich immer sehr präsent sein. Da mache ich Ansagen: nicht militärisch, aber schon sehr plakativ, was auch nicht jedem gefällt. Am zweiten Tag geht es für mich darum, nachzuregeln. Ich beobachte und zeige, wenn nötig, mögliche Konsequenzen auf: „Wenn nicht, dann…”. Der dritte Tag ist ausschließlich dafür da, einzelne Leute beiseite zu nehmen. Ganz wichtig: Wenn am dritten Tag noch Unklarheit da sein sollte, darf ich mich nicht mehr als Leader direkt einbringen und aufspielen, sondern muss dafür sorgen, dass es aus der Gruppe heraus gelöst wird. Sonst komme ich wie ein penetrantes Arschloch rüber. Stattdessen hole ich kompetente Leute in den Lead und bitte sie darum, mich zu unterstützen. Das ist die Königsklasse von Leadership: nach dem richtigen Zeitraum mehr und mehr Ownership in die Gruppe zu entlassen.

„Es geht darum, die Follower zu identifizieren. Diese Leute sollen die Let’s-See-Leute so stark beeinflussen, dass sie Lust haben, auch Follower zu werden.”

Was machst du, wenn sich Leute nicht führen lassen wollen?

Ich mache das immer sehr diskret in der Ansprache. Ich halte nichts davon, Menschen bloßzustellen. Im Gespräch stelle ich dann wieder das Warum nach vorne: Das ist es, was der Gruppe gut tut. Und das ist es, was du machst. Dann frage ich die Person: Was machen wir jetzt daraus? Ich gebe also die Entscheidungsverantwortung an den Menschen weiter. Wenn der sagt: „Das interessiert mich gerade nicht, ich habe Lust vorweg zu fahren”, dann sage ich nichts weiter als „Okay, dann mach das”. Aber wir wissen in der Gruppe Bescheid, dass die Person eine freie Entscheidung getroffen hat, nicht im Gruppenkontext weiter zu verbleiben. Ich versuche also rauszufinden, ob es jemand ist, der eine Sache einfach nicht verstanden hat oder ob er sich kategorisch ausblockt. Das empfehle ich auch Firmen: Wenn jemand nicht Teil der Gruppe sein möchte, disqualifiziert er sich klar für den Gruppengedanken. Denn das, was ich als Aufwand betreiben müsste, um die Person reinzuholen, ist viel zu hoch. Ich verliere Traktion in der Gruppe, und jemand bekommt überproportional viel Aufmerksamkeit für etwas, das er sowieso nicht erfüllen möchte.

Was ist dabei die Rolle des Teams?

Du hast immer 50 % Follower, dann hast du 25–30 % Let’s-See-Leute, die erstmal abwarten, und noch 20 % No-Leute. Es geht darum, die Follower zu identifizieren. Diese Leute sollen die Let’s-See-Leute so stark inspirieren und beeinflussen, dass sie Lust haben, auch Follower zu werden. Wenn das nicht klappt, ist es deine Aufgabe als Leader, herauszufinden, warum der Magnet des Warums nicht stark genug ist, dass die Let’s-See-Leute nicht mitgezogen werden. Kann es vielleicht an mir liegen? Die Selbstreflexion ist für den Leader die wichtigste Aufgabe.

Wie stellst du sicher, dass die Gruppe mitdenkt und maximal intelligent ist?

Es ist sehr schwierig, den Spagat zu finden zwischen „Ich vertraue auf den Leader” und „Ich vertraue auf mich und mein Team”. Der Leader sollte nach Möglichkeit mit der Zeit immer weiter zurücktreten. Es ist wichtig, dass man Gruppen nicht zu stark an sich, sondern stärker an das Warum bindet. Denn wenn der Leader wegbricht, würde die ganze Gruppe auseinanderbrechen. Das kann man mit kleinen Aufgaben lösen: Wenn wir in Berlin reinfahren, lasse ich immer einen schwächeren Fahrer neben einem stärkeren fahren. Die erfahrenen oder intelligenten Leute bekommen dann eine verantwortungsvolle Aufgabe und die schwächeren Radfahrer kriegen jemanden an die Seite, dem sie vertrauen. Damit ist beiden immens geholfen.

Auf so einer Tour lässt sich ja nicht alles planen. Wie gehst du mit unvorhergesehenen Ereignissen um: wenn es plötzlich anfängt zu regnen oder ein Reifen platzt?

Organisatorisch gibt es kein komplexeres Event als eine Gruppe von Rennradfahrern, die sich innerhalb von drei Tagen vierhundert Kilometer über eine Ländergrenze bewegt. Deshalb ist es meine Aufgabe, mich vorher zu fragen: What if…? Ich gehe immer vom Worst Case aus. Und es ist bisher keine Situation eingetroffen, für die ich keinen Plan hatte. Wenn es regnet, haben wir Planen in den Begleitfahrzeugen, sodass wir die Autos rückwärts mit Abstand aneinander fahren und die Plane darüber hängen können. Da können sich die Fahrer dann drunterstellen. Letztes Jahr gab es den bisher einzigen schweren Sturz. Auch dafür hatten wir einen ganz klaren Ablauf. Und wenn ich doch mal total unvorbereitet bin, gilt erstmal die Regel: Es gibt vor den Menschen keine Probleme. Es ist unsere Aufgabe, im Hintergrund eine Lösung zu finden. Ein Leader ist auch dafür da, die Menschen als Follower zu behalten, wenn es gerade schlecht läuft. Gut kann jeder.

„Ich glaube, 90 Prozent der Leader und Manager aus Unternehmen würden an der Situation bei den TechBikers scheitern.”

Wenn alles durchgeplant ist, läuft man dann nicht Gefahr, glückliche Zufälle gar nicht zuzulassen?

Doch. Deshalb ist es trotz aller Vorbereitungen wichtig, zu verstehen, dass man nicht immer Kontrolle haben sollte, weil man unter Umständen sonst eine ganz fantastische, glückliche Situation verpasst. Eines der Highlights der letzten Tour war, dass wir spontan in eine wunderschöne Bibliothek eingeladen wurden, weil wir auf einem Abschnitt von nur einem Kilometer insgesamt sechs Platte hatten. Das war so nicht geplant.

Du bist auch als Leadership-Coach unterwegs: Was für Gemeinsamkeiten gibt es zwischen deiner Arbeit auf dem Rad und deiner Arbeit mit Unternehmen?

Ich glaube, 90 Prozent der Leader und Manager aus Unternehmen würden an der Situation bei den TechBikers scheitern. Ein Beispiel: In Berlin habe ich mich 500 Meter in die zweite Reihe zurückfallen lassen und jemand anderen vorneweg fahren lassen. Es hätte fast zwei Unfälle gegeben. Und diese Person ist in einer führenden Position einer namhaften Firma. Aus meiner Sicht müssen die zukünftigen Leader (erstmal) verstehen, dass es nicht um sie selbst geht. Es geht darum, eine Gruppe von Menschen, die sich für ein gemeinsames Warum begeistern können, so anzuschieben und auszustatten, dass jeder Einzelne beim Erreichen des Ziels stärker ist als zuvor. Und ich bin der Meinung, dass man das ganz klar von unserem Ride lernen kann.

Ist das nicht frustrierend, dass es nie um einen selbst geht, wenn man führt?

Man muss verstehen, dass es bei Leadership nicht darum geht, sich selbst in Szene zu setzen. Wenn es mir darum ginge, dürfte ich meinen Job bei den TechBikers nicht machen, sondern ich müsste bei der Tour de France ein Team-Leader sein. Das ist die Krux, die wir haben: Es gehört ein bestimmter Charakter dazu. Du musst viel wissen, du musst viel können, du musst viel arbeiten, aber du darfst dich selbst auf keinen Fall zu wichtig nehmen und dich über deine Aufgabe als Leader definieren.

Wie kommt man damit klar?

Das hat Jahre gedauert, bis ich das verstanden habe. Wenn man permanent Dienstleister für einen zusammengewürfelten Haufen an Menschen ist, kann das sehr frustrierend sein. Aber das kann man lösen. TechBikers ist ein Sache, die mir super viel Spaß macht. Da bewerte ich nicht mehr. Ich rege mich nicht mehr darüber auf, wenn der Abstand zwischen zwei Fahrern nicht stimmt. Stattdessen bin ich stolz darauf, dass ich die Chance habe, das zu beeinflussen. Aber neben meinen Aufgaben als Leader setze ich mir ganz persönliche Ziele, bei denen ich mir die Hörner abstoßen kann. Ich bin ja selber Triathlet. Dort darf ich mein Ego, besser, schneller, weiter als andere zu sein, ausleben. Und das mache ich auch. Dieses Jahr möchte ich Weltmeister beim Ironman Hawaii werden. Es geht um mein Warum, mein Ziel, aber auch um meine Konsequenzen beim Scheitern.

Über Folkert Behrends:

Folkert Behrends ist Hochleistungssportler und CEO von MOVE-MENT. Er hat mehr als 30 Jahre Erfahrung als Coach und Speaker. Prägend war für ihn ein schwerer Radunfall im Jahr 2008, bei dem er mit zahlreichen Brüchen ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Die Mediziner diagnostizierten, dass er vielleicht nie wieder laufen könne. Es kam anders: 15 Monate später nahm Behrends erfolgreich am Ironman-Triathlon teil. Er ist IRONMAN Altersklassen Weltmeister, 2-facher Europameister und vielfacher IRONMAN Teilnehmer.

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