Systematic Storytelling

Die unendliche Erzählung:
Eine systematische Methode für komplexe Geschichten

Gerlinde Schuller
Nightingale

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Wir befinden uns mitten in der COVID-19-Pandemie und damit auch im Mittelpunkt einer medialen Geschichte, die durch eine noch nie dagewesene Komplexität und Dynamik gekennzeichnet ist. Wie kann Informationsdesign helfen, diese Explosion von Nachrichten und Daten effektiv zu kommunizieren?

Informieren und unterhalten
Erzähl mir eine Geschichte und ich sage dir wer du bist. Die Substanz unserer Geschichten und die Art und Weise wie wir sie erzählen, erlauben Rückschlüsse auf unsere Persönlichkeit und darauf, wie wir die Welt sehen. Das Geschichtenerzählen ist Teil unseres Wesens und damit die älteste Form des menschlichen Informationsaustauschs. Zunächst beschränkte dieser sich auf die mündliche Überlieferung, was die Länge der Ausführung kurz und übersichtlich hielt. Diese Erzählungen waren eine Mischung aus Tatsachenbehauptungen und Glaubenswahrheit. Man wollte zugleich informieren und unterhalten. Nur wer unter Einsatz von Stimme, Mimik und Gestik die Kunst des Spannungsbogen beherrschte, sicherte sich die Aufmerksamkeit der Zuhörer. Der Wahrheitsgehalt einer Mitteilung war nicht entscheidend.

Trennung von Wahrheit und Lüge
Mit der in Stein gemeißelten Acta diurna (lat. für ‘Tagesgeschehen’) führte Julius Caesar 59 v. Chr. ein öffentlich ausgehängtes Nachrichtenbulletin ein und etablierte damit die Trennung von Wahrheit und Lüge beim Weitergeben von Informationen. Der Journalismus war geboren. Sein Ziel, die Öffentlichkeit mit aktuellen, wahren und relevanten Nachrichten und Geschichten zu versorgen, hat sich bis heute nicht geändert. Die Presse gilt als vierte Gewalt im Staat, einer Anforderung, der insbesonders investigative Journalisten gerecht werden, die mit Wachhundmentalität Staatsorgane und Wirtschaftskonzerne kontrollieren.

Im Laufe der letzten Jahrtausende bediente sich der Journalismus stets der neusten technischen Errungenschaften wie Buchdruck, Telegrafie, Radio, Fernsehen, Internet und Smartphone. Dadurch konnte die Schnelligkeit der Informationsvermittlung mit der Zeit gesteigert und die geografische Reichweite maximiert werden. Nachrichten, die früher nur analog und lokal gelesen wurden, können heutzutage digital und weltweit im Internet abgerufen und dank professioneller Übersetzungsprogramme sogar von einer internationalen Leserschaft ‘verstanden’ werden.

Komplexe Geschichten vermitteln
In den letzten Jahrzehnten hat sich die Transformation des Journalismus weiter beschleunigt. Die Datenmengen, die journalistischen Recherchen zugrunde liegen, haben sich dank zunehmender Ditgitalisierung und der Open Data Bewegung potenziert. Die Nachrichtenkanäle wurden, auch mittels Bürgerjournalismus, vielfältiger. Social-Media-Plattformen haben das interaktive Lesen durchgesetzt und dazu beigetragen, dass die Geschwindigkeit, in der Nachrichten an die Öffentlichkeit kommuniziert werden, drastisch zugenommen hat. Soziale Netzwerke haben sich als politische Informationsquelle etabliert, aber auch bewiesen, dass sie eine desinformierende Wirkung haben, weil sie die Trennung von Wahrheit und Lüge verwischen. Auch andere Technologien tragen hierzu bei. So erleichtern beispielsweise Social Bots die Verbreitung von Fake-Nachrichten. Die Personalisierung von Websites und von Ergebnissen in Suchmaschinen begünstigen das Entstehen von Filterblasen. Die Informationsmedien reagieren auf diese Trends mit einer Zunahme von investigativem Journalismus, Daten- und Longform-Journalismus sowie der Zusammenarbeit mit Whistleblowern (-Plattformen)

Die Verbreitung von Nachrichten in sieben westlichen Ländern, die vom Coronavirus besonders stark betroffen sind.
Die Verbreitung von Nachrichten in sieben westlichen Ländern,
die vom Coronavirus besonders stark betroffen sind.

Das Maß der Verbreitung von Nachrichten fällt zusammen
mit der Höhe der Infektionen im jeweiligen Land.
Grafik: Echobox

Die COVID-19-Pandemie stellt zurzeit die mediale Berichterstattung wiederholt auf die Probe. Nach globalen Medienereignissen wie 9/11, der NSA-Überwachungsaffäre und der Weltfinanzkrise, wird die Frage nach einer noch schnelleren, wirkungsvollen ‘Aufklärung’ weiter zugespitzt. Neben Information, Einordnung und Orientierung wird von den Massenmedien auch ‘Gewissheit’ gefordert, denn die Aktualität und der Wahrheitsgehalt von Informationen entscheiden in der aktuellen Krise mitunter über Leben und Tod. Hinzu kommt, dass die Pandemie jeden von uns betrifft und nahezu jeden Bereich unseres Lebens. Über Monate hinweg überstürzen sich die Ereignisse. Jeder Tag bringt neue Daten und selbst wissenschaftliche Erkenntnisse verändern sich in Rekordzeit. Ein Ende der Geschehnisse ist nicht in Sicht.

Die Geschichte, die vermittelt werden muss, ist durch eine noch nie dagewesene Komplexität und Dynamik gekennzeichnet.
Die Wahrscheinlichkeit, dass die von Journalisten verfassten Berichte von den aktuellen Ereignissen überholt werden, ist groß. Eine Reaktion in Echtzeit ist freilich nicht möglich, da Journalisten Daten und politische Entscheidungen zuerst auswerten und beurteilen müssen, bevor sie diese veröffentlichen. Trotzdem sah sich auch der Qualitätsjournalismus gezwungen, seine Reaktionszeit zu verkürzen, denn das Interesse der Menschen am Weltgeschehen stieg blitzartig an. Die Leserschaft verlangt gleichermaßen nach einem schnellen Zugang zu den neusten Informationen, eine strukturierte Übersicht, eine Langzeitdokumentation und mehr Transparenz. Die jetzigen Erzähl- und Präsentationsformate der Medienplattformen sind indes nicht auf diesen hohen Grad an Komplexität zugeschnitten. Für eine angemessene Berichterstattung werden neue, effektivere Darstellungsformate benötigt.

Synthese von Systemdesign und Storytelling
In einer Studie ermittelte der amerikanische Psychologe George A. Miller 1956, dass der Mensch im Durchschnitt nur 7+/-2 Informationseinheiten fehlerfrei im Kurzzeitgedächtnis speichern kann. Unser Gehirn kann demnach Komplexität nur erfassen, wenn sie in kleine, überschaubare Einheiten heruntergebrochen wird.

Millers universelles Gesetz: 7 +/-2 Informationseinheiten im Kurzzeitgedächtnis präsent
Millers universelles Gesetz:
7 +/-2 Informationseinheiten können im Kurzzeitgedächtnis gespeichert werden
Grafik: The World as Flatland

Um Übersicht und Kontrolle über komplizierte Relationen zu behalten, haben wir die Welt systematisch geordnet. Schon antike Hochkulturen fingen an, ökonomische Dokumente in Form von Tontafeln zu sammeln und diese Archive nach Herkunft und Entstehungszusammenhängen zu klassifizieren. Heute gibt es Systematiken unter anderem für Wissen, Waren, Sprachen, Böden und Wolken.

Auch das Festlegen internationaler Standards ist ein Ansatz, um Komplexität in den Griff zu bekommen. Die Normierung von Produkten erwies sich nach dem Zweiten Weltkrieg als wichtiger Aspekt für das Funktionieren eines internationalen ökonomischen und kulturellen Systems, das die Voraussetzung für die Globalisierung schuf.

Im investigativen Journalismus werden umfassende Recherchen in sogenannten ‘Dossiers’ veröffentlicht. Der Begriff stammt aus der Advokatur und bezeichnet ein Aktenbündel , das sich auf einen juristischen Fall bezieht. Eine solche Sammlung von Korrespondenz und Dokumenten ist chronologisch geordnet, um eine schnelle Übersicht zu gewährleisten. Die Hauptfigur in diesem ‘erzählenden Archiv’ ist der Angeklagte, der Handlungsfaden ist sein Fall. Die umfangreiche Geschichte wird durch die Systematik handhabbar und zugänglicher.

Wie kann eine komplexe Geschichte effektiv kommuniziert werden? Dies ist die Ausgangsfrage meines Forschungsprojektes Die unendliche Erzählung (The Infinite Narrative), in dem ich untersuche inwiefern eine Synthese von Systemdesign und Storytelling die Vermittlung von komplizierten, vielschichtigen Inhalten erleichtern und bereichern kann. Ich werde dafür eine Methode, mit der ich in früheren Projekten experimentiert habe, weiterentwickeln und festschreiben. Diese Informationsdesign-Methode habe ich Systematic Storytelling genannt. Sie ist prädestiniert für die Kommunikation von komplexen Geschichten, wie sie beispielsweise von (investigativen) Journalisten und Wissenschaftlern vermittelt werden.

Systematic Storytelling: overview

Die Herausforderung besteht darin, einem hohen Grad an Komplexität gerecht zu werden: einem Hauptthema mit zahllosen Nebenthemen, die verschachtelt und miteinander verwoben sind, verschiedenen erzählerischen Formaten, einer großen geografischen Reichweite, einer Langzeitdokumentation, einer nicht-linearen Leseweise, einer breiten, internationalen Nutzerschaft und einer kurzen Reaktionszeit.

Ziel des Projektes ist die Entwicklung von neuen, nichtlinearen und netzwerkartigen Erzählstrukturen und den dazugehörigen Tools, die diese Strukturen technisch unterstützen. Dazu wird eine modulare Webplattform als Testlauf entworfen (2021). Hier wird demonstriert, wie Systematic Storytelling helfen kann, Übersichtlichkeit zu bieten, Ausgewogenheit und Transparenz in der Berichterstattung zu veranschaulichen, Stöbern und Entdecken zu fördern. Neben einem Austausch soll den Nutzern auch ein individueller Zugang zu einem Thema offeriert werden. Es gilt die Abgrenzung zwischen Wahrheit, Meinung und Lüge zu präzisieren und zu differenzieren, um die Glaubwürdigkeit und das Vertrauen, das Fake-Nachrichten nachhaltig erschüttert haben, wiederherzustellen.

Ergänzung zur bestehenden Praxis des Informationsdesigns
Informationsdesigner arbeiten in den Medien als Datenjournalisten und Gestalter für Infographics und Informationsvisualisierungen. Sie werden jedoch selten gefragt, wenn es um die Entwicklung von komplexen, systematischen Erzählstrukturen geht. Dabei verfügen sie über die ideale Mischung von fachlichen Fähigkeiten die dafür benötigt wird: analytisches und systematisches Denken und (visuelles) Storytelling. Diese Kompetenz, Komplexität zugänglich zu machen, macht es für Informationsdesigner empfehlenswert, sich das Arbeitsfeld rundum ‘Erzählsysteme’ anzueignen.

Inspirationsquellen an der Schnittstelle von Systemdesign und Storytelling

Gravur von Erik Desmazières in ‘The Library of Babel’

Die Bibliothek von Babel (1941)
Jorge Luis Borges

In seiner Kurzgeschichte beschreibt Jorge Luis Borges das Universum als unendliche Bibliothek, die jedes Buch enthält, das jemals geschrieben wurde oder noch geschrieben wird.

Bild: Gravur von Erik Desmazières in ‘Die Bibliothek von Babel’
Quelle

Trajanssäule (112/113 n. Chr.) Rom, Italien

Trajanssäule (112/113 n. Chr.)
Rom, Italien

Auf der für den römischen Kaiser Trajan errichteten Säule sind spiralförmig Szenen aus erfolgreichen Kriegen dargestellt. Auf 23 Windungen mit einer Gesamtlänge von 200 Metern ist neben 2500 menschlichen Figuren bis zu sechzigmal der Kaiser selbst zu sehen.

Foto: Wikimedia Commons

Rauminstallation ‘Kulturgeschichte 1880–1983’ (2003) von Hanne Darboven

Kulturgeschichte 1880–1983 (2003)
Hanne Darboven

Die enzyklopädische Installation verbindet kulturelle, soziale und historische Referenzen mit autobiografischen Dokumenten von Hanne Darboven. Das Werk besteht ausschließlich aus visuellem Material (1.590 Arbeiten auf Papier und 19 Objekte) das, gruppiert und chronologisch geordnet, auf historische Methoden der Archivierung verweist.

Foto: Bill Jacobson Studio
Quelle

Stadtplan von Mannheim, Deutschland (1813)

Stadtplan von Mannheim, Deutschland (1813)

Die Innenstadt von Mannheim, auch ‘Quadratestadt’ genannt, ist als Planstadt konzipiert, deren Anfänge in 1606 liegen. Noch heute besteht die Innenstadt aus 144 ‘Quadraten’ bei denen es sich in Wirklichkeit um unterschiedliche Vierecke handelt. Es gibt rechteckige, rhombische sowie trapezförmige ‘Quadrate’ und dazu zwei Dreiecke. Eine Adresse wird durch die Quadratbezeichnung mit der zugehörigen Hausnummer gebildet, zum Beispiel: D 6, 2.

Bild: Generallandesarchiv Karlsruhe (DE)

Stammbaum (2018) von Joanna Kaplanis, Yaniv Erlich vom New York Genome Center (US)

Stammbaum (2018)
Joanna Kaplanis, Yaniv Erlich, New York Genome Center (US)

Auf dem bisher größten Stammbaum der Welt sind 13 Millionen Menschen, vor allem aus Europa und Nordamerika, über 500 Jahre hinweg, miteinander verbunden. Dazu wurden 86 Millionen Profile von Personen verwendet die auf einer Website Ahnenforschung betrieben haben. Für die Visualisierung des Stammbaumes wurden ihre Geburts-, Heirats- und Sterbedaten und -orte genutzt.

Bild: New York Genome Center (US)
Quelle

Splitscreen von ‘24’ Fernsehserie (2001) von Joel Surnow, Robert Cochran für Fox (US)

‘24’ Fernsehserie (2001)
Joel Surnow, Robert Cochran für Fox (US)

Charakteristisch für die Serie ist die in Echtzeit ablaufende Handlung. Die Pausen mit Werbespots implizieren, dass die Handlung währenddessen unbemerkt weiterläuft. Weitere Stilmerkmale sind Splitscreens und eine Countdown-Struktur die den Wettlauf gegen die Zeit mittels einer digitalen Uhr veranschaulicht.

Bild: Fox Corporation (US)

Today Series (1966–2014) by On Kawara

Today Series (1966–2014)
On Kawara

Die Serie umfasst nahezu 3000 Gemälde, die das Datum des Tages zeigen, an dem On Kawara das jeweilige Bild gemalt hat. Das Datumsformat entspricht dem des Landes, in dem er sich zu dem jeweiligen Zeitpunkt befand. Soweit die Landessprache nicht lateinische Schriftzeichen nutzte, ist das Datumsformat in Esperanto gefasst. Das jeweilige Bild hat eines von acht festgelegten Querformaten. On Kawara markierte jedes fertige Bild in einem Hundert-Jahre-Kalender, in dem er, beginnend mit seinem Geburtsdatum, systematisch jeden Tag seines Lebens mit einem gelben Punkt und jedes fertige Gemälde mit einem grünen Punkt kennzeichnete.

Bild: Phaidon
Quelle

Ich war’s. Tagebuch 1900–1999 (2006) von Daniela Comani

Ich war’s. Tagebuch 1900–1999 (2006)
Daniela Comani

Installation in Form eines Kalenders (365 Tage aus verschiedenen Jahren)
in der Daniela Comani als Ich-Erzählerin von Ereignissen aus dem gesamten 20. Jahrhundert erzählt. Sie berichtet von ihnen, als ob sie selbst einmal Hirohito, Hitler oder Einstein gewesen wäre. Die Wandinstallation existiert in acht Sprachen.

Bild: Daniela Comani
Quelle

Garden Cities of To-morrow (1902) by Ebenezer Howard

Garden Cities of To-morrow (1902)
Ebenezer Howard

In der Publikation beschreibt der britische Stadtplaner Ebenezer Howard seine Idee, die Gesellschaft mit Netzwerken von Gartenstädten neu zu organisieren. Er glaubte, dass eine Zusammenführung des städtischen und ländlichen Lebens den starken Einfluss des Kapitalismus brechen könne und zu einem kooperativen Sozialismus führen würde.

Quelle

Ich bin auf der Suche nach weiteren Projektbeispielen, die sich an der Schnittstelle von Systemdesign und Storytelling befinden. Falls Sie mir weiterhelfen können, schreiben Sie mir unter: studio(at)theworldasflatland.net

Gerlinde Schuller ist spezialisiert auf Informationsdesign and Visuellen Journalismus. Sie arbeitet an Aufträgen für internationale Kunden und an eigenen Forschungsprojekten, unterrichtet Informationsdesign und schreibt über die Disziplin. Schuller ist Autorin von Designing universal knowledge und Co-Autorin von Making the Impossible Possible und Amsterdam in documents.
www.theworldasflatland.net

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