La Bella Tristezza

Victor Adrian
Noch nicht erschienen WS 2016/17

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Nicht wirklich in der richtigen Verfassung ging ich zur Langen Nacht der Bücher 2016. Es wurde ein sonderbarer Abend.

Als ich die Messehalle betrete, ist es ungefähr 20 Uhr 30. Ich bin komisch gelaunt von der WU gekommen und denke mir: Großes Wien ganz klein, und nicht so schön. Das ist wirklich gemein und piefkemäßig. Was soll eine Messehalle anderes machen als uncharmant auszusehen? Ich blicke hinauf zur grauen Decke, lasse den Blick die grauen Wände hinab-, über die grauen Fliesen und den grauen Teppichboden gleiten. Ich denke mir, muss das sein, ich kam doch gerade aus dem grauen November.
So ein Messegebäude ist schon etwas Seltsames. Gibt es die auch in ein bisschen schön? Bestimmt, aber warum nicht hier? Wann wurde das gebaut, von wem? Was passiert hier das ganze Jahr über, und wer? Ich werde wohl noch gemeiner, als ich vor meinem inneren Auge leicht übergewichtige, blässliche Vertreterfiguren Lauwarmes zu Mittag essen und „Deals in die Wege leiten“ sehe. Hier sollen sich Menschen treffen, um die Volkswirtschaft in Gang zu halten.

Bei der Taschenkontrolle erkenne ich eine Bedienung aus dem Phil wieder, denke mir, ha, Bücher!, und schiebe mich zwischen Menschen hindurch zur Ausstellungsfläche. Weiter durch die Gänge, vorbei an Buchrücken, auf die ich mich nicht einlassen kann, es ist zu viel los. Ich finde mich vor der ORF Bühne wieder. O-Ton Heinz Fischer: „Jo, des mit dem Trump is scho ernstzunehman“. Vor mir machen zwei ein Selfie.
Ich drehe eine lange Linkskurve zurück in Richtung Eingang, vorbei am weitläufigen Saudi-Arabien-Infozentrum zum reinhardt-Stand. Hier ist was los. Ein Monstrum von einem Stand. Monumental drängt er sich unausweichlich direkt neben dem Eingang den BesucherInnen auf. Beim Eintreten vorhin sah ich zu, dass ich hier schnell vorbeikomme und dachte mir noch, schlechter Beginn, doch jetzt beobachte ich ihn wie eine Antilope einen Löwen, aus sicherer Entfernung. Er widmet sich genau einem Buch: Bozzetto. Ich schmecke die allzu offensichtliche Brise Abenteuer-Verschwörung-und-Spannung-Pur aus Dan Browns Windschatten wie schmandige Hafenluft. Zwei geringfügig angemeldete Schweizer Gardisten bewachen einen Holzthron, auf dem man sich per Polaroid-Kamera ablichten lassen und dann an einem Bozzetto-Gewinnspiel teilnehmen kann. Die beiden Autoren — einer trägt getönte Brille und Schal, der andere einen Talisman um den Hals — sind auch anwesend. Sie trinken und verteilen Sekt, er heißt Charme, wirklich. Sie schwanken schon ein bisschen, geben Autogramme und liefern pikante, wirklich wahre Hintergrundinfos. Es wurde an alles gedacht.
Ich streife die sympathische Kinder- und Jugendliteraturecke und kürze jetzt mal ab. Der heilige Qu‘ran über den Weltraum und interplanetarische Flüge, Happy Science Austria, Einladung zum Glücklichsein. Daneben Live-Kochshow, präsentiert vom Fletzberger Küchencenter, Gumpendorferstraße. Im Sitzpublikum auffallend viele Violett-Töne. Auch auf den Buchrücken des Pichler-Verlags auffallend viele Violett-Töne. Das Glück zu kochen, Österreichische Mehlspeisen, Fermentieren von Kefir bis Sauerkraut, Jamie Olivers Gesicht.
Weiter in Richtung eines aus der anderen Ecke der Halle in regelmäßigen Abständen aufbrausenden Applauses. Auf dem Weg würde ich mich beim Stand von edition clandestin/gershon vienna gerne in Ungewisses Manifest 1 von Frédéric Pajak verlieren, um das zu tun müsste ich aber sitzen. Sieht sehr schön aus, merke ich mir.
Angekommen hinten links in der Halle, werde ich Zeuge meines ersten PO-PO-POETRY SLAAAMs!!! „Hallo, wunderschönes Wien, toll hier!“, höre ich. Der Duft von Parfum und Smoothie, den meine Publikumsnachbarin, wir stehen beide neben der Bühne in der letzten Reihe, verströmt, passt irgendwie zu dem deutschsprachigen belgischen Frechdachs in Ballerinas, der sich gerade wirklich gekonnt und amüsant vor dem wohlwollenden Publikum behauptet. Kehlig-bauchige Stimme mit Ruhrpottcharme. Sprache wird hier ehrlich und begeistert gefeiert, das finde ich gut. Erneut tosender Applaus, guter Juryscore für die Dichterin, eine Neun, noch eine Neun, und eine Ze-Ze-Ze-Zeeeehn! Die Moderatorin trägt Sportleggings und Airmax, der Moderator Anzug und T-Shirt, frech. Gemeinsam fordern sie die nächste Contestant und das Publikum auf, alle Euphorie aus sich herauszuholen. Drei Damen vor mir wenden sich zum Gehen, auch ein männlicher Beobachter bricht ein und weg. Die nächste Dichterin hat eine angenehme Stimme und einen charmanten Dialekt, kommt, ich meine mich zu erinnern, aus Tirol. Ich lache.
Langsam wird mir heiß. Ich irre zurück, an der mittlerweile beendeten Kochshow vorbei, stehe unschlüssig vor dem Stand mit den Shiatsu-Massagegeräten Optimus New Generation. Auf der Küchenzeile ist eine Schüssel mit Erdäpfeln stehengeblieben. Ein feister Mann in Anzug und Seidenschal ellbogt sich eilig an mir vorbei und bellt seinen hinter ihm herhechelnden Kollegen etwas von Kaiserschmarrn zu, allerdings nach vorne, dafür umso lauter, damit sie ihn hören; ich bin genervt, belustigt, entschlossen zu gehen und selbst schuld.

Und dann, kurz vor dem Ausgang passiert es doch noch. Ich lasse mich vom Bozzetto-Stand hypnotisieren, stehe schon wieder unschlüssig herum. Irgendwie muss ich hinsehen, auch wenn es wehtut. Herr Beyeler mit den getönten Brillengläsern kommt mir mit den Worten „Das ist der beste Thriller überhaupt“ etwas zu nah. Er hat eine warme Charme-Fahne. Und fährt fort, das Buch sei besser als Dan Brown (Aha!), der Papst sei ein guter Freund, wohne da im Vatikan auf Zimmer 205, er selbst habe in Zimmer 203 genächtigt. Ich frage ihn, welchen Papst er meine, er schaut mich kurz fragend an, erwidert dann, man habe schon mit Hollywood gesprochen wegen der Filmrechte. Kein Schmäh.
Ich beginne mich diffus zu freuen, wende mich ab in Richtung der Schweizer Gardisten, bin jetzt bereit für ein Foto. Als ich kurz zurückschaue, steht mittlerweile der Kaiserschmarrnmann bei Beyeler, außerdem eine junge Frau in meinem Alter, die den beiden aufmerksamen Zuhörern, als der Talisman-Autor noch blitzschnell dazustößt sind es drei, erzählt, sie sei auch Autorin, genauer gesagt Kinder- und Jugendbücher, und auf der Suche nach einem Verlag. „Ist reinhardt ein großer Verlag?“, fragt sie und blinzelt. Die drei Herren überschlagen sich mit Ratschlägen für die „junge Lady“, so nennen sie sie jetzt, und ich fange an, mir vorzukommen wie in einem David-Fincher-Film.
Und dann — Weltklasse! — steht neben mir eine Dame, sie muss in früheren Jahren einmal eine wahre Gassenhauerin gewesen sein, strahlt mich an, und übergießt mich mit breitestem Frankfurterisch, warum ich denn Notizen mache, ob ich Journalist sei. Ich lege ebenfalls mein bestes Frankfurterisch auf und frage zurück, woher sie denn komme. Wir lachen, ich lasse mich auf ein Glas Charme einladen. Sie schwankt ein wenig, wie alle hier, und erklärt mir stabil angetrunken den Plot des Bozzetto. Zum Abschied mache ich mit „junge Lady“ ein gemeinsames Polaroid bei den schmunzelnden Schweizer Gardisten, Kaiserschmarrn klopft mir auf die Schulter, ich frage mich warum und denke, er braucht einfach Jemand zufällig danebenstehenden zum auf die Schulter klopfen. Draußen stehe ich noch kurz am Würstelstand und ein Gast meint, in Richtung Halle nickend, „Wamma uns ehrlich san, is oasch“, inklusive Meidlinger L. Ich widerspreche ihm, denke mir Ungewisses Manifest, und bin froh, dass ich gekommen bin.

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