Ist das Internet gut oder schlecht? Ja. 

Es ist an der Zeit unsere Alpträume von Überwachung zu überdenken. Von Zeynep Tufekci für MATTER. (Übersetzt von eve massacre.)

eve massacre
24 min readApr 19, 2014

Der Originaltext “Is the internet good or bad? Yes.” ist hier zu finden.

TRÄNENGAS IST EIN GUTER LEHRER. Es hat mich gelehrt, dass es wahr ist, was sie sagen: Schreckliche Umstände können das Beste in Menschen hervorbringen. Es hat mich gelehrt, dass du dich an fast alles gewöhnen kannst, auch an das Gefühl des Erstickens und das des drohenden Todes. Es lehrte mich, die einfache Freude an frischer Luft zu genießen.

Tränengas hat mir sogar etwas über ein Thema beigebracht, das ich viele Jahre als Akademikerin studiert habe: Social Media. Es war der Juni 2013 und ich befand mich inmitten der Gezi Park Proteste in Istanbul. Nach jeder Salve Tränengas zogen die Protestierenden ihre Handys raus und wandten sich den Social Media zu um herauszufinden was geschah, oder um selbst über die Geschehnisse zu berichten. Twitter war zur Kapillarstruktur einer Bewegung ohne sichtbare Anführer*innen, ohne institutionelle Struktur geworden. Sogar ohne Namen.

Ich war dort, um den Aufstand zu studieren, diese Rebellion der digitalen Ära. Aber meine Gedanken wanderten weiter. Nur ein paar Tage zuvor waren die ersten Leaks von Edward Snowden rund um die Welt eingeschlagen. Wir würden bald sehr viel über die Möglichkeiten der National Security Agency erfahren: Dass sie auf Daten von sowas wie Skype und Facebook zugreifen kann; untermeerische Kabel abhören und und Industrie-vereinbarte Verschlüsselungsstandards unterlaufen; sich in die Verbindungen zwischen gigantischen Datenlagerhallen hacken, die von Google und Yahoo betrieben werden. Und die Agency, das würden wir herausfinden, benutzte geheime Gerichtsanordnungen um die Kooperation, die sie brauchte, von den Industriegiganten zu bekommen — und um Industrierebell*innen zum Schweigen zu bewegen.

Das war keine komplette Überraschung; schließlich beinhaltet der Auftrag der NSA, dass sie geheime Informationen sammelt. Aber das Ausmaß der Überwachung war schockierend. Und es war nur möglich, weil Internet- und Telekommunikationsfirmen jahrelang so viele Daten über ihre Kund*innen gesammelt hatten wie ihnen möglich war. Snowden hat nicht nur Details davon enthüllt, was die NSA tut — er hat auch eine Allianz von Überwachung enthüllt, die aus Regierungen und Internetunternehmen besteht.

Diese Allianz kann fast jeden Klick nachverfolgen, und tut dies auch oft. (Tatsächlich werden Nicht-Klicks genauso überprüft: Facebook trackt Statusupdates, die Leute anfangen und wieder löschen, um besser zu verstehen, warum sie sich entscheiden nicht zu posten.) Diese Klicks sind zunehmend mit Aufzeichnungen unserer Offline-Leben verbunden. Kommerzielle Wahldatenbanken prahlen damit, dass sie die IP (Internet Protocol)-Adresse fast aller US Wähler*innen kennen. Sie können Daten hernehmen, die mit dieser Adresse verbunden sind, und sie mit Wahlaufzeichnungen, Finanzen, Einkäufen, Verbrechensakten, Verkaufsaufzeichnungen, und anderen Informationen verbinden.

Warum geben wir ihnen unsere Daten? Aus demselben Grund, der die Protestierenden dazu veranlasste, in einem Wirbel von Tränengas ihre Handys rauszuziehen: Digitale Kanäle sind einer der einfachsten Wege, die wir haben, um miteinander zu reden, und manchmal der einzige Weg. Es gibt wenige Dinge, die machtvoller und lohnenswerter sind, als mit einer anderen Person zu kommunizieren. Es ist kein Zufall, dass die schärfste legale Bestrafung nach der Todesstrafe in modernen Staaten die Isolationshaft ist. Menschen sind soziale Tiere; soziale Interaktion ist in unserem Kern verankert.

Trotzdem: je mehr wir uns online miteinander vernetzen, desto mehr werden unsere Handlungen sichtbar für Regierungen und Unternehmen. Es fühlt sich wie ein Verlust von Unabhängigkeit an. Aber als ich im Gezi Park stand, sah ich wie digitale Kommunikation zu einer Form von Organisierung geworden war. Ich sah, wie sie Dissens, Konflikt und Protest ermöglichte.

Widerstand und Überwachung: Das Design der digitalen Werkzeuge von heute macht die beiden untrennbar. Und herauszufinden was das bedeutet, ist eine wirkliche Herausforderung. Es heißt, dass Generäle immer den letzten Krieg kämpfen. Wenn das so ist, dann sind wir wie diese Generäle. Unser Verständnis von den Gefahren der Überwachung wird durch unser Wissen um bereits geschehene Bedrohungen unserer Freiheiten gefiltert. Aber der Krieg von heute ist anders. Wir sind in einer neuen Art von Umgebung; einer, die einer neuen Art von Verständnis bedarf.

DIE WELT ERBEBT IN EINEM PROTEST NACH DEM ANDEREN. Tahrir. Occupy. Syntagma Square in Athens, die 15-M Bewegung in Spanien. Jetzt die Ukraine. Und das sind nur die spektakulären Straßenproteste. Bewegungen kommen auch in anderen Formen daher, und nicht alle zielen auf etwas ab, das uns gefallen mag: Anonymous, Anti-Impfung, Slow Food, Tea Party. Die Möglichkeit ähnlich gesinnte Menschen zu finden, durch sie an Macht zu gewinnen, dominanten Narrativen etwas entgegenzusetzen — dies sind Dinge, die Bewegungen ermöglichen. So wie es im Gezi Park geschehen ist.

Es begann im späten Mai als ein kleiner Protest gegen das, was als ein unaufhaltbarer Moloch erschien: die erfolgreiche aber polarisierende Regierung der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP). Gezi ist ein relativ unbekannter Park, aber er ist auch das letzte bisschen Grün auf Istanbuls Taksim Platz, dem Herzen des historischen Stadtzentrums für Nachtleben und Kunst. Der Premierminister Recep Tayyip Erdoğan stellte sich etwas anderes an diesem Ort vor: Eine Replik von Barracken aus der Osmanischen Ära — an dieser Stelle stand einst ein Barrackenlager -, die ein Einkaufszentrum und hochpreisigen Wohungsbau beinhalten sollten. Für viele war ein schlimmeres Szenario als dieser Mix aus kitschig und reich für dieses pulsierende Gebiet schwer vorstellbar. Erdoğans Plan traf auf Proteste der Anwohnerschaft, zu der Künstler*innen, junge Freiberufler*innen und die kleine aber unverwüstliche LGBT Community der Stadt gehörten.

Die Proteste fanden Nachhall. Die AKP ist allgemein ziemlich beliebt; die Wirtschaft ist unter ihrer Verwaltung gediehen, zumindest bis vor kurzem, und sie hat viele populäre politische Richtlinien eingeführt, wie die Expansion von Sozialhilfeprogrammen. In den letzten allgemeinen Wahlen, die 2011 durchgeführt wurden, ist sie mit einer komfortablen Mehrheit für eine dritte Periode wiedergewählt worden. Trotzdem hat die AKP aber auch Möglichkeiten der gegenseitigen Kontrolle unterwandert, indem sie Unterstützer*innen in allen Zweigen der Regierung platzierte. Und ihre städtischen Erneuerungsprojekte haben, während sie zwar Geld für die Wirtschaft einbrachten, beinhaltet, die filigrane historische Lebendigkeit von Istanbul mit gigantischen Einkaufszentren und nullachtfünfzehn Wohnhochhäusern zu ersetzen. Noch schlimmer: die Verträge diese zu bauen wurden oft denen zugeschanzt, die sich bei der Regierung einschmeichelten.

Sehr wenig hiervon wurde in den türkischen Mainstreammedien diskutiert, vor allem, weil große Konzerne in der Türkei Fernsehkanäle und Zeitungen aufgekauft haben, die sie dazu benutzen, speichelleckerische Berichterstattung über die Regierung zu fahren. Die wenigen großen Medien, die es wagen, Reportagen über Korruption zu zeigen, wurden mit hohen Steuerrechnungen in Milliardenhöhe abgewatscht, die dann wundersamerweise rückgängig gemacht wurden, sobald die Berichterstattung gedämpft wurde.

Trotzdem ist die Türkei ein zunehmend vernetztes Land. Du wirst in Istanbul kaum eine junge Person ohne Handy finden, und immer mehr von ihnen sind Smartphones, die mit dem Internet verbunden sind. Deswegen erfuhren die Leute davon, dass ein paar Dutzend Protestierende, die versuchten, die Bulldozer, die die Bäume im Gezi Park entwurzeln wollten, aufzuhalten, mit Pfefferspray zurückgedrängt wurden, und dass ihre Zelte verbrannt wurden, über Social Media, nicht übers Fernsehen. Twitter ist kein traditioneller Rundfunkdienst; es gibt keine Chefredaktion, die gekauft oder unter Druck gesetzt werden kann. Als hunderte weiterer Protestierender auftauchten, und ihnen mit Polizei, Tränengas, und Wasserwerfern begegnet wurde, erfuhren die Leute wieder über Social Media davon. Bald war der Protest zu einer ganz anderen Größenordnung angewachsen. Es gab Zehntausende von Protestierenden, die mit der Polizei kämpften; mitten im Zentrum des zentralsten Platzes in der größten Stadt der Türkei.

Im türkischen Fernsehen war es immer noch nicht.

Der Widerstand, einzig und allein über Social Media und Mund-zu-Mund-Propaganda koordiniert, war so groß und stürmisch geworden, dass CNN International begann, ihn live zu übertragen. Zur exakt gleichen Zeit, übertrug CNN Türkei eine Dokumentation über Pinguine. Jemand stellte zwei Fernseher nebeneinander, einen auf die Pinguine eingestellt, den anderen auf CNN Internationals Livestream vom Taksim Platz, und machte ein Foto davon. Es wurde viral und Pinguine wurden das unerwartete Symbol des Aufstands.

ICH WAR IN PHILADELPHIA ALS die Proteste in Istanbul explodierten, auf einem Treffen, das sich “Data-Crunched Democracy” nannte, von der Annenberg School for Communication an der University of Pennsylvania gehosted. Es sollte aufregend sein, und ein wenig kontrovers. Aber ich bin gleichzeitig eine Wissenschaftlerin, die sich mit sozialen Bewegungen und neuen Technologien befasst. Ich habe Tahrir besucht, das Herz des ägyptischen Aufstands, und den Zuccotti Square, den Geburtsort der Occupy Bewegung. Und nun half neue Technologie dabei, Proteste in Istanbul, meiner Heimatstadt, anzutreiben. Das Epizentrum, der Gezi Park, liegt nur ein paar Blocks von dem Krankenhaus entfernt, in dem ich geboren wurde.

Da war ich also, auf einer Konferenz, auf die ich mich monatelang gefreut hatte, in der letzten Reihe sitzend, wo ich über Tränengas in Istanbul tweetete.

Eine ganze Reihe von High-Level Angestellten aus den Datenteams der Obama- und Romney-Kampagnen waren da, was bedeutete, dass viele Leute die mich wahrscheinlich nicht sehr mochten im Raum waren. Ein paar Monate zuvor hatte ich in einem Op-Ed in der New York Times argumentiert, dass reichhaltigere Daten für die Kampagnen weniger Demokratie für den Rest von uns bedeuten könnten. Politische Kampagnen wissen heutzutage entsetzlich viel über die amerikanischen Wählenden, und sie werden das benutzen, um die Botschaften, die wir sehen, zurechtzuschneidern — um uns die Dinge zu erzählen, die wir über ihre politische Linie und ihre Politiker*innen hören wollen, während sie Botschaften, die wir ablehnen könnten, verschleiern.

Natürlich sind diese Taktiken so alt wie Politik selbst. Aber die digitale Ära hat neue Wege gebracht, mit denen sie umgesetzt werden können. Darauf hinzuweisen hat mir wenig Liebe von den Kampagnen eingebracht. Der frühere Data Director der Obama-Kampagne, der später dazu in der Times schrieb, karrikierte meine Bedenken und tat sie ab. Er behauptete, dass die Leute dächten, er würde “in ihrem Müll nach herausgerissenen Seiten ihrer Tagebücher suchen” — eine Vorstellung, die er als “einen Haufen Quatsch” beschrieb. Er hat recht: Politische Kampagnen wühlen nicht in Mülltonnen herum. Das müssen sie nicht. Die Information, die sie wollen, ist online, und darin schnüffeln sie mit größter Wahrscheinlichkeit herum.

Was wir über ihre Verwendung von “Big Data” — der gebräuchlichen Abkürzung für die gewaltigen Datenmengen, die nun über uns alle zur Verfügung stehen — wissen, ist besorgniserregend. 2012 enthüllte der Reporter Charles Duhigg, auch in der Times, dass Target oft voraussagen kann, wenn eine Kundin schwanger ist, oft schon in den ersten 20 Wochen der Schwangerschaft, und manchmal sogar bevor sie es irgendwem erzählt hat. Das ist eine wertvolle Information, weil die Geburt eines Kindes eine Zeit großer Veränderungen ist, und das beinhaltet Veränderungen im Konsumverhalten. Es ist eine Gelegenheit für Brands, einen Haken in dich zu kriegen — einen Haken, der jahrzehntelang halten könnte, weil überarbeitete Eltern dazu tendieren aus Gewohnheit immer zu denselben Marken zurückzukehren. Duhigg berichtete, wie ein aufgebrachter Vater, wütend über die Schwangerschafts- und Baby-bezogenen Coupons, die Target seiner Teenager-Tochter geschickt hatte, den Laden vor Ort aufsuchte und den Manager zu sehen verlangte. Er bekam eine Entschuldigung, aber entschuldigte sich später selbst: Seine Tochter, so stellte es sich heraus, war tatsächlich schwanger. Indem sie Veränderungen in ihrem Einkaufsverhalten analysierten — die so subtil sein können wie Veränderungen in der Wahl ihrer Feuchtigkeitscreme, oder der Kauf von bestimmten Nahrungsergänzungsmitteln -, hatten Target herausgefunden, dass sie ein Kind erwartete, noch bevor er es wusste.

Personalisiertes Marketing ist nicht neu. Aber es kann so viel mehr mit den Daten gemacht werden, die Unternehmen und Regierungen nun zur Verfügung stehen. In einer kürzlich in Proceedings of the National Academy of Sciences erschienen Studie zeigten Forscher*innen, dass das bloße Wissen über die Dinge, die eine Person auf Facebook “geliked” hat, benutzt werden kann, um ein höchst akkurates Profil des Subjekts zu erstellen, das ihre “sexuelle Orientierung, Ethnie, religiöse und politische Ansichten, Persönlichkeitsmerkmale, Intelligenz, Zufriedenheit, Gebrauch süchtig machender Substanzen, elterliche Trennung, Alter, und Gender” beinhaltet. In einer separaten Studie hat eine andere Gruppe von Forschenden mit bemerkenswert verlässlicher Trefferquote einige Persönlichkeitsmerkmale — Psychopathie, Narzissmus, und Machiavellismus — aus Facebook Statusupdates herleiten können. Ein drittes Team zeigte, wie Social Media Daten, richtig analysiert, Anzeichen einer beginnenden Depression aufzeigten.

Behaltet dabei in Erinnerung: diese Wissenschaftler*innen haben den Leuten von denen sie Profile erstellten keine einzige Frage gestellt. Es wurde alles durch Modelling erbracht. Alles was sie tun mussten war, die Datenkrümel, die wir während unserer Onlineaktivitäten hinterlassen, zu analysieren. Und die Studien, die veröffentlicht werden, sind wahrscheinlich nur die Spitze des Eisbergs: Die Daten sind fast immer in Firmenbesitz, und die Firmen, die sie haben, sagen uns für gewöhnlich nicht, was sie damit anstellen.

Als die Zeit für mein Panel kam, hob ich eine kürzlich in Nature erschienene Studie über Wahlverhalten hervor. Indem sie eine Botschaft, die dafür entworfen worden war, Leute zum Wählen zu ermutigen, so veränderten, dass sie mit Verstärkung durch das Social Network einer Person kam statt unpersönlich zu sein, hatten die Wissenschaftler*innen gezeigt, dass sie mehr Leute davon überzeugen konnten, an einer Wahl teilzunehmen. Kombiniere solche Stupser mit psychologischen Profilen, die aus unseren Onlinedaten hergestellt werden und eine politische Kampagne kann ein Level von Manipulation erreichen, dass das übersteigt, was durch stumpfe Fernsehspots möglich ist.

Wie können sie das in der Praxis tun? Bedenkt, dass manche Leute dazu neigen konservativ zu wählen, wenn sie mit beängstigenden Szenarien konfrontiert werden. Wenn dein psychologisches Profil dich in diese Gruppe steckt, könnte eine Kampagne dir eine Nachricht schicken, die deine Ängste genau auf die richtige Art zündet. Und für deine Nachbarin, die solches Ängsteschüren nur aufregt? Ihr präsentieren sie das Engagement für ein kleineres politisches Anliegen, von dem die Kampagne weiß, dass sie interessiert daran ist — und sie lassen es so klingen, als sei es eines der Kernthemen, für dass sie sich einsetzen. Es ist alles individualisiert. Es ist alles undurchsichtig. Du siehst nicht was sie sieht und sie sieht nicht was du siehst.

Wenn du die kleinen Stimmenvorsprünge bedenkst, durch die Wahlen entschieden werden — ein Umstand, der von den politischen Funktionären, die den Raum füllten, nur allzu gut verstanden wurde -, argumentierte ich, dass es möglich war, dass kleine Anpassungen der Algorithmen von Facebook oder Google eine Wahl kippen könnten.

Ich bin nicht sicher, ob diese Möglichkeit die Funktionäre genau so begeisterte wie sie mich beängstigte.

In einer Pause trieb ich einen der Chefwissenschaftler aus Obamas Datenanalyse-Team, der in einem vorhergehenden Job Datenanalyse für Supermärkte betrieben hatte, in eine Ecke. Ich fragte ihn, ob das, was er jetzt tut — auf dieselbe Weise Marketing für Politiker*innen zu betreiben, wie Lebensmittelläden Marketing für die Produkte in ihren Regalen betrieben — ihm je Sorgen bereitete. Es geht nicht um Obama oder Romney, sagte ich. Diese Technologie wird nicht immer von deinem Team verwendet werden. Langfristig gesehen wird der Vorteil einfach an die Höchstbietenden gehen, die reichere Kampagne.

Er zuckte die Achseln, und nahm zu dem meistverbreiteten Klischee Zuflucht, das benutzt wird, um vom Einfluss von Technologie abzulenken: “Es ist nur ein Werkzeug,” sagte er. “Du kannst es für Gutes benutzen, du kannst es für Schlechtes benutzen.” (Der Wissenschaftler sagt, er erinnert sich nicht mehr an die Unterhaltung.)

“Es ist nur ein Werkzeug.” Ich hatte das viele Male zuvor gehört. Es steckt ein klein wenig Wahrheit drin, aber es verbirgt die niemals neutralen Einflüsse von Technologie auf unser Leben. Oft habe ich die Person, die es sagte, gefragt, ob sie der Ansicht sei, dass Nuklearwaffen auch “nur ein Werkzeug” seien. Menschen haben immer gekämpft, aber wenige würden sagen, dass es egal sei, ob wir mit Stöcken, Messern, Pistolen oder Nuklearwaffen kämpfen.

Diesmal seufzte ich und beließ es dabei. Ich wollte zurück zu Twitter. Ich wollte zurück in meine Heimatstadt.

EIN PAAR TAGE SPÄTER KAM ICH IN ISTANBUL AN. Ich lief runter zum Gezi, und hörte bald Anwohner vor Ort beschreiben, wie sie Erdogans Pläne für den Park mit legalen Mitteln zu verhindern versucht hatten. Sie fanden sich vor einem bürokratischen Labyrinth, auf das Kafka stolz gewesen wäre, hätte er es sich ausgedacht. Anfragen, die Pläne zur Ansicht zu bekommen, verschwanden einfach aus den Aufzeichnungen der Regierung. Offizielle, die zu freundlich erschienen was die Anfragen anbelangte, wurden versetzt. Die Anwohner reichten Petitionen ein — und sahen sie verschwinden. Sie konnten nicht mal herausfinden, was genau gebaut wurde, obwohl das Gelände in öffentlichem Besitz war und Objekt historischer Erhaltungsgesetze.

Viele erzählten mir, dass die Realitätslücke zwischen Fernsehen und Twitter sie nach Gezi geführt hatte. “Ich wusste, dass es Zensur im Fernsehen gab”, sagte mir jemand. “Aber erst als Twitter kam, realisierte ich wie schlimm es war. Es ist eine Sache, diskret beleidigt zu werden, aber eine andere, so schamlos beleidigt zu werden. Ich musste hierher kommen.”

Ich fragte sie, was sie zu tun gedächten, jetzt wo sie im Park waren. Viele wussten es nicht. Zunächst mal wollten sie einfach dort auftauchen. Sie mussten es sehen, um die kognitive Dissonanz zwischen ihrem Social Media Stream und ihrem Fernseher zu schließen.

Eine Person nach der anderen erzählte mir, wie dankbar sie für das Internet sei. Eltern schworen, dass sie sich bei ihren Kindern entschuldigen würden, welche sie dafür ausgelacht hatten, dass sie so viel Zeit vor Bildschirmen verbrachten. “Sie hatten recht und wir lagen falsch,” sagte eine Frau zu mir. “Wir verstanden unsere Kinder nicht. Nichts von alldem wäre ohne das Internet möglich. Das Internet bringt Freiheit.”

ES WAR EIN AUFFALLEND ANDERES NARRATIV als jenes, das durch das Land jagte, das ich gerade verlassen hatte. Als die Enthüllungen über das Ausmaß der NSA Überwachung flossen, schossen die Verkäufe von 1984, Orwells dystopischem Roman, bei Amazon um 6000 Prozent nach oben. Viele begannen Ozeanien, den gigantischen furchteinflößenden Überwachungsstaat des Romans als das Modell des modernen digital-ermächtigten Staats zu sehen. 1984 ist letzlich wahr geworden, wurde gesagt — nur um 30 Jahre versetzt oder so.

Aber das ist der falsche Ansatz um zu verstehen was passiert. Tiefe und allgegenwärtige Überwachung ist real. Es ist wahrscheinlich schlimmer als wir es wissen, und wird täglich allesdurchdringender. Aber 1984 hat sehr wenig damit zu tun.

Andere wandten sich einer anderen Metapher zu: dem Panoptikum, einem Gedankenexperiment, das von Jeremy Bentham, einem Sozialreformisten des 18. Jahhunderts erfunden wurde, und später von dem französischen Philosophen Michel Foucault popularisiert wurde. Der Blick der Wachen — alles-sehend, aber unsichtbar für die Insaßen — würde dafür sorgen, dass Gefangene die Disziplin des Gefängnisses verinnerlichen, dachte Bentham. Foucault weitete die Idee später aus, indem er sie als Metapher für den Einfluss von Überwachung auf die Gesellschaft übernahm.

Aber das ist auch falsch. Die meiste Überwachung in liberalen Demokratien hat wenig mit dem Panoptikum zu tun.

Und diese Metaphern sind nicht nur falsch — sie können auch zutiefst irreführend sein.

In 1984 lebt der Antiheld, Winston Smith, unter trostlosen Bedingungen. Alles ist grau. Er isst altbackenes dunkles Brot. Informanten und die Kameras sind überall. Sex ist verboten. Kinder spionieren ihre Eltern aus. Wenn ein Bürger Ozeaniens harte Regeln anficht, wird ein Käfig voller Ratten um sein Gesicht angebracht.

Diese imaginierte Zukunft ist eine Allegorie auf einen angstgetriebenen Staat, einem, der von Orwells Sicht auf Nazi-Deutschland und die Sowjetunion inspiriert war. 1984 dreht sich um Überwachung in einer Gesellschaft, in der die Gewalt des Staates alle unterdrückt, und das jeden Tag. Mit anderen Worten, es geht um Totalitarismus.

Das Panoptikum ist ein Gedankenexperiment: ein Modellgefängnis, das eine Gesellschaft von Gefangenen kontrollieren soll. Aber wir sind keine Gefangenen. Wir stecken nicht gefesselt in Zellen, ohne Rechte und ohne Mitsprache bei der Regierung.

In unserer Welt ist das Vergnügen nicht verboten; es wird dazu ermutigt und gefeiert, obgleich unter dem Banner des Konsums. Die meisten von uns leben nicht in Angst vor dem Staat während wir unseren alltäglichen Leben nachgehen. (Es gibt erwähnenswerte Ausnahmen: zum Beispiel arme Communities of Colour und Immigrant*innen, die under “Stop-and-frisk”- (Durchsuchungspraxis ohne Verdachtsmoment) und “Papiere vorzeigen”-Gesetzen leiden.)

Um die Überwachungsstaaten zu verstehen, in denen wir leben, müssen wir mit etwas Besserem als Allegorien und Gedankenexperimenten kommen, besonders, wenn diese sich auf ein ganz anderes System der Kontrolle beziehen. Wir müssen in Betracht ziehen, wie sich die Macht von Überwachung vorgestellt und wie sie eingesetzt wird, jetzt, von unseren Regierungen und Unternehmen.

Wir müssen unsere Alpträume updaten.

DER GEZI PARK WAR EIN PLATZ FÜR BEIDES, Widerstand und Feiern. Er hatte die berstende Lebendigkeit eines Wildkatzenangriffs und die tiefe menschliche Solidarität, die nach Katastrophen aufkommt.
Eines Nachmittags, als ich mich mit einer Gruppe junger Leute unterhielt, näherte sich uns eine alte Dame, in traditionell islamischem Gewand gekleidet. Sie brach in Tränen aus. “Sie sprühen Gas auf junge Leute. Ich kann den Gedanken nicht ertragen,” schluchzte sie. Eine junge Frau, die in Shorts und Sneakers gekleidet war und einen Nasenring und Tattoos hatte, sprang auf, um sie zu trösten. Kurz darauf bot mir eine mittelalte Frau etwas Börek an, ein türkisches Gebäck. “Ich weiß nicht viel darüber wie man protestiert, aber diese Kinder wissen es,” sagte sie. “Dafür weiß ich, wie man backt.”

Ein wenig später, als die Nacht hereinbrach, interviewte ich eine Gruppe junger Leute, die Schilder aufgehängt hatten, die Medienzensur verurteilten. Die Botschaften waren in zwei Dutzend Sprachen übersetzt. Der Einbruch der Dunkelheit erhöhte die Wahrscheinlichkeit eines Polizeieingriffs, was eine junge Frau dazu veranlasste, einen Marker herauszuziehen und ihre Blutgruppe auf ihren Arm zu schreiben. “Bist du so entschlossen?” fragte ich. “Wir hier sind ein Regenbogen und [Erdogan] versucht uns alle schwarz anzumalen,” antwortete sie. “Wir sind ein Regenbogen. Wir geben nicht auf.”

Der Gezi Park war tatsächlich wie ein Regenbogen. Ich verpasste den herumwirbelnden Derwisch in einem fließenden pinken Rock (und Gasmaske), aber sah die Trommelkreise (mit Gasmasken und Helmen). Fußballfans kamen in großer Zahl. Ebenso Schwule und Lesben, und sie wurden mehr respektiert als ich es zuvor in der Türkei gesehen habe. Die LGBT Community brachte sogar die unbändigen Macho-Fußballfans dazu, aufzuhören “Schwuchtel” als ein Schimpfwort zu benutzen — wie es der Standard in Fußballslogans in der Türkei ist — und stattdessen “sexistischer Erdogan” zu grölen. Strenggläubige Muslim*e verteilten Essen um die Geburt des Propheten zu feiern; Feminist*en verteilten Sticker, auf denen “Mein Körper, meine Entscheidungen” stand. Ich sah sogar eine Gruppe kurdischer Linetänzer um ein Lagerfeuer tanzen, während ihnen ein Mann zusah, der in eine türkische Flagge gehüllt war und manchmal mit seinem Fuß den Rhythmus mittippte — eine Szene, die ich mir angesichts der angespannten ethnischen Beziehungen in der Türkei nicht hätte ausmalen können, bevor ich im Gezi ankam.

Sie waren im Widerstand gegen das vereint, was sie als wachsenden Autoritarismus der AKP ansahen, und darauf bedacht, eine Aura des Pluralismus zu hegen. Die Einigkeit hielt über die meiste Zeit. Das kann passieren, wenn Menschen realisieren, dass sie nicht alleine sind. Das ist es, was ein Straßenprotest in seiner Essenz bewirkt: Er macht, dass du dich nicht alleine fühlst. Wir sollten die abgestandenen Diskussionen über Proteste auf der Straße vs. Onlineproteste beiseite lassen. Es gibt ein Schlüsselmerkmal, das Internet und Straße teilen: Sie machen uns füreinander sichtbar. Das ist ihre Macht.

Tatsächlich ist die Fähigkeit des Internets “pluralistische Ignoranz” aufzulösen — die fälschliche Annahme, dass deine Überzeugungen dich in einer Minderheit platzieren, während in Wahrheit die meisten Leute ähnlich empfinden -, vielleicht sein größter Beitrag zu sozialen Bewegungen. Facebook-“Likes” werden oft als bedeutungslos belächelt, aber sie können dafür sorgen, dass eine Person realisiert, dass ihr soziales Netzwerk genauso empfindet wie sie — und das ist eine sozial und politisch machtvolle Sache.

DU LERNST ES, TRÄNENGAS ABZUKRIEGEN. Du sagst dir selbst, dass du ruhig bleiben musst, während du in Richtung frischer Luft steuerst. Es hilft, dich daran zu erinnern, dass das Gas dich wahrscheinlich nicht umbringen wird. Natürlich könnte der Kanister selbst deinen Kopf oder lebenswichtige innere Organe treffen und das könnte dich umbringen. Aber ich trug einen Fahrradhelm. Die meisten Demonstrierenden um mich herum trugen gelbe Baustellenhelme, die ihnen von den Schwarzmarkt-Straßenhandel Betreibenden verkauft wurden, die in der Türkei meist Roma sind. (Vom ersten Tag an boten diese Händler auch Sprühfarbe, Schutzbrillen und andere essentielle Protestutensilien an. Hat irgendwer in der Welt ein besseres, genau auf den passenden Moment hin arrangiertes Vorratsmanagement als die extrem armen Straßenhändler*innen?)

Der einzige Gegenstand, an dem der Vorrat knapp war, waren richtige Gasmasken; sie waren sofort ausverkauft in Istanbul, und die Händler*innen hatten nur dünne “chirurgische” Masken von der Sorte, die Ärzt*innen in Fernsehserien tragen. Diese sind von keinerlei Nutzen gegen Tränengas.

Leute, die zuviel von dem Gas eingeatmet hatten, übergaben sich oder fielen zu Boden, sich in Schmerz aufbäumend. Protestierende aus dem medizinischen Kontingent eilten herbei, ausgerüstet mit Behelfstragen, manche aus alten Türen gemacht. Die meisten der Verletzten erholten sich wieder. Manche wurden ins Krankenhaus geschickt. Ein paar — vor allem die, welche von den Gaskanistern am Kopf getroffen wurden — starben.

Die Protestierenden wurden zum Tränengas-Connaisseur: Sie konnten dir nach einem Blick auf einen Kanister sagen, was es war, was es dir antat und wer es hergestellt hatte. “Das hier, das ist das Schlimmste, es bringt dich immer zum Kotzen,” sagte mir ein Protestierender während er auf einen Kanister unter dem Dutzend, das er vor seinem Zelt aufgereiht hatte, zeigte. Es gab andauernde Diskussionen über Gegenmittel. Essig und Zitrone, von denen viele annehmen, dass sie effektiv gegen Tränengas seien, wurden missachtet und stattdessen wurde eine Mixtur aus Ameisensäuren und Wasser bevorzugt. Ich glaubte ihnen, weil es eine gebildete, gut-organisierte Gruppe war, in der auch Chemikerinnen und Ärzte waren. (Ein Beispiel, das ich mitbekam: Als die Munition einer anderen Waffe, die zur Kontrolle von Menschenmengen eingesetzt wird — Wasserwerfer — beim Hautkontakt zu brennen begann, schickten die Protestierenden Proben davon in ein Labor, das entdeckte, dass die Regierung dem Wasser Pfefferspray beigefügt hatte. Monate später gab ein Pressesprecher der Regierung das zu.)

Nachdem der schreckliche Schmerz in unseren Lungen, Augen und Hälsen ein wenig nachließ, zogen wir unsere Telefone heraus und öffneten Twitter. Das war keine Eitelkeit oder ein verzweifelter Versuch, Freund*innen darüber zu informieren, dass wir okay waren — auch wenn es ein großer Teil davon war, die Leute wissen zu lassen, dass wir in Ordnung waren. In der Mitte des Gezi hattest du nur eine kleine oder gar keine Vorstellung davon, was woanders vor sich ging, nicht mal am anderen Ende des Parks. Social Media war eine Rettungsleine, und Twitter fand am meisten Verwendung, dank der Smartphone-freundlichen Einfachheit des Services und der kurzen Nachrichtenlänge. Entscheidend war, dass Twitter-Beziehungen auch einseitig laufen können: Ich kann dir folgen ohne dass du mir folgen musst. Als Resultat davon können die User mit einer großen Anzahl von Leuten interagieren, statt nur mit der kleineren Anzahl von Leuten, die sich mit ihnen “befreunden” wollen.

Bevor ich in Gezi ankam, kuratierte ich ein paar Tweets vom Park und anderswo in der Türkei. Jetzt verbrachte ich meine Zeit damit zuzuhören und zu beobachten, und ich fand heraus, dass ich letztlich ahnungslos war. Ich hatte nicht die Vogelperspektive, die du bekommst, wenn du fortgesetzt einem Event auf Twitter folgst. Freund*innen aus dem Ausland tweeteten Fragen — “Was denkst du über Premierminister Erdogans neuestes Statement?” — und ich hatte keine Antwort. “Ich bin im Park, nicht auf Twitter,” antwortete ich.

Also gingen wir auf Twitter, wann immer wir konnten. Die Verbindungsqualität war im allgemeinen gut, vielleicht weil die großen Telefongesellschaften Signalverstärker-Busse in den nahegelegenen Straßen stationierten. Twitter war eine Möglichkeit herauszufinden, ob der letzte Tränengaskanister ein vereinzelter Schlag war oder der Anfang eines Goßeinsatzes, der den Park räumen sollte. Waren bewaffnete Fahrzeuge auf dem Weg zu uns? Wo war der Ministerpräsident? Verschlimmerte sich die Lage oder gab es eine Bewegung Richtung Verhandlungen? Die Neuigkeiten, die Konversationen, die Bilder, die Rezepte zum Neutralisieren von Tränengas, die Spendenaufrufe, Bekanntmachungen dass Celebrities den Gezi Park besuchten — Social Media pulsierte mit diesen Sachen, es war im Gewebe von Gezi.

Nichts davon bedeutet, dass es in der Türkei weniger Überwachung gibt als in den Vereinigten Staaten oder Europa. Tatsächlich gibt es wahrscheinlich sogar mehr. Während ihrer ersten Jahre an der Macht hat die AKP staubige Bücher durch Datenbanken ersetzt. Jeder Bürger hat nun eine nationale Identifikationsnummer, die Zutritt zu einer Regierungswebsite gewährt, die fast jede Interaktion mit dem Staat dokumentiert, von Besitzunterlagen bis zu Steuern. Für viele ist es eine Erleichterung, den alten bürokratischen Systemen des Landes entkommen zu sein. Aber die Datenbanken ermöglichen auch massive Überwachung. Bürger der Türkei brauchen zum Beispiel eine ID-Nummer um eine Handy-SIM-Card zu kaufen, oder um über das öffentliche Gesundheitssystem einen Termin bei einem Arzt auszumachen.

Journalistinnen, Politiker, und so gut wie alle prominenten Leute glauben, dass die Regierung weiter geht, und ihre Telefone ebenso abhört. (In Cartoons wird der Staat oft als gigantisches Ohr gezeichnet.) Tatsächlich vermuteten viele Protestierende, dass die Regierung nicht nur erlaubt hatte, dass das Internet weiterfunktionierte, sondern sogar dazu ermutigte. Diese Signalverstärker-Busse könnten die ID-Nummern der Protestierenden aufgesaugt haben. Irgendwo in den digitalen Archiven der Regierung gibt es wahrscheinlich eine Liste von jedem türkischen Bürger, der oder die den Park während der Proteste besuchte.

Trotzdem triumphierte die Rebellion in Gezi, zumindest kurzzeitig. Die Proteste wurden letztendlich zerschlagen, aber ein Gericht urteilte später, dass das Projekt Richtlinien zur historischen Erhaltung verletzte. Und die Rebellion triumphierte in einem anderen Sinne: Die Menschen in der Türkei begannen sich wieder über Politik zu unterhalten, und Social Media wurde eine höchst aufgeladene und politische Sphäre. Die Gezi-Proteste erschütterten das Bild davon dass die AKP unbesiegbar war. Vielleicht vom neugefundenen Geist der Herausforderung ermutigt, dröselten sich auch andere Tabus auf. Im Dezember 2013 durchrüttelte ein Korruptionsskandal das Land, vermischt mit internen Machtkämpfen zwischen Fraktionen, die zuvor mit der Regierung verbündet gewesen waren. Die meisten der Neuigkeiten, die mit dem Skandal verbunden waren, zirkulierten wieder in erster Linie auf Social Media, als die Regierung versuchte, die Untersuchung zu unterbinden.

Nicht gerade überraschenderweise hat die Regierung zurückgeschlagen. Anfang diesen Monats hat das Parlament ein Internetzensur- und -überwachungsgesetz verabschiedet, das es für die Regierung einfach macht, Websites ohne gerichtliche Aufsicht vom Netz zu nehmen. Internetprovider sind auch gesetzlich dazu gezwungen, Informationen über jeglichen Traffic ihrer User zu sammeln und sie auf Nachfrage an die Autoritäten weiterzugeben.

NACH DEM ARABISCHEN FRÜHLING wurde mir dieselbe Frage wieder und wieder gestellt: Ist das Internet gut oder schlecht?

Es ist beides, sagte ich immer wieder. Zugleich. In komplexen neuen Strukturen.

Aber das “Schlechte” ist keine wässrig-verdünnte Version von Ozeanien oder dem Panoptikum, zumindest nicht in modernen Demokratien. In einer Ära, in der die Ideen von Bürgerschaft und Rechten tiefe Wurzeln geschlagen haben, ist auf Gewalt basierender Zwang nur von begrenztem Nutzen. Zwang alleine kann Menschen nicht dazu bringen, die Dinge zu tun, die moderne Staaten und Unternehmen uns zu tun benötigen, um das System am Laufen zu halten: Für ihre Parteien zu wählen, ihre Produkte zu kaufen, in ihren Unternehmen zu arbeiten.

Um die tatsächliche — und wirklich verstörende — Macht von Überwachung zu verstehen, ist es besser, sich einem Denker zuzuwenden, der etwas von echten Gefängnissen versteht: der italienische Schreiber, Politiker und Philosoph Antonio Gramsci, der von Mussolini ins Gefängnis geworfen wurde und den Großteil seines Werkes schrieb, während er eingesperrt war. Gramsci verstand, dass die mächtigsten Mittel zur Kontrolle, die ein moderner kapitalistischer Staat zur Verfügung stehen hat, nicht Zwang und Inhaftierung sind, sondern die Fähigkeit, die Welt der Ideen zu formen. Die Essenz mancher Argumente Gramscis kann in einem anderen dystopischen Roman des 20. Jahrhunderts gesehen werden. In Schöne neue Welt stellt sich Aldous Huxley einen Staat vor, der zugunsten einer Droge, Soma, die seine Bürger glücklich und nachgiebig hält, auf existentiellen Terror verzichtet.

Ideen zu formen ist natürlich leichter gesagt als getan. Leute mit Werbung zu bombardieren funktioniert nur bis zu einem gewissen Grad. Niemand mag es, gesagt zu bekommen, was er oder sie denken soll. Wir werden Überzeugungsmethoden gegenüber resistent, die wir durchschauen — denkt nur an die Werbung aus vergangenen Jahren, und wie abgedroschen sie sich anfühlt. Sie hat in ihrer Zeit funktioniert, aber wir heute sind wir ihr gegenüber alarmiert. Außerdem ist eine pauschale Abdeckung in der fragmentierten Medienlandschaft von heute nicht mehr leicht zu erreichen. Auf wievielen Kanälen kann eine Firma Werbung schalten? Und wir spulen eh schnell vor bei TV Werbung. Sogar wenn es möglich wäre, uns über Massenmedien zu erwischen, versagen Botschaften, die bei einer Person funktionieren, oft bei anderen.

Big Data Überwachung ist genau deswegen gefährlich, weil sie Lösungen für diese Probleme zur Verfügung stellt. Individuell zurechtgeschneiderte subtile Botschaften erzeugen mit weniger Wahrscheinlichkeit eine zynische Reaktion. Besonders wenn die Datensammlung, die diese Botschaften ermöglicht, unsichtbar ist. Deswegen gibt sich nicht nur die NSA größtmögliche Mühe, ihre Überwachung verborgen zu halten. Die meisten Internetfirmen versuchen uns möglichst verstohlen zu überwachen. Ihre Nutzungs-Einverständniserklärungen, die wir alle “unterzeichnen” müssen bevor wir ihre Dienste verwenden, sind voll von kleingedrucktem Juristenjargon. Wir rollen unsere Augen und händigen ihnen unsere Rechte mit einem Klick aus. Genauso lassen politische Kampagnen ihre Bürger weder wissen, was für Daten sie über sie haben, noch wie sie diese Daten verwenden. Kommerzielle Datenbanken gewähren dir manchmal Zugriff zu deinen eigenen Aufzeichnungen. Aber sie machen es schwierig, und weil du sowieso nicht viele Rechte hast, das zu kontrollieren, was sie mit deinen Daten tun, ist es oft nutzlos.

Deswegen ist die State-Of-The-Art-Methode Ideen zu formen nicht, offenkundig Druck auszuüben, sondern verdeckt zu verführen, aus einer Basis des Wissens heraus. Diese Methoden bringen keine grobschlächtige Werbeanzeige hervor — sie schaffen eine Umgebung, die dich unmerklich anstupst. Letztes Jahr hat ein Artikel in der Adweek festgestellt, dass Frauen sich an Montagen weniger attraktiv fühlen, und dass dies die beste Zeit sei um sie mit Make-Up zu bewerben. “Frauen führten als Quellen von Schönheitsverletzlichkeit auch auf, dass sie sich einsam, dick und depressiv fühlen,” fügte der Artikel hinzu. Also warum es bei Montag belassen? Big Data Analytiker*innen können genau identifizieren, welche Frauen sich einsam oder dick oder depressiv fühlen. Warum nicht auf sie fokussieren? Und warum es dabei belassen, bekannte “Schönheitsverletzlichkeit” zu verwenden? Es ist nur ein kleiner Sprung vom Identifizieren von Verletzlichkeiten hin zum Herausfinden, wie sie hervorgerufen werden können. Das tatsächliche Verkaufen des Make-Ups kann die Spitze des Eisbergs sein.

Unternehmen wollen diese Macht verwenden damit wir Produkte kaufen. Für politische Parteien ist das Ziel, durch zurechtgeschnittene Präsentationen Unterstützung für die Politiker und ihre politischen Pläne zu erwirken. Beide wollen, dass wir, willentlich, auf eine Auswahl klicken, die für uns entworfen wurde. Diplomaten nennen das ‘Soft Power’. Sie mag ‘soft’, also ‘weich’ sein, aber sie ist nicht schwach. Sie bringt keinen Widerstand hervor, wie es Totalitarismus tut, also ist sie eigentlich sogar stärker.

Internettechnologie lässt uns Schichten von Unstimmigkeiten und Ablenkungen wegschälen und miteinander agieren, von Mensch zu Mensch. Zugleich sehen die Mächtigen sich genau diese Interaktionen an, und benutzen sie um herauszufinden, wie sie uns gefügiger machen können. Aus diesem Grund kann Überwachung im Dienste von Verführung sich als mächtiger und beängstigender erweisen als die Alpträume aus 1984.

Trotzdem sind wir hier und reden immer noch miteinander. Und sie hören zu.

This story was written by Zeynep Tufekci, edited by Jim Giles and Bobbie Johnson, fact-checked by Cameron Bird, and copy-edited by Tim Heffernan. Jack Stewart narrated the audio version, and photographs were taken byMstyslav Chernov, in conjuction with UnFrame.

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