Im Namen des Vaters, des Sohnes und des menschlichen Gehirns

Was im Kopf dieses jungen Mannes vor sich geht,
ist ein Rätsel. Vor allem für seinen Vater, einen der berühmtesten Hirnforscher der Welt.

ZEIT Wissen
14 min readSep 24, 2014

Etwas stimmte mit Kai Markram nicht, als er zum ersten Mal seinen Kopf emporreckte und neugierig in die Welt blickte – fünf Tage nach seiner Geburt. Kai war ein außergewöhnlich waches Baby, ganz anders als seine Schwestern, die viel später begonnen hatten, sich für ihre Umwelt zu interessieren. Als der Junge laufen konnte, wollte er partout nicht mehr stillhalten. Ständig musste jemand auf ihn aufpassen, damit er sich nicht verletzte.

»Sein Akku war nicht leer zu kriegen«, erzählt seine Schwester Kali. Und es ging nicht bloß um einen kindlichen Energieüberschuss: Wenn seine Eltern Kai im Zaum halten wollten, bekam er Tobsuchtsanfälle. Er schrie nicht nur und trat um sich, nein, er biss und spuckte wie wild geworden. Das tat er, als er zwei war, aber auch noch mit drei, vier und fünf Jahren. Kai war ein soziales Rätsel: Manchmal schottete er sich komplett ab, um dann in anderen Momenten auf Fremde zuzurennen und sie zu umarmen.

Doch es wurde noch seltsamer. 1999 waren die Markrams gemeinsam nach Indien gereist. Auf einem Platz hatte sich eine Menschenmenge gebildet, ein Schlangenbeschwörer führte gerade seine Kunst vor. Plötzlich, ohne jegliche Vorwarnung, schoss der damals fünfjährige Kai hervor, lief zu der tödlichen Kobra und tippte ihr auf den Kopf. Die Eltern waren schockiert.

Mit so einem Kind zurechtzukommen wäre sicher für alle Eltern mühsam. Für Kais Vater war es geradezu frustrierend – denn Henry Markram ist einer der führenden Hirnforscher der Welt. Er ist der Mann hinter Europas eine Milliarde Euro teurem Human Brain Project an der ETH Lausanne. Ein gigantisches Vorhaben, das mithilfe eines Supercomputers das menschliche Gehirn nachbilden will. Wahrscheinlich weiß kaum jemand so viel darüber, wie unser Gehirn funktioniert, wie Henry Markram. Doch wenn es um Kais Probleme ging, fühlte er sich machtlos.

»Als Vater und Hirnforscher wusste ich nicht, was ich tun sollte«, sagt Markram. So kam es, dass Kais Verhalten – das später als Autismus diagnostiziert wurde – die Karriere seines Vaters von Grund auf veränderte: Henry Markram entwickelte eine neue Theorie über Autismus.

Was aber ist das überhaupt – Autismus? Stellen Sie sich vor, Sie kämen von einem fremden Planeten, auf dem alles langsamer und ruhiger zugeht. Plötzlich werden Sie hineingeworfen in eine wirre Welt, in der die Sinne permanent überfordert werden. Die Augen der Mutter: gleißend helles Flackern. Vaters Stimme: ein Presslufthammer. Der süße, kleine Strampler, den alle so weich finden? Rau wie Sandpapier. Alle Liebe, alle Sorge der Eltern? Ein Bombardement aus unverständlichen Sinneseindrücken. So, sagen Markram und seine Frau Kamila, fühle es sich an, autistisch zu sein. Sie nennen es: Intense World Syndrome.

Henry Markram ist ein Baum von einem Mann, mit tiefblauen Augen, dunkelblondem Haar und einer spürbaren Autorität, die man wohl haben muss, wenn man ein derart ambitioniertes Forschungsprojekt anführt. Als kleines Kind, sagt Markram, habe er alles wissen wollen. Aber in den ersten Schuljahren waren seine Noten miserabel. Sein Schlüsselerlebnis war, als der geliebte Onkel depressiv wurde und jung starb – er war nicht einmal 40, »aber er hatte sich aufgegeben«, wie Markram sagt. »Wenn die Chemie und die Struktur im Gehirn sich ändern können und wenn ich mich daraufhin verändere, wer bin ich dann eigentlich noch?« Es war diese Frage, die Markram dazu brachte zu lernen, denn nun war für ihn klar: Er wollte Psychiater werden. Markram besuchte die Universität von Kapstadt und flog im vierten Studienjahr mit einem Forschungsstipendium nach Israel. »Es war der Himmel auf Erden«, sagt er. »Alle Geräte und Möglichkeiten, um das Gehirn zu untersuchen, waren vorhanden.« Er blieb und heiratete mit 26 seine erste Frau Anat, eine Israelin. Bald schon wurde ihre Tochter Linoy geboren, dann Kali und vier Jahre später schließlich Kai.

Nach und nach machte Markram sich einen Namen in der Forschung und ging zu dem Nobelpreisträger Bert Sakmann nach Heidelberg. Während der Zeit am dortigen Max-Planck-Institut fand er heraus, dass Synapsen stärker werden, wenn die Signale im richtigen Rhythmus durch sie hindurchjagen. Eine bahnbrechende Entdeckung. Es gab jedoch ein Problem.

Während in der Karriere ein Erfolg auf den nächsten folgte, wurde Markram klar, dass im Kopf seines jüngsten Kindes etwas nicht richtig lief. Zunächst dachte er, Kai hätte ADHS, da er nie stillhalten wollte. Aber als der Junge älter wurde, fing er an, eigenartige Aussetzer zu bekommen. »Er wurde immer sonderbarer, auch wenn er nicht mehr so hyperaktiv war«, sagt Markram. »Er war unberechenbar, bekam immer wieder Tobsuchtsanfälle. Und er wollte einfach nicht lernen oder Anweisungen befolgen.« Selbst ins Kino zu gehen war eine Tortur: Kai blieb einfach vor der Tür stehen und hielt sich die Ohren zu.

So schwierig Kai war: Er mochte es dennoch, Menschen zu umarmen, sogar vollkommen fremde. Diese menschliche Wärme schien in den Augen vieler Experten gegen Autismus zu sprechen. Erst nach mehreren Untersuchungen diagnostizierte man das Asperger-Syndrom bei ihm, eine Form des Autismus, die soziale Schwierigkeiten und ein sich wiederholendes Verhalten einschließt, nicht jedoch einen Mangel an Kommunikations- oder Denkvermögen.

»Wir ließen ihn überall untersuchen, und jeder Arzt hatte eine andere Erklärung«, sagt Markram. Als Wissenschaftler, der klare Ergebnisse liebt, machte ihn diese Ungewissheit rasend. Kai verstehen zu wollen wurde Henry Markrams Obsession. Er hatte das Gefühl, dass die Neurowissenschaften zu kleinteilig arbeiteten. »Ich war nicht zufrieden mit dem bruchstückhaften Verständnis von unserem Gehirn; wir müssen das große Ganze verstehen. Jedes Molekül, jedes Gen, jede Zelle.«

Das Netz, das das Leben steuert: Nervenzellen mit Synapsen (lila).

Markram begann, alles über Autismus zu lesen, was er in die Finger bekommen konnte. Das war in den Neunzigern, als die Diagnose gerade Eingang in die Psychiater-Bibel DSM-III gefunden hatte. Der Film Rain Man mit Dustin Hoffman als autistischem »Savant« hatte 1988 die Idee in die Welt gesetzt, dass Autismus auch eine Quelle für eine unglaubliche, spezielle Intelligenz sein könnte. Noch in der Mitte des 20. Jahrhunderts hatte man Autismus dem Liebesentzug durch gefühlskalte Mütter zugeschrieben.

Die populärste Theorie geht heute davon aus, dass Autismus das Resultat einer Fehlfunktion gewisser Hirnareale ist, die für das soziale Verhalten verantwortlich sind. Nach der »Theory of Mind«, in den achtziger Jahren von Uta Frith, Alan Leslie und Simon Baron-Cohen entwickelt, bilden autistische Kinder erst spät die Fähigkeit aus, zwischen ihrem eigenen und dem Wissen anderer zu unterscheiden. Forscher haben diesen Mangel an perspektivischem Denken unglücklicherweise als fehlende kognitive Empathie eingestuft. So entstand der bis heute gängige Irrtum, es sei Autisten egal, wenn jemand sich verletzt oder Schmerzen fühlt. Autisten fehlt es nicht unbedingt an emotionaler Empathie. Sie können durchaus mitfühlen.

»Als wir damals auf die Forschung zu Autismus schauten, konnten wir es nicht glauben«, sagt Markram. »Jeder dachte, dass diese Menschen keine Emotionen haben. Aber Kai, so merkwürdig es klingen mag, konnte wirklich in dich hineinschauen, sogar viel tiefer als andere.« Er mochte auch menschliche Nähe.

1999 begann Markram, als Gastprofessor der University of California in San Francisco selbst auf dem Gebiet zu forschen. Sein Kollege Michael Merzenich vermutete bereits, dass Autismus durch ein Ungleichgewicht zwischen erregenden und beruhigenden Neuronen ausgelöst wird. Ein Fehler, durch den impulsive Aktionen nicht gebremst werden, so wie die plötzliche Bewegung von Kai, als er die Kobra anfasste. Diese Theorie war der Ausgangspunkt für die Arbeit Markrams und seiner zweiten Frau Kamila, die er in Österreich am Rande einer Konferenz kennengelernt hatte.

Kai Markram mit seinem Vater Henry, dessen Frau Kamila (rechts) und einer Mitarbeiterin an der Ecole polytechnique fédérale in Lausanne.

»Kamila war unglaublich«, sagt Markram: »Sie war mit Kai viel systematischer und konnte klare Regeln aufstellen. Und wir hatten nie das Problem, dass Kai seine Stiefmutter nicht mochte.« Seine Frau und er seien über den Stand der Forschung frustriert gewesen. Sie beschlossen, zunächst das Hirn auf möglichst simpler Grundlage zu untersuchen, und beauftragten die Studentin Tania Rinaldi Barkat, ein geeignetes Tiermodell zu suchen. Schon bald fand Barkat heraus, dass Ratten, die vor der Geburt mit dem Epilepsiepräparat Valproinsäure (VPS) behandelt worden waren, menschlichen Autisten am meisten ähnelten. Diese »VPS-Ratten« zeigen ein gestörtes Sozialverhalten und neigen dazu, Handlungen ständig zu wiederholen. Zudem ergab eine Studie 2005, dass schwangere Mütter, die VPS genommen hatten, ein siebenfach höheres Risiko hatten, autistische Kinder zur Welt zu bringen. Barkat machte sich an die Arbeit. Frühere Studien hatten gezeigt, dass das Timing und die Dosis entscheidend waren, am »besten« funktionierte es, wenn man den Ratten VPS am 12. Tag der Schwangerschaft gab. Zwei Jahre lang studierte Barkat die Neuronen der Ratten. Doch die Vermutung, dass die beruhigenden Neuronen bei Autisten weniger aktiv sind, konnte sie nicht belegen. Markram wollte die Versuche bereits abblasen, als Barkat darauf bestand, ein letztes Mal ins Labor zu gehen und statt der beruhigenden nun die Erregerneuronen zu betrachten. Das war der Durchbruch.

»Es gab einen Unterschied in der Erregbarkeit, und zwar im ganzen Netzwerk der Neuronen«, erklärt Barkat. Die VPS-Zellen reagierten doppelt so heftig wie normale Zellen und waren besonders stark untereinander verbunden. Hätte eine normale Zelle beispielsweise zehn Verbindungen gehabt, so hatte eine VPS-Zelle zwanzig. Die VPS-Zellen waren hyperaktiv. Mit der Folge, dass die Ratten sich schneller fürchteten und auch schneller lernten, wovor sie Angst haben sollten. Andersherum brauchte es lange, bis sie eine entschärfte Situation als gefahrlos erkannten. »Die Konditionierung auf Angst war extrem«, sagt Markram. »Wir schauten auf die Zellen im Amygdala-Hirnareal, und wieder waren diese hyperaktiv. Es schien alles einen Sinn zu ergeben.«

Den Markrams wurde klar: Eine Hyperreaktivität der Hirnareale, die für Wahrnehmung, Gedächtnis und Emotionen zuständig sind, könnte beides erklären – die Talente der Autisten und ihre Handicaps. Das Problem der VPS-Ratten war nicht, dass sie nicht lernen konnten. Sie lernten zu schnell, mit zu viel Angst, und ihre Lernerfahrung war nur schwer umkehrbar.

Die Markrams erinnerten sich an bestimmte Momente mit Kai: wie er seine Ohren zuhielt und sich weigerte, ins Kino zu gehen. Wie er laute Geräusche verabscheute und neues Essen nicht ausprobieren wollte. Die Idee einer zu intensiven Welt – plötzlich bekam sie eine praktische Bedeutung.

Das menschliche Gehirn versteht kaum jemand so gut wie Henry Markram (rechts), doch das seines Sohnes gibt ihm Rätsel auf.

Die VPS-Ergebnisse legten auch nahe, dass Autismus sich nicht nur auf ein Hirnareal beschränkt. Sowohl die Amygdala als auch der Kortex waren hyperreaktiv. Vielleicht, so dachten die Markrams, waren die sozialen Schwierigkeiten von Autisten keine Folge von neuronalen Defekten, sondern von Überforderung.

Kamila Markram vergleicht diese Überforderung mit einer Situation, in der man gleichzeitig unter Schlaflosigkeit leidet, einen Kater hat und einen Jetlag verarbeitet: »Alles schmerzt, sei es Licht oder sei es Lärm. Man zieht sich zurück.« Anders als Erwachsene können Kinder vor solchen Situationen jedoch nicht fliehen. Sie können nur schreien und sich hin und her wiegen. Später erst können sie mit Berührung, Augenkontakt und anderen starken Eindrücken umgehen.

Doch wenn kleine Kinder sich zurückziehen, verpassen sie die sogenannte »sensitive Phase«. Eine Entwicklungsphase, in der das Gehirn für äußere Einflüsse besonders empfänglich ist und sich anpasst. Diese Phase nicht zu erleben kann Probleme für den Rest des Lebens bedeuten. Etwa beim Erlernen von Sprachen: Wenn Kinder in ihren ersten drei Lebensjahren keine Sprache hören, wird ihre Fähigkeit, sich zu artikulieren, für immer beschnitten.

Sollte Ähnliches für Autismus gelten? Das würde bedeuten, dass diese Kinder ihre sozialen und sprachlichen Probleme nicht aufgrund neuronaler Schwächen hätten. Der Grund wäre vielmehr, dass wichtige Impulse im Chaos der Reize zuvor untergegangen waren. Bestimmte Stimuli, die für das Gehirn so wichtig sind, fehlen, weil Autisten dazu neigen, vor einer schmerzenden Reizüberflutung zu fliehen.

Die Markrams gingen noch weiter in ihren Schlussfolgerungen: Soziale Probleme sind womöglich kein fester Bestandteil von Autismus. Frühes Gegensteuern, ein Reduzieren der intensiven Reize der Umwelt könnte ihre Talente bewahren und gleichzeitig ihre Behinderungen mildern oder gar ganz vermeiden.

Die erste Veröffentlichung über ihre Intense-World-Theorie und die VPS-Ratten erschien 2007 in den renommierten Proceedings of the National Academy of Sciences, in weiteren Artikeln legten sie nach. Seitdem haben drei Dutzend Studien Markrams Versuche bestätigt und den Kenntnisstand erweitert. Die Verarbeitung äußerer Reize bei Autisten, der lange Zeit keine Beachtung geschenkt wurde, ist nun durch die Intense-World-Theorie und die VPS-Ratten wieder Teil der wissenschaftlichen Debatte. Dennoch sind die Reaktionen der Kollegen zurückhaltend. Eine Ausnahme ist Laurent Mottron, Professor für Psychiatrie und Leiter der Autismusforschung an der University of Montreal. Er war einer der Ersten, die die Wahrnehmungsprobleme als entscheidend für das Verständnis von Autismus erachteten, und das schon lange vor den Markrams.

Überraschend ist seine Unterstützung für die Intense-World-Theorie nicht, denn die passt gut zu seinen Erkenntnissen. Mottron war zunächst davon ausgegangen, dass die besseren Wahrnehmungsfähigkeiten von Autisten das Resultat eines Defizits waren. Ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten schienen auf einige einfache Bereiche beschränkt zu sein, während die Fähigkeiten bei kognitiv anspruchsvollen Aufgaben unterentwickelt waren. Doch das stellte sich bald als falsch heraus, denn auch beim Erkennen von visuellen Mustern, einer Aufgabe, wie sie oft in IQ-Tests vorkommt, waren Autisten deutlich besser. Inzwischen ist die Kompetenz von Autisten beim Erkennen und Bearbeiten komplexer Systeme sogar in der Wirtschaft anerkannt. Im Mai 2013 gab das deutsche Softwareunternehmen SAP bekannt, 650 Autisten einstellen zu wollen.

Aber selbst Simon Baron-Cohen, ein Mitbegründer der Theory of Mind und Leiter des Autismus-Forschungszentrums der University of Cambridge, findet die Markramsche Theorie inzwischen plausibel, dass die sozialen Defizite ein Resultat einer grundlegenderen Störung in der Wahrnehmung von Autisten sein könnten. Baron-Cohen merkt jedoch an, dass die meisten Autismusformen nicht durch VPS ausgelöst werden. Es könnte auch sein, dass die Wahrnehmungsunterschiede und die sozialen Defizite nebeneinander existieren, ohne dass das eine der Auslöser des anderen ist.

Uta Frith, die mit Baron-Cohen forscht, sieht Markrams Theorie deutlich kritischer. »Ich will nicht sagen, dass das alles Quatsch ist, aber ich denke, sie versuchen zu viel auf einmal zu erklären.«

Betroffene Familien begrüßen die neue Theorie dagegen. »Viele der Besonderheiten des Autismus erklärt die Intense-World-Theorie besser als die bisherigen Theorien«, erklärt Ari Ne’eman, Präsident des Autistic Self Advocacy Network in den USA. Er und andere Autisten hatten erkämpft, dass in die aktuelle Version des Psychiaterhandbuchs DSM-5 die Wahrnehmungsprobleme in die Diagnose aufgenommen werden.

Bei einem Besuch bei den Markrams in Lausanne trägt Kai einen himmelblauen Kapuzenpulli und graue Chucks ohne Schnürsenkel. »Meine Rapper-Schuhe«, sagt der heute 20-Jährige und grinst. Kai spricht Hebräisch und Englisch und lebt sonst mit seiner Mutter in Israel, dort besucht er eine Schule für Lernbehinderte. Sein Verhalten wirkt selbstvergessen, und manchmal starrt er grundlos in eine Richtung. Aber wenn er spricht, ist klar zu erkennen, dass er kommunizieren will. Gefragt, ob er glaubt, Dinge anders zu sehen als der Rest, sagt er: »Ich fühle die Dinge auf eine andere Art.«

»Ich war kein guter Junge, ich habe um mich geschlagen und eine Menge Probleme gemacht«, sagt Kai über seine Vergangenheit. »Ich war so, weil ich nicht wusste, was ich tun sollte. Aber ich bin erwachsen geworden.« Die Familie nickt. Die Kombination aus der Hilfe von der Schule und seiner Familie, ein neues Medikament und ein besseres Verständnis für seine Empfindlichkeit haben Kais autistische Behinderung gelindert. Er hat gewaltige Fortschritte gemacht, doch seine Eltern glauben, dass sein Gehirn noch viel mehr leisten kann.

Familienbande: Henry Markram und seine Frau Kamila (links), Kai und seine Schwester.

Wenn Autisten lernen könnten, das Reizgewitter um sie herum zu filtern, gerade in jungen Jahren, würden sie zeigen, dass sie die begabtesten Menschen überhaupt seien. »Es ist keine geistige Behinderung«, sagt auch Henry Markram. »Ja, Kai hat Einschränkungen, aber irgendwas spielt in seinem Hirn verrückt. Es ist, als hätte er meine Macken, nur heftiger.« Eine davon ist das Beharren auf Pünktlichkeit. »In meinem Fall ist das ein Vorteil, denn es bedeutet, dass ich einhalte, was ich verspreche.« Aber in Kais Fall ist es extremer. Etwa vor Reisen: »Er sitzt dann da, plant etwas und zieht es genauso durch. Er steigt in das Flugzeug, komme, was wolle.« Sollte Kais Hirn wirklich feiner eingestellt sein als das seines Vaters, wäre er in der Lage, noch brillanter als dieser zu werden.

In den Büros von Markrams Human Brain Project in Lausanne können Besucher erahnen, wie es sich anfühlt, diese besonderen Fähigkeiten zu haben. In einem kleinen Vorführraum mit saphirfarbenen Sitzen werden 3-D-Brillen ausgeteilt. Sobald die Lichter ausgehen, fliegen die Besucher durch ein hell gefärbtes, animiertes Netzwerk von Neuronen, die so scharf umrissen sind, als könnte man sie jederzeit anfassen. Die Animation zieht einen dermaßen in ihren Bann, dass man kaum den Erklärungen zuhören kann, die das Projekt beschreiben. Wenn dies auch nur ansatzweise zeigt, wie sich Kais Leben anfühlt, dann ist leicht zu verstehen, wie überfordert er in jungen Jahren gewesen sein muss.

Kritiker der Intense-World-Theorie halten dagegen, dass all dies Wunschdenken sei: der Eltern, die ihre Kinder in einem besseren Licht sähen, der Autisten, die ihr soziales Stigma bekämpfen wollten. Bei einigen Arten von Autismus handele es sich nun mal um eine geistige Behinderung.

»Wenn man eine Person mit Autismus gesehen hat, dann hat man genau eine Person mit Autismus gesehen«, sagt Matthew Belmonte, der am Groden Center auf Rhode Island das Phänomen erforscht. Man könne zwar annehmen, dass Autisten eine Form von Intelligenz hätten, die nicht einfach zu messen sei, sich aber von Fall zu Fall stark unterscheide. »Biologisch gesehen, ist Autismus nicht immer ein und dieselbe Krankheit. Es gibt eine Menge möglicher Gründe«, sagt Belmonte. Die Intense-World-Theorie könne vielleicht für manche Autismusformen die Erklärung liefern, für andere aber sicher nicht.

Kamila betont jedoch, ihre Daten würden belegen, dass die am stärksten Behinderten eigentlich die begabtesten seien. »Wenn man sich das Ganze physiologisch anschaut, sind die Gehirne dieser Autisten besonders stark vernetzt.« Die Frage wäre dann nur, wie man dieses Potenzial freisetzt.

Die Idee, dass ein unfassbares Potenzial im Autismus schlummert, löst unter Autisten inzwischen auch Angst vor einem neuen Stigma aus. »Menschen müssen einen Wert haben, egal, ob sie besondere Talente haben oder nicht. Wenn die Gesellschaft uns nur akzeptiert, weil wir tolle Sachen können, dann ist das keine wirkliche Akzeptanz«, sagt Ari Ne’eman vom Selbsthilfe-Netzwerk der Autisten in den USA.

Die Markrams untersuchen derzeit, ob eine ruhige, berechenbare Umgebung den VPS-Ratten helfen könnte, die sozialen Schwierigkeiten zu mindern und das bessere Lernvermögen zu fördern. Neuere Arbeiten legen nahe, dass Autismus bereits bei zwei Monate alten Babys diagnostiziert werden kann. Das würde die Behandlungsmöglichkeiten immens erweitern. Die ersten Daten sähen vielversprechend aus, sagt Kamila Markram. Unerwartete Geschehnisse scheinen das Verhalten der Ratten zu beeinträchtigen, während eine klar strukturierte, sichere Einführung neuer Dinge besser für sie zu sein scheint.

In der Wissenschaft gibt es allerdings eine Tendenz, Theorien bestätigen zu wollen. Um ihre eigenen Ideen zu unterstützen, neigen Forscher dazu, Regeln zu großzügig auszulegen, willentlich oder unbewusst. Wissenschaftliche Methoden haben darum vor allem das Ziel, dieser Parteilichkeit entgegenzuwirken – durch Studien, bei denen weder Patient noch Arzt wissen, wer das neue Mittel und wer das Placebo bekommt.

Leicht haben die Markrams es sich allerdings nicht gemacht. Hätten sie gesagt, dass ihre Theorie nur für bestimmte Autismusformen gilt, wäre ihre Theorie viel schwieriger zu widerlegen. Stattdessen entschieden sie sich für einen anderen Weg.

In einer Veröffentlichung von 2010 präsentierten sie eine Liste von möglichen Forschungsergebnissen, die ihre Theorie widerlegen könnten. Dazu könnten auch Fälle gehören, in denen Autisten keine hyperreaktiven Hirnareale haben. Oder der Beweis, dass Hyperreaktivität nicht zu Defiziten in Wahrnehmung, Gedächtnis und Empfinden führt. Bisher jedoch haben alle neuen Studien die Theorie der Markrams gestützt. Sollte sie sich als richtig herausstellen, müssen wir nicht nur unser Bild von Autismus gründlich überdenken, sondern auch der Frage nachgehen, wie Menschen überhaupt auf die ungeheure Datenflut des modernen Lebens reagieren.

From left: Kamila, Henry, Kai, and Anat

Text: Maia Szalavitz
Fotos: Darrin Vanselow
Übersetzung: Haluka Maier-Borst und Niels Boeing
(c) MATTER und ZEIT Wissen

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