Nina Roßmann
3 min readMar 3, 2015

von James Riney, übersetzt von Nina Roßmann

Warum Japaner nicht auf LinkedIn sind

Stellen Sie sich vor, Sie sind auf einer Konferenz in Tokyo. Wie es der Brauch in Japan so will, tauschen Sie mit jeder Person, die Sie treffen, förmlich Visitenkarten aus. Sie verbeugen sich leicht und geben deutlich zu verstehen, dass Sie die Karte eingehend studiert haben, bevor Sie sie wegstecken. Das ist eine wichtige Geste. Nicht nur, weil Ihnen jemand erklärt hat, dass man das hier so macht, sondern auch, weil Sie keine Ahnung haben, wer diese Person sein könnte. Man kann nie wissen, vielleicht ist es ja der frühere CEO von Toyota. Sie gehen lieber auf Nummer sicher und nehmen sich vor, sie später auf LinkedIn zu suchen.

Mit Ihrem Stapel Visitenkarten kehren Sie ins Hotel zurück und beginnen, die Namen zu suchen … aber: „kein Ergebnis“.

Zwei Stunden später bekommen Sie fünf Facebook-Anfragen von Personen, die Sie an diesem Tag getroffen haben. „Warum adden die mich?“, fragen Sie sich. „Wissen die nicht, dass man Berufliches und Privates besser trennen sollte?“

Die Erfahrung, die Sie hier machen, ist, dass Japaner kein LinkedIn verwenden. Sie verwenden Facebook. Sowohl Facebook als auch Twitter erfreuen sich in Japan großer Beliebtheit. LinkedIn, warum auch immer, jedoch nicht.

Ein Grund, warum das so ist, könnte in der Art und Weise liegen, wie die meisten Japaner Twitter sehen. In einer Kultur, in der viele immer noch nach einer möglichst langen oder sogar lebenslangen Beschäftigung bei der gleichen Firma suchen, wird LinkedIn nur als eine weitere Jobbörse wahrgenommen. Sollten ihre Chefs sehen, dass sie Profile auf LinkedIn haben, wäre das reiner Karriere-Selbstmord!

Ein weiterer Grund, könnte das grundlegende Konzept von LinkedIn sein. Nutzer erhalten eine leeres Profil, das sie mit ihren Karriere-Erfolgen füllen sollen (eine Art Lebenslauf). Das ist ein Problem, da Japaner nicht so offen über ihre Errungenschaften prahlen wollen. In einem amerikanischen LinkedIn-Profil lassen sich beispielsweise Beschreibungen wie diese finden: „steigerte den Umsatz von $5M auf $20M innerhalb des ersten Jahres und verdreifachte gleichzeitig die Gewinne“. Ein Japaner würde nur in den allerwenigsten Fällen so über sich selbst sprechen.

Das soll nicht heißen, dass Japaner nicht prahlen. Sie tun es nur indirekt. Sie prahlen bescheiden, wenn man so will. Während auf LinkedIn erwartet wird, dass man seine Leistungen ganz unverblümt beschreibt, kann man auf Facebook implizit verbreiten, dass man dies oder jenes erreicht hat, dass man diese oder jene Person kennt oder an einem bestimmten Projekt mitgewirkt. Facebook ist sozusagen die ultimative Plattform für „bescheidenes Prahlens“.

Und noch ein weiterer Faktor spielt eine Rolle: Man macht lieber mit jemandem Geschäfte, den man mag, als mit demjenigen, der einem das bessere Angebot macht. In Japan ist dies besonders stark ausgeprägt. Geschäfte basieren häufig auf engen Beziehungen, die aufgebaut und gepflegt werden müssen. Eine Möglichkeit, einander kennenzulernen, ist es, Geschichten aus seinem Privatleben zu teilen — und das ist es, was Facebook ihnen ermöglicht: Einblicke in das Leben des anderen zu erlangen.

Viele (ich selbst eingeschlossen) haben versucht, ein „japanisches LinkedIn“ zu erschaffen, aber wir sind gescheitert. „Verstehen die Japaner denn nicht, dass man ein berufliches soziales Netzwerk braucht?“, haben wir uns alle gefragt. Die Antwort ist zwar „ja“ — aber was wir nicht erkannt haben, ist, dass Facebook dieses soziale Netzwerk ist.

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