Entkabelung in der Belle Époque

Palais des Beaux Arts
Palais des Beaux Arts Wien
8 min readApr 1, 2018

Erik Born, 2016

Ein Photoessay von Erik Born

A cable, marvelous as it is, maintains a tangible and material connection between speaker and hearer: one can grasp its meaning. But here is nothing but space, a pole with a pendent wire on one side of a broad, curving ocean, an uncertain kite struggling in the air on the other — and thought passing between.

— Ray Stannard Baker, 1902

The wireless telegraph is not difficult to understand. The ordinary telegraph is like a very long cat. You pull the tail in New York, and it meows in Los Angeles. The wireless is the same, only without the cat.

— Albert Einstein, 1938

I. Verkabelung in der Stadt, ca. 1890

„Telephonverkabelung. New York [ca.] 1888“
Quelle: Friedrich Kittler, Gramophon Film Typewriter, S. 14.

Verkabelung. Unter einem dichten Spinnennetz sind mehrere Fußgänger zum Stillstand gekommen, um dieses Spektakel der Infrastruktur zu betrachten.

Im Zentrum des Bildes steht ein Telefonmast, der als Träger für die sich verzweigenden Kommunikationswege dient. Auf der dritten Stufe des Masts befindet sich entweder ein Lauscher oder ein Reparateur. Unter ihm machen ein paar Fußgänger aus Neugier eine kleine Pause, darunter zwei Geschäftsmänner und ein Straßenhändlerin mit ihren Kundinnen.

Angesichts der Kabel fragen sie sich vielleicht “Wie kam es zu so einer Verkabelung?”

“Disorderly wires on Lower Broadway about to be cut down”
Quelle: Harper’s Weekly Nr. 33, S. 601.

Um 1900 waren solche Bilder der Kabelverbindungen in der Stadt populär, als das Telegraphen-, Telefon- und Stromnetz schnell ausgebaut wurde. Die übliche Szene stellte eine Gruppe von Stadtbewohnern, die ihren Tätigkeiten nachgehen dar, und die keine Notiz von der schwebenden Technologie über ihren Köpfen nehmen.

Der Kabelsalat deutet nicht nur auf die Grenzen der damaligen Kabeltechnologie hin, sondern auch auf die Entstehung der Kabeldienstleistung. Um mit der Nachfrage Schritt zu halten, wurde üblicherweise jede Telefonleitung einzeln mit jedem neuen Abonnement eingerichtet. Damals gab es kein praktisches Mittel, das verschiedene Drähte in einem Kabel bündeln hätte können, obwohl sich Techniken zur Übertragung von mehreren Botschaften auf gleichem Kanal entwickelten.

“Removing the telegraph poles in Union Square, New York City”
Quelle: Harper’s Weekly Nr. 33, S. 337.

Zur Bündelung der Telegrafendrähte bzw. deren Isolierung in der Öffentlichkeit diente der in der Mitte des 19. Jahrhunderts eingeführte Telegrafenmast. Als ursprünglich nicht beabsichtigte Verwendungsmöglichkeit der Konstruktion sollte sich der Lynchmord erweisen.

In den 1890er Jahren wurden Telefon- und Telegrafenmasten in stark frequentierten Bereichen zunehmend ausgebaut. Während der Draht eine „unmittelbare“ Kommunikation ermöglichte, stellte er auch eine Bedrohung im städtischen Raum dar, konnte doch ein ungeschützter, abgestürzter Draht dem zufälligen Passanten zum tödlichen Verhängnis werden.

“Model pole line on First Avenue”
Quelle: Harper’s Weekly Nr. 33, S. 596.

Die Kabelinfrastruktur zog schrittweise aus dem Stadtzentrum zum Stadtrand um. Um die planlose Infrastruktur zu ersetzen, wurden Drähte durch verschiedene Techniken gebündelt und die Höhe der Masten erhöht.

Aus den Augen, aus dem Sinn. Schließlich erwecken solche Bilder den Eindruck, die beängstigende Kraft der Elektrizität sei unter Kontrolle.

II. Drahtlose Zukunftsvisionen aus der Belle Époque

“Un quartier embrouillé” [Ein verkabeltes Quartier]
Quelle: Albert Robida, Le Vingtième siècle. La vie électrique, S. 128–129.

Während realistische Bilder den Draht nur am Rand des Rahmens darstellten, konnten satirische Bilder den Menschen mit seiner Technologie auf der gleichen Ebene einrahmen.

„Wo sollen wir bloß bleiben, — wenn doch alles drahtlos wird!“
Quelle: Buen Humor, Madrid, Nachdruck in C.K. Roellinghoff „
Radio im Humor“, S. 80.

Um 1900 waren viele davon überzeugt, die Einführung der drahtlosen Telegraphie bedeute das Ende des Kabels. Wie ein Ingenieur es ausdrückte:

“Telegraphy without wires — how attractive it sounds. No more unsightly pole lines disfiguring the streets and highways, ornamented with the dangling skeletons of by-gone kites. No more perpetual excavation of the streets, to find room beneath their surfaces for additional circuits that cannot possibly be crowded on to the staggering lines that darken the sky with their sooty cobwebs.”

“F.H. Collins. Magneto Ear Phone”
Quelle: U.S. Patent Nr. 622,328 (4. April, 1899); Nachdruck in Grant Wythoff, “Pocket Wireless,” S. 40.

Einer der Hauptreize der drahtlosen Telegraphie, nach Grant Wythoff, war das Versprechen, die Körper der einzelnen Nutzer in die unermessliche Kabelinfrastruktur einzubinden, was eine neue Teilnahme an der Öffentlichkeit in Form von „Taschenfunk“, nicht unähnlich dem Smartphone, ermöglichen sollte.

Die antizipierten Fähigkeiten solcher Gadgets ließen technische Realitäten leicht hinter sich. In diesen Zukunftsvisionen hingen aber Science und Fiction immer noch voneinander ab.

„Drahtlose Telephonie. Eine Allegorie von Ernst Lübbert“
Quelle: Robert Sloss „Das drahtlose Jahrhundert“ in Die Welt in Hundert Jahren, S. 41.

Schon 1910 formulierte der Journalist Robert Sloss Prognosen im Hinblick auf das kommende „drahtlose Jahrhundert“. Der Text verbindet die fiktive Erzählung einer Polarforschung mit einer konkreten Beschreibung von neuen Entwicklungen aus dem Gebiet der drahtlosen Telegraphie und Telephonie. Unter seinen Prognosen für mögliche Anwendungen der Funktechniken findet man etwa die Möglichkeit, Kontakt mit einem Familienmitglied aufzunehmen, ein Opernstück zu Hause zu empfangen, ein Brautkleid virtuell zu kaufen und sogar ein Luftschiff mit drahtloser Energie zu versorgen.

In einer auffälligen Mischung des Indikativs und des Konjunktivs verhandelte Sloss den Stand der drahtlosen Technologien an der Schwelle zwischen dem Realen und dem Imaginären:

„[A]lles, was in dem bisherigen Gang der ‘Erzählung’ so wunderbar sich angehört hat, sind Probleme, die heut schon gelöst sind und die keineswegs mehr in das Gebiet der frommen Wünsche oder der überspannten Hoffnungen und Erwartungen gehören. Nein, es sind Tatsachen, die nur darauf warten, in unser praktisches Leben eingeführt zu werden“.

Diese Mischung aus Fakten und Fiktionen — auch deutlich in der den Text begleitenden allegorischen Gravur — unterstreicht Sloss’ utopische Vorstellung einer kommenden drahtlosen Welt.

“The Wireless Era will create a State like the Socialist Dream”
Quelle: Ivan Narodny, “
Marconi’s Plans for the World”.

Die drahtlose Revolution enthielt das Versprechen, nicht nur die gewöhnliche Kabelinfrastruktur abzuschaffen, sondern auch eine neue grenzenlose Welt zu ermöglichen. Ein Funksignal ist für jeden, der einen Empfänger besitzt, universell verfügbar — zumindest in der Theorie, was als Zeichen sozialer Gleichheit gelesen wurde. Schließlich dachte man, die drahtlose Technologie fördere den freien Verkehr, eine Hauptvoraussetzung des Fortschritts seit der Aufklärung.

Im Nachhinein ist es wahrscheinlich einfacher, die damaligen Prognosen über Gadgets zu identifizieren, da viele davon in Erfüllung gegangen sind, wohingegen es schwieriger ist, Prognosen über soziale und politische Folgen von drahtlosen Infrastrukturen auszumachen, da die meisten davon Spekulationen geblieben sind.

III. Lob der Drahtlosen Infrastruktur

„Für das kommende Frühlingsreinemachen. Vorrichtung zur Säuberung der Antenne“
Quelle: Zeichnung von Heath W. Robinson, Nachdruck in C.K. Roellinghoff „
Radio im Humor“, S. 85

Infrastructure is not sexy”, wie der Comedian John Oliver sagt. Nur Störungen in einer Infrastruktur werden in der Öffentlichkeit wahrgenommen. Sonst ist eine der Hauptmerkmale der Infrastruktur ihre Unsichtbarkeit.

Was drahtlose Technologien betrifft, ist für diese Unsichtbarkeit nur zum Teil die Unsichtbarkeit des Übertragungsmediums verantwortlich. Wie die Medienwissenschaftlerin Lisa Parks beobachtet:

“We describe ourselves as a ‘networked society’ and yet most members of the public know very little about the infrastructures that support such a designation — whether broadcasting, web, or wireless systems.”

Nach Parks hat die Unsichtbarkeit der drahtlosen Technologien Folgen für die verbreitete Unkenntnis der Funktionsweisen drahtloser Netzwerke.

“Antenna support structure”
Quelle:
U.S. Patent Nr. US5611176 A (18. Mar. 1997).

Heutzutage werden die Mobilfunkantennen innerhalb statt außerhalb der Unterhaltungselektronik montiert. Antennen werden auf Satelliten in die Erdumlaufbahn geschossen. Funktürme werden entweder an den Stadtrand ausgelagert, oder “in plain sight” versteckt, in Masten auf Segelbooten, Getreidesilos, Glockentürmen, Fahnenmasten, Kirchtürmen oder Gipfelkreuzen. Künstliche Strukturen werden auch so gestaltet, dass sie als natürliche Strukturen wahrgenommen werden, wie im merkwürdigen Fall des „Antennenbaums“.

Wie Peter Schaefer argumentiert, fördern die Verdrängung der Technologie und die Betonung des Immateriellen “a teleological narrative of physically connected data transfer systems progressing to lighter, cleaner networks that are increasingly disconnected from the natural world”.

„Eine unangenehme Weihnachtsüberraschung“
Quelle: Zeichnung von Heath W. Robinson, Nachdruck in C.K. Roellinghoff „
Radio im Humor“, S. 82–83.

Viele Befürworter einer sogenannten Konvergenz von Mobilfunk und Internet plädieren für die Ersetzung der Kabel- durch Kabelloseninfrastrukturen, was die Zugänglichkeit der Dienste erhöhen, die Kosten senken und die Notwendigkeit eines materialen Trägers überhaupt abschaffen soll. Gegen diese Annahmen versuchen Medienwissenschaftler in letzter Zeit die materialen Untermauerungen sogenannter immaterialen Technologien zu untersuchen.

Nach ihrer Auseinandersetzung mit dem Antennenbaum zielt Lisa Parks darauf, das allgemeine Wissen und die Kompetenzen im digitalen Bereich weiter zu erhöhen, indem sie Feldforschung und historische Karten von “signal territories” zusammenbringt.

Nach einem ähnlichen Ansatz untersucht Nicole Starosielski die Geschichte des Seekabels in The Undersea Network, ein Buch begleitet von einem interaktiven Digital Mapping Projekt.

Mit Hilfe von Adrian Mackenzies Theorie der „Drahtlosigkeit“ erläutert Jussi Parikka die kritischen Ingenieurtechniken, die als Inspiration für die Funkgeräte von der Künstlergruppe Weise 7 fungieren.

In Tubes: A Journey to the Center of the Internet leistete der Journalist Andrew Blum einen wichtigen Beitrag zur Popularisierung dieser Arbeit mit Berichten über Datenzentren, unterirdische Glasfaserkabel und die Techniker, die diese erzeugen und bedienen.

Viele dieser Stränge wurden in einer Sonderausgabe von Amodern zum Thema “Network Archaeology” zusammengeführt, in der dafür plädiert wird, den Forschungszweig „Medienarchäologie“ nicht auf die Gegenstände allein zu beschränken, sondern ihn um die Verbindungen zwischen den Gegenständen zu erweitern.

„Telefunkenstation / Gruss vom Weinburg Nauen Stadtforst“
Quelle:
Geschichtsspuren.de

Zu diesen Studien würde ich noch anmerken, dass wichtige Varianten und Argumentations-Vorläufer zu heutigen Strategien der Verheimlichung und Verdrängung drahtloser Technologien in der Geschichte zu finden sind.

Am Anfang des 20. Jahrhunderts neigten die Städte dazu, ihre Infrastrukturen eher zu feiern. Es gab eine ganze Gattung von „Funkgedichten“, großteils Oden an verschiedene Funktürme, und diese Funktürme selbst lockten tausende Besucher im Jahr an. Auf Postkarten im 19. Jahrhundert war der Schornstein ein beliebtes Motiv, da er auf den industriellen Forstschritt deutete, wenn es auch zu seltsamen Bildern von mit Smog bedeckten Reisezielen führte. Analog dazu wurde im 20. Jahrhundert der Funkturm zum beliebten Motiv, da er auf die technologische Fortschrittlichkeit eines Gebiets deutete.

„Im drahtlosen Zeitalter!“
Quelle: Zeichnung von Barlog, Nachdruck in C.K. Roellinghoff „
Radio im Humor“, S. 87.

Die moderne drahtlose Telekommunikation basiert auf dem nicht sichtbaren Medium der elektromagnetischen Wellen und diese Unsichtbarkeit spiegelt sich in der Ikonographie des WLAN-Netzes — kein Kabel, keinen Schalter, keine Gadgets, sondern nur einen Hinweis auf Funken, Wellen und Strahlen. In einem anderen Sinn blieben drahtlose Infrastrukturen dennoch „sichtbar“, nämlich indem sie zur Reflexion und Verhandlung in der Politik der Sichtbarkeit in der Moderne selbst beitragen.

Zugleich unsichtbar und materiell, befördern drahtlose Medien letztendlich ein Überdenken jenes visuellen Modells, das die Moderne bedeutet.

Erik Born ist Doktorand an der University of California, Berkeley, wo er eine Dissertation über die Vor- und Frühgeschichte von Rundfunk und Fernsehen schreibt.

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