Die Gegenposition: Wissenschaftler müssen Aktivist:innen sein!

Luca Tielke
Politik und Zeitgeschehen
4 min readSep 2, 2024

Der Soziologe Martin Schröder sorgt sich in einem Gastbeitrag in der ZEIT um den Ruf der Wissenschaft. Welch hehres Ziel. Leider völlig unbegründet.

Zwei Perspektiven, ein Werkzeug — das ist Wissenschaft in Aktion. | Photo by National Cancer Institute on Unsplash

Das Ende naht. Jedenfalls wenn man Martin Schröders mahnenden Gastbeitrag in der ZEIT vom 22.03.2024 ernst nimmt. Dort suggeriert der Soziologe per Fingerzeig, dass die Wissenschaft in akuter Gefahr wäre. Entgegen allgemeiner Intuition käme diese Gefahr allerdings nicht von rechtsaußen, sondern von innen. Aktivistische Soziolog:innen, so Schröder, würden zunehmend das Neutralitätsgebot der Wissenschaft untergraben und ihren Feinden damit Tür und Tor öffnen. Daher sei unbedingt Einhalt geboten, um die Wissenschaft vor ihrem Untergang in einem linken Sumpf der Weltverbesserungsideen zu bewahren! Großgütiger! Aber der Reihe nach.

Argument 1: Aktivistische Soziologie in Florida

Zum Einstieg führt Schröder als Argument das Beispiel der Soziologie im zuletzt für Freiheitsrechte immer weniger sonnigen Florida an, wo es erst kürzlich als Kernfach in Universitäten abgeschafft wurde. Statt sich nun aber über diesen bedrohlichen Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit massiv zu empören, betreibt Schröder viel lieber klassisches victim-blaming. Die American Sociological Association hätte sich das, Zitat, “selbst eingebrockt” — weil sie die Welt verbessern wollte (was in diesem Fall in etwa soviel heißen könnte wie Florida vom Faschismus zu befreien).

Dieses Argument ist auf mehreren Ebenen problematisch. Nicht nur stellt Schröder die rechtsextreme DeSantis-Regierung als eine völlig ‘normale’ Regierung dar, er ignoriert auch gekonnt die Tatsache, dass es den Feinden der Wissenschaft doch völlig egal ist, wie die Wissenschaft funktioniert — sie sind so oder so dagegen, egal ob aktivistisch oder nicht. Und was heißt schon aktivisch in diesem Fall? Für DeSantis ist es vermutlich schon hochgradig aktivistisch, die Geschichte der Sklaverei zu erforschen. Möglicherweise würde Schröder dies noch nicht als “linken Aktivismus” bezeichnen. Aber er muss sich dennoch die Frage gefallen lassen, warum die Erforschung von Phänomenen, die in der westlichen Wissenschaftspraxis historisch systematisch vernachlässigt worden sind, schon “aktivistisch” sein soll.

Argument 2: Aktivistische Forschungsanträge in Deutschland

In seinem nächsten Argument berichtet er nämlich von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die in Forschungsanträgen eine Erklärung zur Relevanz von Geschlecht und/oder Vielfältigkeit fordert. Das empört Schröder so sehr, dass man den Eindruck bekommt, sein eigener Antrag sei mit der Begründung “keine Relevanz” abgelehnt worden.

Denn es ist nicht gerade plausibel, warum sein Gegenvorschlag “Weltfrieden/Demokratie/Toleranz” weniger aktivistisch sein soll als “Geschlecht und/oder Vielfältigkeit”. Er behauptet selbst, dass es der Wissenschaft nicht gut täte, “wenn man probiert, sie auf politische Ziele festzulegen”. Aber ist “Weltfrieden/Demokratie/Toleranz” nicht auch ein politisches Ziel? Und überhaupt: zu fordern, die Wissenschaft sollte keinen politischen Zielen nacheifern — das ist nicht weniger politisch. Schröder tut gerade so, als gebe es das Unpolitische — was aus politikwissenschaftlicher Perspektive natürlich entsetztes Kopfschütteln meinerseits hervorruft.

Argument 3: Aktivistische Tipps von Max Weber

Das ist auch bei Schröders letztem Argument der Fall. Hierzu bedient er sich des soziologischen Klassikers Max Weber und huldigt den für seinen Kampf für Werturteilsfreiheit in der Wissenschaft. So hätte Weber stets betont, Wissenschaftler sollten bloß erforschen, “wie die Welt ist” und nicht ihre Autorität missbrauchen, um anderen einzureden, “wie die Welt sein sollte”. Abgesehen davon, dass dies ein regelrechter Frontalangriff auf mein wissenschaftliches Zuhause der Politischen Theorie ist — Schröder macht es sich auch schlicht zu einfach, wenn er alle Wissenschaften in einen Topf wirft.

Selbstverständlich sollte es in den Naturwissenschaften darum gehen, die Welt möglichst unvoreingenommen zu erklären. Die Wissenschaften hingegen, die sich mit dem Menschen beschäftigen, können nicht einfach nur erklären, wie die Welt ist — sie müssen auch zumindest ab und zu darauf eingehen, wie die Welt sein sollte.

Führen wir uns das an einem Beispiel vor Auge. Nehmen wir an, das Ergebnis werturteilsfreier Forschung ist, dass die Hälfte der Bevölkerung systematisch unterdrückt wird, indem ihr weniger Rechte zugesprochen werden; so besitzt sie etwa kein Wahlrecht. Schröder dürfte in diesem Falle nicht dazu aufrufen, dieser unterdrückten Hälfte der Bevölkerung ein Wahlrecht zu geben. Schließlich lässt sich die Schlussfolgerung, diese systematische Unterdrückung sei ungerecht, nicht empirisch beobachten. Gerechtigkeit ist eine dezidiert normative Angelegenheit — und damit wäre eine Forderung zur Einführung eines Wahlrechts eine Aussage darüber, wie die Welt sein sollte. Und die will Schröder ja nicht tätigen.

Damit unterschreibt er ein ganz gefährliches Wissenschaftsverständnis. Denn wenn man die Welt, so wie sie ist, nur beobachten wollte, ohne daraus Schlüsse zu ziehen, dann könnte man es auch gleich sein lassen. Und selbst wenn ich werturteilsfrei beobachte, was ist so verwerflich daran, daraus politische Schlussfolgerungen abzuleiten? Das ist in einer Demokratie doch mein gutes Recht — und gewissermaßen sogar meine Pflicht. Und überhaupt: warum sollten wir aus Rücksicht vor den Feinden der Wissenschaft diese nach deren Vorstellungen (um-)gestalten? Wenn meine Forschungserkenntnis ist, dass die Wissenschaft von Rechten vereinnahmt wird, sollte ich dann stillschweigen und warten, bis es jemand aus der Politik merkt? Oder sollte ich nicht viel lieber laut aufschreien, um die Wissenschaft eben davor zu retten?

Fazit: Aktivismus in der Wissenschaft — ja bitte!

So oder so — Schröders Sorgen um die Wissenschaft sind nichts als neubürgerliche Luftschlösser. Wir sollten uns deswegen nicht verrückt machen. Die größte Gefahr der Wissenschaft kommt nicht von innen, sondern von rechtsaußen. Aktivismus in der Wissenschaft ist also zwingend Pflicht.

Dahinter steckt übrigens eine wertvolle Einsicht: Den größten Beitrag für eine bessere Welt leistet die Wissenschaft, wenn sie auf Basis von Erkenntnissen darüber, wie die Welt ist, aufzeigt, wie die Welt sein sollte.

Wer schweigt, macht sich schließlich mitschuldig.

Luca Tielke ist ein Student der Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Politische Theorie.

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Luca Tielke
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writing about philosophy, politics, and society. and also movies. and sometimes photography. but never bs.