Ohne Hoffnung in Biloxi

Marc Bädorf
9 min readMar 20, 2017

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Reste des Palace Casinos in Biloxi (Mississippi) | Jennifer C. Wallis, U.S. Air Force (no copyright)

Unseren Autor zieht es südwärts, an den Golf von Mexiko, in die Heimat der Schleimfische und der Menschen von Biloxi, deren Leben vor 11 Jahren über Nacht jäh zerissen war — in eine Stadt, die ihre Zukunft verspielt.

An der Küste Biloxis stehen Casinos, deren Anblick Traurigkeit einflößt. Ihr Beton schluckt das Rauschen des Golfes von Mexiko, der nur wenige Meter hinter den Parkhäusern der Casinos mit dünnen Schaumkronen auf Land trifft, die merkwürdig violetten Fenster des Hard-Rock-Casinos verwischen den Blick ins Innere und spiegeln den Hineinblickenden auf unvorteilhafte Weise, durch den zu grünen Rasen nur unzureichend versteckte Lautsprecher spielen Falco, dessen Deutsch-Englisch-Gemisch vom leichten Wind über die Promenade getragen wird, was falsch vorkommt, denn die Casinos stehen an der Küste des US-Bundesstaats Mississippi, weit weg von Österreich.

Biloxi war nicht immer so grausig, aber wurde 2005 von einer Katastrophe heimgesucht, die die Stadt veränderte. Es war nicht so, dass die Einwohner Biloxis nicht geahnt hätten, dass sie das Glück bald verlassen würde, an diesem Morgen des 29. August 2005, in dessen frühen Stunden Hurricane Katrina die Schönheit New Orleans unter einer neun Meter hohen, dreckigen Brühe begraben hatte, die Menschen zur Flucht auf die Dächer trieb, die, die es nicht mehr hoch schafften, wurden später unten gefunden, unter Holz und Kühlschränken und Autos, tot, Wasser in den Lungen.

Die Menschen 80 Meilen weiter, in Biloxi, wussten, dass ihnen etwas Ungeheuerliches droht, doch sie liefen nicht weg, sie blieben zu Hause, was sich im Nachhinein als falsche Entscheidung herausstellte. Sie hatten schon einmal einen Sturm erlebt in Biloxi, den Hurricane Camille 1969, der zwar fast 100 Menschen getötet hatte und so stark war, dass die meteorologischen Messinstrumente versagten, aber die, die 2005 noch in Biloxi waren, hatten den Sturm ja überlebt und wussten nicht, warum sie das nun nicht wieder tun sollten.
Katrina war ein Hurricane, der Wind brachte und Regen, doch das schlimmste war das Wasser, das sich aus dem Meer zu einer gewaltigen Welle formte und Strommasten mit sich nahm und Häuser. Ein Hurricane, dessen Wasser dreckiger wurde und dreckiger, weil es das Erbrochene der Menschen mitnahm, den Dreck der Straßen und Leichen.

Katrina traf Biloxi am Morgen, flutete die Stadt und alle, die irgendwie konnten, flohen auf ihr Dächer, so denn diese hoch genug waren oder überhaupt noch da. Katrina wütete zwei Tage. Eine Karte wurde nachher erstellt, blau für Häuser, die getrotzt hatten, rot für Häuser, die das nicht getan hatten, die Karte war rot auf den ersten Blick. 56 Menschen starben in Biloxi, mehr als in anderen Städten. Übrig geblieben waren der Stadt, die eigentlich keine mehr war, die übergroße Hard-Rock-Gitarre vor dem Café, ein McDonalds-Zeichen und manche Hochhäuser sowie eine Kirche aus dem Jahr 1907.
Mississippi-Gouverneur Haley Barbour kam, guckte und sagte: »Biloxi ist nicht zerstört, Biloxi existiert nicht mehr.« So hatte das Glück die Stadt verlassen und wenig später haben sie dann in Biloxi angefangen, es zu verkaufen.

Es ist Mittag und warm, 27 Grad und die Sonne scheint grell, konturiert alles viel zu deutlich, das Auge blinzelt ob der Schärfe der Dinge. Man könnte meinen, dass die Heimsuchung der Katastrophen der Preis ist, den Biloxi für dieses Wetter bezahlen muss. Biloxi existiert doch noch oder wieder und ganz anders.
Das Meer ist noch da, natürlich, 25 Grad warm und blau und schön, doch an der Küste reihen sich Casinos auf, 13 Stück sind es inzwischen, groß und hässlich, Beton und Fenster wechseln sich ab, in grellen Farben angestrichen, die Logos in leuchtenden Buchstaben an die Wand gepappt, alle mit eigenen Hotels und Parkhäusern, und so wird die Hässlichkeit der Küste nur noch abends verdeckt, wenn es dunkel ist und die Belichtung violett. Vielleicht ist violett ja die Farbe, die Menschen zu Spielern macht.

Evelyn Smith hatte zwei Tage nachdem Katrina gegangen und Schmerz und Wut und Trauer hinterlassen hatte, einen Spaziergang unternommen. Entlang der Straße, auf der sie aufgewachsen war, vorbei am Haus ihrer Familie, dass ihr Vater immer selber renoviert hatte und das ihr Ehemann übernommen hatte, als ihre Eltern gestorben waren, vorbei am Haus von Katie, ihrer Kindheitsfreundin, die irgendwann verschwunden war, doch ihre Eltern waren geblieben und als sie am Ende stand, erkannte sie, dass es ihre Straße nicht mehr gab. Es gibt sie auch heute nicht wieder.
Smith sagt, dass diese Straße vielleicht mal die schönste war, die Biloxi zu bieten hatte. Meistens ist es ja so, dass es früher nie so schön war, wie es denn gewesen ist, und das stimmt wahrscheinlich auch hier, aber schöner als heute war es dann doch. Heute nämlich ist hier keine Straße mehr und wo doch noch etwas Straße ist, sind Parkplätze für Casinos.

Smith hat einen kleinen Hund und trägt Sonnenbrille, eine ältere Frau mit gefärbten Haaren. Sie ist hier aufgewachsen, doch jetzt ist ihre Kindheit nicht mehr da. »Es war mal so schön hier. Die Stadt hat uns nicht geholfen, Casinos waren wichtiger. Biloxi hat seine Identität verloren«, sagt sie. Geld von der Stadt hat sie keines bekommen. Sie wohnt jetzt in einem Haus, grau wie die Wände der Casinos.
Smith liebt Biloxi, aber das Biloxi von gestern und nicht das von heute, wie in einer Ehe, in der sich der eine verändert, der andere dennoch bleibt, weil es halt so ist, und so wird Smith hier in Biloxi sterben, auch wenn die Stadt häßlich ist. »Es ist immer noch meine Stadt, ich bin hier geboren. Ich weiß ja, dass die Casinos wichtig für die Wirtschaft sind. Aber ich denke, dass es Sachen gibt, die wichtiger sind als Geld«, sagt sie.

Das Eishockey-Team, immerhin NHL damals, hatte noch nicht wieder angefangen zu spielen, wo auch, die Arena war aufgefressen, da war das erste Casino schon aufgebaut. Zwei Wochen nach Katrina hatte der Staat entschieden, dass Casinos nun auch auf dem Land gebaut werden dürfen, bis zu 240 Meter entfernt von der Küste, dann muss Schluss sein mit dem Teufelszeug, welches das Glücksspiel für die evangelikalen Einwohner des Staates ist. An den Seiten des Highways in Richtung Biloxi ragen neben den Casino-Werbungen Bibelpsalmen auf Schildern in die Höhe, man sollte sie nicht zu konzentriert lesen, dann kann Gott einem auch nicht mehr helfen.

Bevor Katrina eine neue Zeitrechnung für die Stadt einläutete, hatte es noch einen Kompromiss gegeben, der faul war, Casinos waren erlaubt, nur nicht auf dem Land und so schwammen die Casinos auf riesigen Booten vor der Küste rum, wurden einmal am Tag bewegt, um zu beweisen, dass sie auch wirklich Schiffe sind. Eine Stadt gab das Ganze endgültig der Lächerlichkeit preis, grub einen Teich und stellte dort ein Casino-Schiff rein. Hurricane Katrina trieb die Casinos auf die Stadt, sie räumten ganze Häuserzeilen ab.
Und so haben sie die Casinos aufs Land geholt, sie haben etwas Strand immerhin gelassen zwischen den Klötzen, feiner, weißer Sand, Palmen und das Meer, 700 Meter, kein Café und kein Pavillon, und obwohl das Wetter so wunderbar ist, auch kein Mensch. Man fragt sich, was zuerst nicht da war, die Cafés und die Pavillons oder die Menschen.

Gegenüber vom Strand, getrennt durch einen Highway, ist es leer. Gras ist gewachsen, es erobert sich zurück, was ihm vor vielen Jahren vom Menschen mal genommen wurde, bedeckt die Betonplatten, die mal Gehwege bildeten, doch heute führen sie nirgendwo mehr hin. Schilder reklamieren die nicht wieder aufgebauten Häuser, sie werden übertrumpft von den Schildern der Immobilienmakler, die Grundstücke verkaufen, der Rost frisst sich an ihren Rändern hoch. Hier war mal eine prachtvolle Promenade zwischen französischen Häusern und italienischen, und da Amerika besonders schön ist, wenn es europäisch ist, war Biloxi mal eine schöne Stadt.
Wenn man zu Fuß geht, was an diesem wunderbaren Tag niemand macht, braucht man vom Hard-Rock-Casino fünf Minuten bis zu einem leeren Feld, auf dem mal zwei Kirchen standen. Sie wurden von Katrina zerstört und nie wieder aufgebaut und so liegen dort eine McDonalds-Tüte und ein Plastikteller, es war kein Geld da, um die Kirche wieder aufzubauen. Die Stadt hat wenig und deswegen hat sie Casinos.

A. J. Holloway ist der Mann, der dieses absurde Stück Land geschaffen hat, er war seit 1993 Bürgermeister Biloxis, geboren in der Stadt und ein guter College-Football-Spieler, zwei Sachen, die ihn sehr beliebt machten im Süden Amerikas. Holloway ist erst vor kurzem zurückgetreten, mehrere Jahre war er der erste Mann in einer Stadt im Ausnahmezustand, bis er selber nicht mehr konnte, zu viel trank und Anfang des Jahres eine Entziehungskur machen musste.
Holloway stand 2005 vor den Trümmern und hatte viele Sorgen, mehrere Tage war es dunkel in der Stadt, weil der Strom ausgefallen war, die Menschen stellten sich in Schlangen vor den Walmart, weil dort Essen ausgeteilt wurde und Holloway wusste, dass Geld das einzige war, das die Stadt mehr brauchte als Hoffnung.

»Die Menschen hier in Biloxi haben eine einmalige Gelegenheit. Wir sind in der Mitte von etwas, wovon die meisten nur träumen können. Wir machen wieder Geschichte«, sagte Holloway. Zu dieser Geschichte zählt dann wohl auch das Beau Rivage, das ein Casino ist und auch ein Hotel und eine Mall und diese Mall ist absurd teuer, so teuer, dass die Leute ihr Geld direkt wieder ausgeben, wenn sie denn mal welches gewinnen.
Der Fußboden ist blumig, Marmor überall und hohe Hallen, die Männer tragen kurze Hosen, Tennissocken und Laufschuhe, was ihnen den Gang doch leicht macht, während die Frauen auf hohen Schuhen abenteuerlich auf dem Marmor balancieren.
Glamour im Casino gibt es sowieso nur in Filmen und Poker spielt auch keiner, die Leute sitzen an Maschinen, Reihe an Reihe, überall blinkt es, sie werfen einen Schein nach dem anderen ein, die Geräusche sind viel zu laut, Kellnerinnen tragen Bier auf Tabletten rum und Silikon in ihren Brüsten und im ganzen ist die Stimmung deprimierend. Ziemlich viele alte Leute sitzen im Casino an den Automaten, manche wurden mit dem Rollstuhl hingefahren. Dann, wie ein Ritual: Rollstuhl neben dem Automaten parken, Oma raus, auf dem Stuhl sitzen lassen, Bier trinken gehen.

Manche bedienen sich mehrerer Automaten. Das Tempo, in dem sie die Geldscheine in den Schlitz schieben, lässt sie hysterisch wirken. Viele Familien sind hier, obgleich es hier eigentlich so gar nichts für Familien gibt, aber die Kinder laufen durch die Reihen und schauen zu. Es gibt einen Casino Hopper, einen kleinen Bus, der die Leute von einem Casino ins nächste bringt, neues Spiel bringt ja neues Glück und wenn das falsch ist, dann verlieren sie wenigstens nicht immer im gleichen Casino. Die Rezeptionisten checken die Leute ein, recht unfreundlich, und man fragt sich, warum denn immer Menschen an Rezeptionen arbeiten, die dem Menschen im Allgemeinen eher abgeneigt sind.

Am Strand ist auch am Vorabend, als die Sonne orange nicht mehr da ist und das Meer die Wärme des Tages gespeichert hat, niemand. Die Welt kann verkehrt sein und dennoch nicht untergehen. Hinter dem Parkhaus des Hard-Rock-Casinos, ganz unmittelbar, ist ein kleiner Hafen und dort bieten Vietnamesen Essen an, das sie aus frisch Gefischtem zubereiten. Es riecht nach Fisch und nach dem billigen Fett, das die Belüftungssysteme der Casinos nach draußen pressen. Gegessen wird drinnen, Pizza und Hamburger, denn niemand geht raus aus dem Casino und zu den Parkhäusern führen Aufzüge und Flure.

Phan Thien Son ist ein alter Mann, heute Morgen fischte er mit seinem Kutter draußen im Golf und verkauft hat er von seinem Fang noch nichts. »Ich verdiene kein Geld mehr, niemand kauft mehr Fisch. Aber ich kann nichts anderes«, sagt er. Er ist ein kleiner Mann mit tiefen Falten und rauen Händen, geflohen aus dem Vietnam in die USA während des Krieges in seinem Heimatland. Dann wurde er Fischer und kaufte sich ein Boot und fuhr jeden Tag außer Weihnachten raus aufs Meer und lange Zeit fischte er gut und verkaufte es auch. Doch die Fischerei ging zu Grunde und er wurde arm, bevor ihm Katrina auch noch sein Haus nahm.
Vietnamesen waren einmal eine der größten Volksgruppen in Biloxi, der Bürgermeister veröffentlichte seine Briefe nach Katrina auch auf Vietnamesisch, aber bis heute ist East Biloxi, dort wo die Vietnamesen lebten, nicht wieder aufgebaut. Es hat ihnen keiner geholfen.

Die Casinos beherrschen die Stadt und man kann das gut oder schlecht finden oder beides. Und so steht Biloxi vor der Frage, was wichtiger ist, Identität oder Geld, doch eigentlich wurde diese Frage schon beantwortet, Ende November 2015. Da wurde verkündet, dass in East Biloxi, Heimat der Vietnamesen, ein neues Casino gebaut werden wird, für 260 Millionen Dollar. Phan Thien sagt, er findet das nicht gut.

Marc Bädorf ist freier Autor und Mitherausgeber von Prä|Position — vor allem aber ist er ein brillanter Zuhörer. Mit seiner Reportage »Wo jeder seinen Namen kennt« (F.A.S.) ist er für den diesjährigen Henri-Nannen-Preis nominiert.

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