Bürgernähe als Chance

Wie die Digitalisierung der deutschen Verwaltung gelingen kann

Lea Gimpel
Public Service Lab
4 min readNov 29, 2017

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von Lea Gimpel, Simone Carrier und Tobias Straube

Stell’ dir vor ein neuer Reisepass ließe sich so schnell beantragen wie man ein Buch bei Amazon bestellt. In Deutschland ist das Zukunftsmusik, was in anderen Ländern bereits Realität ist. Im internationalen Vergleich hinkt Deutschland im E-Government-Bereich hinterher. Warum? Um das herauszufinden, sind wir dahin gegangen, wo die Experten sind: in die Verwaltungen und Ministerien. Laut unseren Interviewpartnern sind die Gründe für die schleppende Digitalisierung vielfältig. Es fehlt an ökonomischen Druck, Prozesse effizienter zu gestalten. Der Föderalismus verhindert zentral gesteuerte und schnell umgesetzte Projekte. Außerdem wird Digitalisierung oft als reines IT-Thema verstanden.

Länder wie Großbritannien oder Estland sind da weiter. Für sie ist der Schlüssel zum Erfolg die Neu- oder Umgestaltung von Prozessen, bevor diese digitalisiert werden. Sie arbeiten mit nutzerzentrierten Methoden wie Design Thinking und nutzen User Journeys oder ethnografische Forschung, um neue Dienstleistungen an den Bürger/-innen zu orientieren. Seit der preußischen Verwaltungsreform Anfang des 19. Jahrhunderts liegt in Deutschland dagegen die Betonung des Verwaltungshandelns auf den Pflichten der Bürger/-innen, nicht auf deren Bedürfnissen.

Auch andere Charakteristika der deutschen Verwaltung gehen auf diese Reformen zurück, die einen Einfluss auf die schleppende Digitalisierung haben: Die Verschriftlichung von Vorgängen in Akten, die Ressortteilung, die Einführung der Selbstverwaltungen und die Etablierung des Berufsbeamtentums.

Bürgern zuhören, geht mit Methoden wie User Research

Wie kann es deutschen Verwaltungsmitarbeitern in diesem Kontext gelingen, Veränderungen für ein Verwaltungshandeln anzustoßen, das den Lebenswelten der Bürger/-innen angepasst ist?

Mut haben, Freiräume zu schaffen und zu nutzen
Wir haben mit Menschen gesprochen, die sich Freiräume schaffen oder vorhandene nutzen. Anstatt über Einschränkungen zu klagen, wurde die Freiheit des Unkündbar-Seins betont: »Gerade die sichere Beamtenstelle ermöglicht es doch, neue Dinge auszuprobieren — immerhin ist man so gut wie unkündbar!«, sagte einer unserer Gesprächspartner. Andere genießen das Vertrauen ihres Vorgesetzten und sind dadurch in der Lage, neue Entwicklungsmethoden zu nutzen und Neues in Form von Prototypen zu testen. Und dann gibt es noch jene, die sich gezielt neue Strukturen schaffen beispielsweise in Form einer eigenen Stabsstelle, die als Experimentierraum zur Bearbeitung und Umsetzung neuer Ideen funktioniert.

Vielfalt in Teams bringen
Menschen aus unterschiedliche Disziplinen ins Gespräch und in die Zusammenarbeit zu bringen, ist ein wesentlicher Bestandteil von nutzerzentrierten Ansätzen. Denn nur durch unterschiedliche Perspektiven ist es möglich, Probleme zu durchdringen und mögliche Lösungsansätze zu identifizieren. Auch in der Gestaltung von Verwaltungsprozessen wäre es hilfreich, unterschiedliche Blickwinkel einzubringen. Doch das Berufsbeamtentum ist auf Bundesebene stark von Juristen und auf der Landes- und Kommunalebene von Verwaltungsfachangestellten geprägt. Beides wurde von unseren Gesprächspartnern kritisch gesehen, denn: Die mangelnde Diversität von Lebensentwürfen macht sich durch eine Entfremdung mit anderen Lebenswelten bemerkbar.

Die Zusammenarbeit über Fachbereiche hinweg kann bereichernd für eine Organisation sein, weil Diskurse kontroverser werden und kreatives Denken dort Einzug hält, wo Reibung entsteht. Das gilt auch für die Verwaltung — muss aber sowohl von den Mitarbeitern eingefordert, wie auch durch Führungskräfte unterstützt und vorgelebt werden. Für beides sind ambitionierte Vordenker gefragt, die mit ihrer Arbeit nicht nur einen Job machen.

Bürger/-innen zuhören
In unseren Gesprächen haben Bürger/-innen keine Rolle in der Digitalisierung von Prozessen gespielt. Auf Bundesebene haben wir die Aussage vernommen, dass man mit den Bürger/-innen direkt nichts zu tun habe. Denn »wir denken sehr stark in Gesetzescontainern, nicht aus der Perspektive eines Menschen, der Nutzer ist«. Aber bereits heute werden Konsultationsprozesse durchgeführt — allerdings über Mittler wie Verbände, Interessenvertretungen oder Forschungseinrichtungen, die verschieden Ansichten aggregieren. Was den Mitarbeitern durch dieses Vorgehen entgeht, ist die Chance den Alltag und die Bedürfnisse der Bürger/-innen zu verstehen und entsprechende Lösungen zu entwickeln. Auf kommunaler Ebene spielt Bürgerbeteiligung traditionell eine größere Rolle. Das passiert allerdings häufig sehr spät in einem Entwicklungsprozess und soll Akzeptanz für geplante Vorhaben schaffen; es geht nicht um die gemeinsame Entwicklung von Lösungen.

Aus Sorge mangelnder Repräsentativität sahen unsere Gesprächspartner Ansätze wie ›User Research‹ kritisch. Doch es besteht ein Missverständnis, was nutzerzentrierte Ansätze leisten können: Ziel ist es, die Lebenswelten und Bedürfnisse von Bürger/-innen kennenzulernen, um die besten Dienstleistungen zu entwickeln. Einer unserer Gesprächspartner sprach von der »kulturellen Nähe«, die dadurch entsteht. Wir würden sagen: Empathie.

Wandel wird von Menschen gemacht, nicht von Technologie
Wenn wir über Digitalisierung sprachen, stand häufig die Technologie im Vordergrund. Nicht der Mensch. Deswegen geht es in Deutschland bei der Umsetzung von E-Government vor allem technokratisch zu: Die Rede ist von der E-Akte oder dem Portalverbund. Aber nicht von den Nutzer/-innen. Die Digitalisierung bietet die einzigartige Möglichkeit, Prozesse neu zu denken: Und zwar ausgehend von den Bedürfnissen echter Menschen, nicht von abstrakten Vorgängen und Abläufen. Nutzerzentrierte Ansätze ermöglichen es, genau diese Perspektiven einzubringen. Damit verbessert sich nicht nur der Alltag vieler Verwaltungsmitarbeiter, sondern auch von Millionen Bürger/-innen. Denn die Beziehung von Verwaltung und Bürger/-innen wird neu gestaltet. Bürger/-innen werden von Bittstellern zu Selbstverantwortlichen.

Und wie geht’s weiter?
Unsere Interviews zeigen: In den Verwaltungen gibt es Menschen, die Bestehendes positiv verändern wollen und über erste Erfahrungen in der Anwendung nutzerzentrierter Methoden verfügen. Oft agieren sie in einer Nische, mit wenig Unterstützung im eigenen Haus. Was fehlt, ist der Erfahrungsaustausch und ein Forum, in dem gute Beispiele aus der Verwaltung geteilt werden und Rückhalt schaffen. Dafür wollen wir ein Netzwerk gründen, das all jene zusammenbringt, die von einer modernen Verwaltung träumen. Wir wollen in den Austausch treten — und unser Expertenwissen über Innovation, Gestaltung und User Research mit Gleichgesinnten auf allen Verwaltungsebenen teilen.

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Hinweis: Dieser Beitrag gibt die persönliche Meinung von Lea Gimpel und Tobias Straube wieder.

Lea Gimpel @gimpelle
ist Projektleiterin Digitaler Wandel bei der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ). Zuvor beriet sie das Entwicklungsministerium.

Simone Carrier @simonecarrier
ist freiberufliche Service Designerin in Berlin und berät Regierungsorganisationen in Europa und im Mittleren Osten für FutureGov.

Tobias Straube @tobias_stra
ist Co-Leiter des Innovationsfonds der GIZ. Zudem berät er weltweit GIZ-Projekte zu methodischen Ansätzen.

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Lea Gimpel
Public Service Lab

Impatient optimist. Digital rights advocate. Public sector innovation enthusiast. Digital transformation lead @giz_gmbh. All views are personal.