Ganzheitliche Qualitätsstandards für bessere Services

Fokus auf Menschen, nicht nur Technik und Datenschutz

Martin Jordan
Public Service Lab
7 min readApr 20, 2018

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In vielen Teilen Deutschlands wird an der Umsetzung von E-Government-Gesetzen und des Onlinezugangsgesetzes gearbeitet. Mit diesen einhergehend werden Standards für digitale Verwaltungsdienste und ihre zugrundeliegenden IT-Systeme entwickelt. Andere Länder machen vor, wie diese ganzheitlich ausgerichtet sein können, statt sie lediglich auf Sicherheit, Datenschutz und Architektur zu beschränken.

Digitale Servicestandards sollen Teams, die an öffentlichen Diensten arbeiten, helfen, eine gleichbleibend hohe Qualität sicherzustellen. Sie dienen dazu, öffentliche Dienste zu bauen, die einfacher, verständlicher und schneller sind als ihre nicht-digitalen Alternativen.

In den vergangenen Jahren haben die Verwaltungen diverser westlicher Länder holistische Standards für ihre digitalen Dienste geschaffen. Vergleicht man sie miteinander, fallen große Ähnlichkeiten auf. Grund dafür ist, dass die Verwaltungen miteinander arbeiteten und voneinander abschrieben. Nachdem der britische Government Digital Service (GDS) seine erste Version des ›Digital Service Standards‹ im Jahr 2014 vorgestellt hatte, brauchten die digitalen Serviceteams in Australien oder den USA nicht bei Null anfangen. Als sie sich formierten, waren die britischen Richtlinien bereits etabliert, getestet und iteriert. Die später etablierten Digitalagenturen konnten auf sie aufsetzen und sie an ihre besonderen Kontexte anpassen. Auch die deutsche Verwaltung hat die Möglichkeit, diese praktische und zeitsparende Abkürzung zu nehmen. Sie kann von den Versuchen und Erfahrungen der anderen Länder profitieren und einige Fehlversuche vermeiden.

Die Servicestandards und -prinzipien von Australien, Finnland, Großbritannien, Ontario (Kanada) und den USA haben eines gemeinsam: sie gehen weit über technische und sicherheitsbezogene Themen hinaus. Sie enthalten ebenso Richtlinien zu Teamzusammensetzung, Arbeitsweise, Serviceumfang, Bedienbarkeit und Barrierefreiheit sowie zur Verpflichtung zu offenen Standards und der Veröffentlichung von Programmcode.

Die Digitalagenturen in jenen Ländern haben die Aufgabe, nicht nur Standards zu entwickeln, sondern auch ihre Einhaltung sicherzustellen. So enthalten sie konkrete Kriterien, deren Erfüllung in einem Gutachten überprüft wird. Die Servicestandards sind geltende Richtlinien für alle Behörden, die digitale Services für die Öffentlichkeit entwickeln. Erfüllen sie die Standards nicht, müssen Entwicklungsphasen entweder wiederholt oder Projekte vorerst gestoppt werden.

Das ›Digital Services Playbook‹ des United States Digital Service (USDS) beinhaltet zu jeder Richtlinie detaillierte Prüfpunkte sowie Schlüsselfragen, die Serviceteams ausführlich beantworten können müssen. Der erste Standardpunkt lautet ›Verstehen, was Menschen brauchen‹ (›Understand what people need‹) — und ist nahezu identisch mit denen der anderen vier Länder. Laut der Checkliste wird in der Anfangsphase erwartet, dass Zeit mit aktuellen und zukünftigen NutzerInnen verbracht wird, dass unterschiedliche Methoden der Nutzerforschung eingesetzt werden, um Ziele, Bedürfnisse, Verhalten zu verstehen, und dass Prototypen im Feld getestet werden. Zu den Fragen, die Teams im Gutachtengespräch beantworten sollen, gehören Erkundigungen wie:
• Wer sind die HauptnutzerInnen?
• Welche Bedürfnisse wird dieser Service erfüllen?
• Warum will oder braucht die/der NutzerIn diesen Service?
• Welche Menschen werden es am schwersten haben, diesen Dienst zu nutzen?
• Welche Forschungsmethoden kamen zum Einsatz?
• Was waren die wichtigsten Erkenntnisse? Wie wurden die Erkenntnisse dokumentiert? Wie können Teams in Zukunft auf die Dokumentation zugreifen?
•Wie oft haben Sie mit NutzerInnen getestet?

Übersicht des britischen ›Digital Service Standard‹

In Großbritannien wird die Einhaltung des dortigen Servicestandards von einem Team innerhalb des Government Digital Service sichergestellt. Jeweils am Ende von Phasen des Erprobens und Entwickelns — so genannten Alpha- und Beta-Phasen — demonstrieren Serviceteams aus den unterschiedlichen Behörden ihren derzeitigen Entwicklungsstand. Sie werden vor einer Gruppe von GutachterInnen vorstellig. Jene besteht meist aus einer HauptgutachterIn mit einem Hintergrund in Produktmanagement, einer NutzerforscherIn, DesignerIn und einer technischen GutachterIn. Ab einer Anzahl von jährlich 100.000 Servicetransaktionen bei öffentlichen Diensten oder einer Nutzung von internen Verwaltungsdiensten wie z.B. E-Akten durch mehr als eine Behörde müssen Serviceteams der Zentralverwaltung bei GDS vorstellig werden. Die Qualität kleinerer Dienste stellen sie intern sicher. Die Überprüfung im Gutachterteam ist verteilt: Oftmals bestehen diese aus ExpertInnen verschiedener Behörden. So kann beispielsweise ein neuer Gesundheitsdienst von einer Hauptgutachterin aus der Justizbehörde, einem Nutzerforscher aus dem Innenministerium, einem Designgutachter aus der Finanzbehörde und einer technischen Leiterin von GDS überprüft werden. Alle Teile der Verwaltung haben schließlich ein Interesse daran, dass jeder den gleichen Qualitätsstandards unterliegt.

Im Vereinigten Königreich hilft ein umfangreiches Servicehandbuch Serviceteams dabei, Dienste zu entwickeln, die dem Qualitätsstandard entsprechen. Entsprechend der Punkte des Standards enthält es Kapitel zu Barrierefreiheit, Leistungskennzahlen, Teamzusammensetzung, agilen Arbeitsweisen, Nutzerforschung, Gestaltungsmustern sowie Technologieempfehlungen. Darüber hinaus bietet die eigene GDS Academy eine Reihe von Trainingsformaten an. Jene bereiten VerwaltungsmitarbeiterInnen auf neue Rollen, wie die des so genannten ›Service Owners‹, vor, trainieren sie in Methoden der Nutzerforschung oder bringen ganzen nicht-digitalen Teams agiles Arbeiten bei. Über Mailinglisten, Chatkanäle wie Slack oder lokale Zusammenkünfte tauschen sich Serviceteams regelmäßig über Behördengrenzen aus, lernen voneinander und geben einander Tipps. Trotz dieser Bandbreite von bereitgestellten Informationen, angebotenen Trainingseinheiten und zur Verfügung stehenden Austauschplattformen bestehen nicht alle Serviceteams mit ihren Diensten das Gutachtenverfahren. Jedoch sind auch die Daten zu den Qualitätsgutachten öffentlicher Dienste öffentlich einsehbar. Die Teams erhalten detaillierte Reports mit konkreten Hinweisen, weshalb sie die Standards nicht erfüllt haben und was sie tun müssen, um sie zu erfüllen. Zudem können sie unterstützende Workshops mit GutachterInnen buchen, bevor sie ihren Service wiederholt überprüfen lassen.

Inspiriert von den nationalen Standards haben Kommunen im Vereinigten Königreich angefangen sich eigenständig ähnlichen Punkten zu verpflichten. Wenig überraschend: Der ›Local Government Digital Service Standard‹ sieht dem der Zentralverwaltung und denen der anderen Ländern zum Verwechseln ähnlich.

Erweiterte Standards für deutsche Verwaltung

In Deutschland arbeiten sowohl auf Landes- als auch Bundesebene Arbeitsgruppen an neuen Standards. So unterstützt die Koordinierungsstelle für IT-Standards (KoSIT) den IT-Planungsrat in seiner Arbeit und verfasste diverse Richtlinien zu digitalem Antragsverfahren, Rechnungsstellung und Vergabeverfahren. Sowohl die Koordinierungsstelle für IT-Standards als auch die Teilnehmer der Föderalen IT-Kooperation (FITKO) haben das Mandat, Standards zu schaffen. Noch fokussieren sie vornehmlich auf technische Aspekte. Doch könnten Kommunen, Länder sowie der Bund bei der Umsetzung des Onlinezugangsgesetzes von weiterreichenden Standards profitieren.

In verschiedenen Teilen der deutschen Verwaltung gibt es ein Interesse an weiterreichenden Servicestandards. Daher haben wir zur Unterstützung von Workshops die Standardpunkte aus Australien, Finnland, Großbritannien, Kanada und den USA ins Deutsche übersetzt. Die ausländischen Standards können als Startpunkt für Diskussionen um erweiterte Richtlinien für digitale Verwaltungsdienstleistungen auf lokaler, regionaler oder nationaler Ebene verwendet werden. Auf 82 Karten sind jeweils die englischsprachigen Originalrichtlinien, die deutsche Entsprechung und die herausgebende Organisation abgedruckt.

In einem Workshop mit dem Digitalisierungsteam eines deutschen Bundeslandes untersuchten, diskutierten und sortierten die Mitarbeiter die Punkte der sechs internationalen Standards in vier Kategorien:
• Sollten wir so oder ähnlich übernehmen
• Müssen wir besser verstehen oder ausführlicher diskutieren
• Sollten wir für unsere Dienste nicht in Betracht ziehen
• Sollten wir zusätzlich in Erwägung ziehen

Entscheidend im Workshop ist, eine fachübergreifende Perspektive einzunehmen, denn die verschiedenen Punkte berühren zahlreiche Themenfelder. So waren im ersten von uns durchgeführten Workshop unter anderem ein Programmleiter, Jurist, Systemarchitekt, Produktmanager und Kommunikations-verantwortlicher beteiligt. Idealerweise sind auch Nutzerforscher und Designer involviert. Ausgehend von den Ergebnissen der interaktiven Diskussion wird ein Entwurf zu Detailinhalten für alle als relevant identifizierten Standardpunkte ausgearbeitet. Auch hierfür können die Detailbeschreibungen der internationalen Standards eine Hilfestellung liefern. Der Entwurf sollte in einem offenen Dokument geteilt und mit allen Beteiligten erörtert werden. Im nächsten Schritt können die skizzierten Standards mit den an der Entwicklung von Services beteiligten Teams getestet und kontinuierlich verbessert und angepasst werden.

Vertrauen, Kontrolle und Unterstützung

Wie die jahrelange Arbeit an und mit Qualitätsstandards in anderen Ländern zeigt, braucht es mehr als nur das Verfassen und Beschließen von Standards für gute Services. Wichtig ist, dass ihre Einhaltung überprüft wird und potenzielle Nichteinhaltung Konsequenzen hat. Gleichermaßen müssen Serviceteams in ihrer Arbeit unterstützt werden, so dass sie wissen, wie sie die Standards erreichen können. Dies kann auf passive Weise erfolgen, z.B. durch veröffentlichte Anleitungen und Detailrichtlinien, oder auf aktive Weise — durch Weiterbildung und fachlichen teamübergreifenden Austausch. Auch hier kann auf die internationale Vorarbeit und bestehenden Netzwerke zurückgegriffen werden.

Bausteine für die erfolgreiche Umsetzung von Qualitätsstandards für Verwaltungsservices

Die deutsche Verwaltung hat die Möglichkeit, auf die reichen Erfahrungen der anderen Ländern mit Servicequalitätsstandards aufzubauen und dadurch eine zeit-, kraft- und kostensparende Abkürzung zu nehmen. Sie muss sie jedoch an ihre spezifischen Kontexte anpassen und bereit sein, zu experimentieren und zu iterieren. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse sollten anderen Teilen der Verwaltung über Initiativen wie den IT-Planungsrat und seine Maßnahmen wie Föderale IT-Kooperationen bereitgestellt werden.

Ein Startpunkt kann das von uns entwickelte 82-teilige Kartenset sein. Sie können das Workshop-Paket hier herunterladen. Es enthält eine kurze Einleitungspräsentation und Arbeitsblätter. Wir freuen uns über Fragen oder Kommentare und wünschen Ihnen gutes Diskutieren und Evaluieren—für bessere Services durch ganzheitliche Qualitätsstandards!

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Martin Jordan
arbeitet als Head of Service Design beim Government Digital Service (GDS) im britischen Cabinet Office. Zudem unterstützt er als MBA-Kandidat die Freie und Hansestadt Hamburg bei der Integration von nutzerzentrierten Praktiken und bei der Servicetransformation.

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Martin Jordan
Public Service Lab

Making services work better for all people; Head of Design at German govt’s Digital Service, former Head of Service Design at UK Gov; Service Gazette co-editor