Inkrementelle Innovation
Stufen zur digitalen Verwaltung
von Dr. Katrin Dribbisch & Martin Jordan
In Deutschland ist die Umsetzung des Gesetzes zur Verbesserung des Onlinezugangs zu Verwaltungsleistungen (Onlinezugangsgesetz) von 2017 in vollem Gange. Welche 575 Verwaltungsleistungen bis 2022 umgesetzt werden sollen, ist bekannt. Wie sie umgesetzt werden sollen, ist jedoch nirgendwo festgeschrieben oder auch nur vorgeschlagen. Verwaltungsleistungen im Sinne des Onlinezugangsgesetzes sind ›die elektronische Abwicklung von Verwaltungsverfahren und die dazu erforderliche elektronische Information des Nutzers und Kommunikation mit dem Nutzer über allgemein zugängliche Netze‹. Es ist eine große Aufgabe, die nicht von einem auf den anderen Tag erledigt ist. Vielmehr geht es um die stufenweise Transformation zur digitalen Verwaltung.
Mit dem Onlinezugangsgesetz (OZG) hat sich die deutsche Verwaltung Digitalisierung auf die Fahne geschrieben. Aber was heißt digitalisieren überhaupt? Was sind die Ambitionen und was ist unsere Zukunftsvision einer digitalisierten Verwaltung? Im Englischen unterscheidet man zwischen ›Digitisation‹ und ›Digitalisation‹. Die Begriffe sind zum Verwechseln ähnlich, beschreiben jedoch unterschiedliche Vorgänge und Komplexitätsgrade. ›Digitisation‹ lässt sich am ehesten mit Onlinestellen wiedergeben, also der elektronischen Abwicklung von Verwaltungsverfahren. Dazu gehört das Bereitstellen von zuvor auf Papier gedruckten Formularen in PDF-Dokumenten oder auf Webseiten. Das Trägermedium ist ein anderes und Nutzer*innen sparen potenziell geringfügig Zeit ein, doch Geschäftsprozesse bleiben im Grunde unberührt. Die Möglichkeiten des Internets bleiben maßgeblich ungenutzt. ›Digitalisation‹, Digitalisierung im Deutschen, beschreibt dagegen nicht nur den Transfer ins digitale Medium und optische Anpassungen von Kontaktpunkten, sondern die Transformation von zugrundeliegenden Prozessen. Es nutzt digitale Technologien und Daten, um Geschäftsmodelle fundamental neu aufzusetzen und neue Möglichkeiten der Wertschöpfung zu generieren. Bei Digitalisierung wird das Alte grundlegend hinterfragt, beim reinen Onlinestellen bewahrt.
Im Umsetzungskatalog des Onlinezugangsgesetzes heißt es daher: »Damit Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen nutzerfreundliche digitale Services gerne in Anspruch nehmen, bleibt Einiges zu tun. Dies liegt insbesondere daran, dass für eine nutzerfreundliche Umsetzung des OZG nicht nur der Status quo in Web-Formulare ›gegossen‹ werden darf, sondern auch weitergehende Digitalisierungspotenziale gehoben werden müssen« (Hunnius & Stocksmeier 2018, 263). Echte Digitalisierung statt Onlinestellen ist also gefragt. Um jene Digitalisierungspotenziale auszuschöpfen, müssen Fachverfahren überdacht und integriert, alte IT-Systeme ersetzt und oftmals Gesetze geändert werden. Mobiltaugliche Webseiten mit klarer Sprache zu entwickeln, reicht nicht. Servicetransformation und damit verbundener Organisationswandel setzen andere Fähigkeiten und Kenntnisse in der Verwaltung voraus. Zudem erfordert es Ausdauer und kostet letztlich auch zusätzliches Geld. Digitalisierung bedeutet eine grundlegende Verwaltungsmodernisierung.
Das von der britischen Verwaltungsberatung FutureGov entwickelte digitale Reifegradmodell (siehe Abbildung oben) bildet verschiedene Entwicklungsschritte auf dem Weg zur digitalen Verwaltung ab. Es hilft Verwaltungen, zunächst ihren Ist-Zustand zu verstehen, derzeitige Problemfelder zu identifizieren und dann die nächsten Schritte der digitalen Transformation zu planen. Die Stufen zeigen sowohl den Grad der Ambition als auch den Grad der Komplexität hinsichtlich der digitalen Reife an.
Stufe 1 beschreibt den Zustand vor der Digitalisierung, wenn ein papierbasierter Prozess existiert. Nutzer*innen empfinden es heutzutage nicht mehr als zeitgemäß, wenn sie ihre Einkäufe und Bankgeschäfte online erledigen können und vor allem online kommunizieren, aber die Verwaltung mit ihnen per Brief korrespondiert und sie Papierformulare ausfüllen und einreichen müssen. Stufe 2 bedeutet, dass eine elektronische Version existierender Papierformulare als PDF-Dokumente auf Webseiten bereitgestellt wird. Damit hat sich noch nicht viel geändert. Es ist ein bisschen nützlicher, aber weiterhin kompliziert. Stufe 3 erreicht eine digitale Serviceverbesserung, zum Beispiel einzelner Komponenten der Verwaltungsleistung. Das können eine beschleunigte Zahlungsabwicklung oder vollständige Onlineanträge sein. Das Nutzererlebnis ist damit deutlich einfacher und schneller. Stufe 4 geht noch einen Schritt weiter und stellt eine digitale Servicetransformation dar. Verwaltungsleistungen werden nutzerzentriert überarbeitet. Wenn wir ans Bankenwesen denken, schaffte das Start-up N26 eine Revolution in Sachen Nutzererlebnis: nie war es so einfach, mobil seine Bankgeschäfte zu erledigen. Wie kann also die Verwaltung ihre Dienste digital neu erfinden? Stufe 5 des Reifegradmodells beschreibt den nächsten Schritt der Servicetransformation. Diese erfordert in der Konsequenz auch eine Veränderung der Organisation. Um neue digitale Serviceangebote auf den Weg zu bringen, werden neue Fähigkeiten, neue Geschäfts- und mitunter neue Organisationsmodelle benötigt. Es geht in dieser letzten Stufe um eine tiefgreifende, systematische Veränderung, während die ersten Stufen inkrementelle Veränderungen verheißen.
Die fünf Stufen des Modells lassen sich für verschiedene Dimensionen der Organisation beschreiben: Bürgerdienste, interne Dienstleistungen, Geräte und Kanäle, Infrastruktur, Mitarbeiter*innen und Arbeitsweisen, Organisationsführung, Vision und Strategie. Eine Standortbestimmung auf Basis des vorliegenden Reifegradmodells kann auch ergeben, dass eine Organisation in einigen Aspekten progressiv ist, während sie in anderen hinterherhinkt. Es gilt jeweils darum, das schwächste Glied der Kette ausfindig zu machen, um dort anzusetzen. Sind es die mangelnden digitalen Fähigkeiten der Belegschaft? Ist es eine hinderliche Organisationskultur, die Fehler verteufelt? Oder sind es die Gesetze, die der digitalen Transformation im Wege stehen, wie beispielsweise die schriftliche Unterschrifterfordernis? Auch der Gesetzgeber ist also gefragt, die Hindernisse für eine grundlegende Verwaltungsdigitalisierung zu beseitigen.
Digitalisierende Behörden sollte genau hinschauen, wo es hakt. Eine Bestandsaufnahme mithilfe des Reifegradmodells offenbart Inkonsistenzen, auch innerhalb einer Behörde. Sie kann zudem kulturelle Stolpersteine identifizieren. Menschen ins Zentrum digitaler Verwaltungsdienste zu stellen, erfordert eine andere Verwaltungskultur, die abrückt vom eigenen Expertentum, das besser weiß, was Bürger*innen und Unternehmen brauchen. Eine Bestandsaufnahme kann dabei nur der erste Schritt sein, ein Vehikel um die eigene Organisation zu transformieren und digitale Kompetenzen aufzubauen. Eine solche Ist-Analyse lässt sich in einer Reihe von Workshops mit Beteiligten aus der ganzen Organisation, das heißt Fach- und Führungskräften aller Ebenen, durchführen. Ziel sollte es sein, herauszufinden, wo die eigene Organisation steht, um die notwendigen Schritte in Richtung OZG-Umsetzung zu ergreifen. Anderthalb Jahre nach Startschuss des Onlinezugangsgesetzes bleibt noch viel zu tun. Jetzt müssen die richtigen Weichen gestellt werden, damit 2022 Bürger*innen sowie Unternehmen die Früchte in Gestalt besserer digitaler Verwaltungsdienste ernten können. Natürlich kann man nicht von Stufe 1 auf 5 springen, sondern man klettert sich hoch, vielleicht überspringt man auch eine. Digitale Transformation in allen sieben Kategorien heißt daher in vielen Fällen inkrementelle Verbesserung.
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Dr. Katrin Dribbisch berät Verwaltungen zu nutzerzentrierten Arbeitsweisen und besseren Onlinediensten. Sie promovierte zur Einführung von Design Thinking in der Verwaltung.
Martin Jordan arbeitet als Head of Service Design beim Government Digital Service im britischen Cabinet Office. Er unterstützt international Mitarbeiter*innen in Verwaltungen.