Nutzerakzeptanz — so geht’s
Wie Verwaltungen Angebote entwickeln, die auch genutzt werden
Nutzerakzeptanz ist eines der digitalen Sorgenthemen der deutschen Verwaltung. Gleich mehrere RednerInnen auf dem Fachkongress 2017 des IT-Planungsrates nannten Nutzerakzeptanz und nicht Technologie als ihre größte Herausforderung. Die Annahme von neuen Verwaltungsangeboten war auch Thema bei der Vorstellung des letzten E-Government-Monitors im Bundesministerium des Innern und steht wieder auf der Agenda des kommenden Fachkongresses des IT-Planungsrates. Sei es die Identifikationsfunktion des neuen Personalausweises, die Verwendung von De-Mail oder die Registrierung von Servicekonten — NutzerInnen scheinen sich schwer damit zu tun, die Vorteile der Angebote zu sehen und diese einzusetzen.
Die Nutzung digitaler Verwaltungsdienstleistungen stagniert in Deutschland bei durchschnittlich 42 Prozent, schreibt der IT-Staatssekretär der Bundesregierung. In Österreich hingegen klettert sie seit Jahren kontinuierlich und ist bei nunmehr 75 Prozent. Doch steht die deutsche Verwaltung mit dem Problem der Nutzerakzeptanz nicht allein da. Ähnliche Herausforderungen haben auch andere Länder Europas. So leidet die elektronische Unterschriftsfunktion von Portugals Bürgerkarte unter einer Aktivierungsrate von weniger als 30% — und weist eine noch deutlich geringere Nutzung auf. Und Finnlands nationales elektronisches Identitätssystem kam spät und war komplizierter als das bereits von finnischen Banken etablierte. Das einfachere Online-Authentifizierungssystem der Finanzdienstleister setzte sich letztlich flächendeckend durch. Da es dem finnischen Gesetz für sichere elektronische Identifikation und digitale Signatur entspricht, setzen es mittlerweile auch die Steuerbehörde und das Amt für Sozialversicherung für ihre Dienste ein.
Das Problem ist nicht vornehmlich die Technik. Das Problem sind die NutzerInnen. Oder besser: was man von ihnen, ihren Fähigkeiten, Bedürfnissen und Kontexten weiß bzw. nicht weiß. Kenntnislosigkeit über NutzerInnen führt dazu, dass Angebote und deren zugrundeliegende Technik in Isolation entwickelt werden. ExpertInnen verfassen Lastenhefte, die zwar Sicherheit, Funktionalitäten und Kompatibilität zu existierenden Systemen beschreiben, aber keine Lebenssituationen von Menschen einbeziehen. Ohne jedoch deren Verhalten, Motivationen und Bedürfnisse in den spezifischen Nutzungskontexten zu kennen, mangelt es fern der Realität konzipierten Lösungen an Nützlichkeit und Nutzbarkeit. Länder wie Großbritannien, Australien und Kanada haben dies verstanden und dementsprechend ihre Arbeitsweise angepasst.
»So gute digitale Dienstleistungen, dass Menschen sie bevorzugen.«
— Versprechen des ›Digital Transformation‹-Programms von 2012–2015 der britischen Regierung, unter Federführung des Government Digital Service des Cabinet Office
In der britischen Verwaltung wird während der Entwicklung von Dienstleistungen für BürgerInnen und Unternehmen fortwährend Nutzerforschung betrieben. Seit der Gründung des Government Digital Service (GDS) im Jahre 2011, einer E-Government-Agentur im zentralen Cabinet Office, wurden bewährte Praktiken von Technologiefirmen aus dem Privatsektor übernommen. Die dortigen digitalen Serviceteams arbeiten auf agile und nutzerzentrierte Weise, wie es auch bei Facebook, Google und Spotify üblich ist.
GDS entwickelt verbindliche Servicestandards, veröffentlicht in einem Servicehandbuch weitreichende Richtlinien zur Entwicklung von digitalen Verwaltungsdiensten und überprüft systematisch deren Einhaltung.
Der erste des 18 Punkte umfassenden ›Digital Service Standard‹ lautet ›Understand user needs‹, verstehe die Bedürfnisse der NutzerInnen. Der zweite Punkt verlangt fortwährende Nutzerforschung — ›Do ongoing user research‹. Punkt zwölf, ›Make sure users succeed first time‹, stellt sicher, dass alle NutzerInnen in der Lage sind, Angebote beim ersten Mal ohne Schwierigkeiten zu verwenden. Alle 18 Punkte sind verbindlich und müssen von Teams bei der Entwicklung von Dienstleistungen eingehalten werden. Werden sie es nicht, dürfen die Services gar nicht erst an der Start gehen. So wird Nutzerakzeptanz durch kontinuierliche Nutzerforschung von Anfang an sichergestellt.
In ihrem Buch ›User Research‹ fasst Dr. Stephanie Marsh, Lead User Researcher bei GDS, zusammen, weshalb fortwährende Nutzerforschung unerlässlich ist. Nutzerforschung sei, so schreibt sie, essenziell, um zu verstehen:
• wer die NutzerInnen eines Dienstes sind,
• was die Bedürfnisse der NutzerInnen sind und was sie zu tun versuchen,
• wie NutzerInnen bisher versuchen diese Aufgaben zu erledigen,
• wie NutzerInnen diese Aufgaben gern erledigen würden.
Ohne Input von NutzerInnen laufen Verwaltungen Gefahr, für viel Geld Angebote zu entwickeln, die niemand braucht und niemand nutzt. Zuweilen unterliegen Verantwortliche dem Irrtum, zu glauben, keine Interaktion mit NutzerInnen zu benötigen oder sich diese aus zeitlichen oder finanziellen Gründen nicht leisten zu können. Nur durch direkten Kontakt mit NutzerInnen können VerwaltungsmitarbeiterInnen deren Bedürfnisse verstehen, einen Einblick in ihre Lebensumstände und Erwartungen bekommen. Zu verstehen, wer die NutzerInnen von Verwaltungsdienstleistungen sind, wie sie denken und handeln, gestattet:
• bessere Angebote, Dienstleistungen und Nutzererfahrungen zu gestalten
• existierende Angebote zu verbessern
• sie an veränderte Verhaltensweisen und Erwartungen anzupassen
• Geld zu sparen, indem Angebote von Anfang an funktionieren
• wirksame Angebote zu entwickeln, die NutzerInnen geben, was sie brauchen
• Entscheidungsprozesse von Interessensgruppen zu beeinflussen — mit Optionen und Lösungen, die auf Evidenz anstatt auf Meinungen basieren
• Interne Annahmen über die strategische Ausrichtung einer Organisation infrage zu stellen
Entsprechend des ›Digital Service Standard‹ wird von den digitalen Serviceteams der britischen Verwaltung fortwährend Nutzerforschung betrieben. Deren Ziel ist vornehmlich Risikominimierung, denn nichts ist eine größere Ressourcenverschwendung, als Dinge zu entwickeln, die keine wirklichen Probleme von NutzerInnen lösen, unnütz oder unbenutzbar sind. Dabei ist die Arbeit in vier klar strukturierte Phasen unterteilt. Je nach Phase werden andere Techniken der Nutzerforschung verwendet.
Ermitteln (Discovery)
Bevor ein Service oder ein Verfahren neu erarbeitet oder überarbeitet wird, muss herausgefunden werden, ob NutzerInnen es brauchen und ob bereits etwas Ähnliches existiert. Diese Phase nennt sich Ermitteln. In dieser findet noch keinerlei Entwicklungsarbeit statt. Stattdessen werden die Interessenten- und Nutzergruppen identifiziert, Nutzererfahrungen kartografiert, und NutzerInnen in ihren realen Kontexten erforscht. Diese Phase dauert üblicherweise zwischen 8 und 12 Wochen. In dieser Zeit können folgende Techniken zum Einsatz kommen:
- Nutzerbeobachtungen und ethnografische Studien
- Nutzerbefragungen und Interviews
- Tagebuchstudien
- Kontextuelle Forschungen
Erproben (Alpha)
Im Anschluss an die Ermitteln-Phase folgt die Erproben-Phase. In dieser werden Prototypen entwickelt und mit NutzerInnen getestet. Die in der Ermitteln-Phase erlangten Erkenntnisse über NutzerInnen, ihre Kontexte, Motivationen und Ziele werden genutzt, um mögliche Lösungsansätze zu inspirieren. Binnen 12 Wochen werden in kurzen ein- bis zweiwöchigen Sprints eine Reihe an gänzlich unterschiedlichen Ansätzen ausprobiert, verworfen oder weiterentwickelt. Dabei werden u.a. diese Techniken eingesetzt:
- Nutzbarkeitstests
- Inhaltstests
- Card-Sorting
- Validieren von Informationsarchitektur
Entwickeln (Beta)
Nach einer breiten Exploration mit zahlreichen Prototypen in der Erproben-Phase wird in der Entwickeln-Phase eine funktionierende Version des Dienstes gebaut. Diese muss in der Lage sein, echte Transaktionen abzuwickeln, sicher und skalierbar sein. Das Angebot muss kontinuierlich weiter verbessert werden. Die Entwickeln-Phase ist oftmals in zwei Teile gegliedert. In der ersten wird der Dienst lediglich einer kleinen Testgruppe von NutzerInnen zugänglich gemacht. In der zweiten, öffentlichen Entwickeln-Phase kann bereits eine größere Nutzergruppe das neue Angebot als Alternative zum alten verwenden. Während dieser Phase kommen folgende Techniken der Nutzerforschung zum Einsatz:
- Nutzbarkeitstests
- Studien zur Barrierefreiheit
- Umfragen
- A/B-Tests
Veröffentlichen (Live)
In dieser vierten Phase wird ein möglicher bisheriger Service oder ein altes Verfahren vollständig ersetzt. Auch danach wird weiterhin Nutzer-Feedback berücksichtigt, werden analytische Daten gesammelt und fortwährende Nutzerforschung betrieben.
Durch eine kontinuierliche Interaktion mit den NutzerInnen des Services kann sichergestellt werden, dass tatsächlich das Richtige entwickelt wird. Nur wenn NutzerInnen von Anfang an involviert werden, können sowohl Nützlichkeit als auch Nutzbarkeit gewährleistet werden. Dies erhöht die Nutzerakzeptanz enorm. Dennoch brauchen Serviceteams in der britischen Verwaltung oftmals Monate um die Nutzung des digitalen Dienstes zu erhöhen. Eine Vielzahl von kleinen Änderungen, wie zum Beispiel textliche Formulierungen, der Name des Dienstes oder die Auffindbarkeit in Suchmaschinen, kann die Nutzungsquote Schritt für Schritt erhöhen. Diese Daten über das so genannte ›Digital Take-Up‹ sind inklusive ihres zeitlichen Verlaufs für alle Dienste öffentlich einsehbar. Diese Offenheit macht den Fortschritt in der Nutzerakzeptanz und die Effektivität der fortwährenden Nutzerforschung für alle Interessierten sichtbar.
Parallel zur Arbeit mit allen britischen Ministerien leistete GDS in den vergangenen Jahren Starthilfe für ähnliche E-Government-Agenturen wie für die Digital Transformation Agency in Australien, den United States Digital Service und 18F in den USA und den Canadian Digital Service in Kanada. Diese folgen mittlerweile dem GDS-Modell und machten kontinuierliche Nutzerforschung in der Serviceentwicklung ebenfalls verpflichtend. Derweil hat Großbritannien im E-Government-Index der Vereinten Nationen den ersten Platz erklommen.
Im Oktober 2017 berichteten auf unserer ersten Halbtageskonferenz — dem Public Service Lab 2017 — diverse deutsche Behörden davon, dass sie bereits ähnlich arbeiten. So bezog die Bundesagentur für Arbeit bei der Entwicklung ihres neuen Portals regelmäßig Bürger in den Entstehungsprozess mit ein (siehe Interview). Ähnlich startet das Digital First-Team der Freien und Hansestadt Hamburg neue Serviceentwicklungsprozesse mit intensiven Design-Thinking-Sprints. Inspiriert von Googles Risikokapitaleinheit GV werden in der Projektauftaktwoche NutzerInnen bei Entwicklung und Verbesserung von groben Prototypen eingebunden. Nutzerzentrierte Arbeitsweisen finden in der deutschen Verwaltung langsame Verbreitung — und machen so hoffentlich bald die Sorge um Nutzerakzeptanz obsolet.
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Martin Jordan
arbeitet als Head of Service Design beim Government Digital Service (GDS) im britischen Cabinet Office. Zudem unterstützt er als MBA-Kandidat die Freie und Hansestadt Hamburg bei der Integration von nutzerzentrierten Praktiken und bei der Servicetransformation.