Sozial wird digital

Wie das OZG-Camp uns dabei half, bürgerfreundlicher zu werden

Svenja Bickert-Appleby
Public Service Lab
5 min readJul 13, 2023

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von Lene Böhnke & Svenja Bickert-Appleby

Das Ziel war, bis Ende 2022 alle Verwaltungsleistungen zu digitalisieren und online anzubieten. Schwer vorstellbar? Wenn man sich so manche Bereiche der Verwaltung anschaut, leider ja. Viel Zeit blieb wirklich nicht mehr. Wir wären aber nicht das Team von Arbeit Neu Denken im Sozialdezernat der Stadt Wiesbaden und der Innovationsberatung New Order Design, wenn wir diese Herausforderung nicht angegangen wären. Für uns ist das Onlinezugangsgesetz (OZG), das den gesetzlichen Rahmen für den Digitalisierungsschub bildet, ein Antrieb und eine Möglichkeit, Verwaltungsleistungen insbesondere für jene Menschen zu verbessern, die von der Allgemeinheit gerne übersehen werden.

Lene Böhnke und Aline van den Borg bei der Überreichung des Preises für gute Verwaltung beim Public Service Lab Day 2022 in Freiburg im Breisgau

Ein OZG-Camp für eine bürgerfreundlichere Verwaltung

So haben wir im März 2022 im Auftrag von Sozialderzernent Christoph Manjura ein OZG-Camp organisiert, bei dem wir um die 20 ›OZG-Pionier*innen‹ aus dem gesamten Sozialdezernat der Landeshauptstadt Wiesbaden, über 3 Wochen in nutzerzentrierten Gestaltungsmethoden ausgebildet haben. Teilnehmer*innen kamen aus dem Amt für Soziale Arbeit, dem Sozialleistungs- und Jobcenter und dem Amt für Zuwanderung und Integration.

Es geht nicht nur um einfachere und digitale Dienstleistungen. Uns geht es um eine bürgerfreundlichere Verwaltung, eine Haltung, die für jedes Schreiben und jede Leistung im Sozialdezernat, wie zum Beispiel die Erteilung eines Aufenthaltstitels, Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz oder die Vormerkung für eine betreuende Grundschule gelten soll. Das OZG-Camp war unser Kickoff in eine bürgerfreundlichere Zukunft.

Servicedesign-Ansätze, um Probleme zu verstehen

Mit Hilfe von Methoden aus dem Servicedesign, wie das Erstellen von Personas und Nutzerreisen, haben wir die Teilnehmer*innen befähigt, die Perspektive der Bürger*innen einzunehmen und so ihre Dienstleistungen zu verbessern. Was erleben, denken und fühlen unsere Bürgerinnen und Bürger eigentlich, wenn sie bei uns Anträge stellen? Welche Schmerzpunkte müssen sie erfahren? Was können wir durch optimierte Anträge einfach beheben? In anderen Worten: sich mal so richtig mit den Bedürfnissen der Nutzerinnen und Nutzern der eigenen Verwaltungsleistungen beschäftigen. Schnell war allen Teilnehmer*innen klar: unsere Anträge könnten besser sein. Wie wertvoll ein Perspektivwechsel doch sein kann, denn nach dem Camp betrachteten die Teilnehmer*innen diverse Schreiben an Bürgerinnen und Bürger mit anderen Augen und vereinfachten diese merklich.

Verbesserung existierender Anträge

Gemeinsam mit unserer User-Experience-Spezialistin, die viel Erfahrung mit der Entwicklung von Produkten aus Nutzer*innensicht hat, haben wir Kriterien für optimale Anträge erstellt und diese auch gleich umgesetzt. So wurden unsere Anträge in abteilungsübergreifenden Gruppen intern begutachtet, sodass auch Kolleg*innen ohne inhaltliche Fachkenntnisse kritisches Feedback geben konnten. Komplizierte Verwaltungssprache wurde direkt durch einfache Sprache ersetzt und nicht relevante Abfragen gestrichen. Die Motivation der Teilnehmer*innen die Anträge zu optimieren war groß, denn schließlich profitieren auch Mitarbeitende von einfacheren Abläufen und zufriedeneren Bürger*innen.

Unterschriftenerfordernis als Hindernis

Die Tatsache, dass viele Anträge immer noch eine Unterschrift voraussetzen, erschwert deren Bearbeitung auf beiden Seiten erheblich. Der Antrag muss ausgedruckt, unterschrieben und entweder zum Amt gebracht oder eingescannt und abgeschickt werden. Dabei braucht es, außer bei einigen wenigen Ausnahmen, bei denen beispielsweise eine Zustimmung beider Elternteile erforderlich ist, rechtlich oft gar keine Unterschrift. Ein Antrag auf Arbeitslosengeld kann theoretisch aber auch telefonisch gestellt werden und erfordert keine Unterschrift. Nur machen wir es schon immer so. Kein Wunder, dass der Vortrag des rechtlich versierten Digitalisierungs-Experten zu diesem Thema bei allen Teilnehmer*innen einen echten ›Aha-Effekt‹ auslöste — und bei den meisten Anträgen zur sofortigen Streichung der Unterschrift führte.

Digitalisierung in kleinen Schritten

Nach so viel analoger Arbeit an den Anträgen startete die Digitalisierung dieser. Dabei haben wir uns nicht gleich Grad 4 des OZG-Reifegradmodells vorgenommen, welches die Online-Verfügbarkeit von Verwaltungsleistungen klassifiziert. Stattdessen arbeiteten wir zunächst iterativ an einem Zwischenschritt, einem digital ausfüllbaren pdf-Formular. So können die Fachbereiche große Teile der Anträge selber digitalisieren und die Bürgerinnen und Bürger kommen schneller an die neuen, einfacheren Anträge. Eine Prüfung der Identität der Antragstellenden und ein Online-Bezahlsystem sind bisher nicht an das Formular gekoppelt, jedoch erfordern viele Anträge das auch nicht. Statt erst in Jahren einen vollständig digitalisierten und transformierten Service anzubieten, können wir zeitnah ein verbessertes Online-Formular bereitstellen, das die größten Schmerzpunkte der Nutzenden adressiert.

Selbermachen nach Software-Schulung

Ohne technisches Vorwissen haben unsere Kolleginnen und Kollegen an einer Schulung für ›LibreOffice‹ teilgenommen, einer frei verfügbaren Textverarbeitungssoftware. Schnell waren sie in der Lage, ihre eigenen Anträge in ein digitales pdf zu überführen. Eine Vorlage mit den wichtigsten Feldern, wie Datum- und Mehrfachauswahlfelder, verkürzte die Zeit für die Erstellung Eine Prüfung auf die Barrierefreiheit des Dokuments sowie der Export ins pdf-Format und die Ergänzung von Schaltknöpfen hat unser Team von Arbeit Neu Denken im Sozialdezernat übernommen.

Digitale Lernmaterialen als Hilfestellung

Für die Begleitung neuer ›OZG-Pionier*innen‹ und für den gelegentlichen Blick in das von uns erstellte Handbuch zur Digitalisierung von Anträgen haben wir umfangreiche Schulungsunterlagen sowohl in Video — als auch Textform in einer digitalen Lernplattform zur Verfügung gestellt. Dort wird in 9 Schritten erklärt, wie man von Papieranträgen zu digital ausfüllbaren pdfs kommt. Jeder Schritt wird von selbsterstellten Videos, Präsentationen oder Handbüchern begleitet, sodass theoretisch eigenständig gearbeitet werden kann.

Realitätscheck

Zurück im Arbeitsalltag gestaltete sich die Umsetzung des Gelernten schwieriger. In Zeiten von Ukraine-Krieg, Corona-Pandemie und Home-Office hatte auch das Sozialdezernat mit anderen Dringlichkeiten zu kämpfen. Die ›OZG-Pionier*innen‹ mussten daher andere Prioritäten setzen und konnten nur schrittweise an ihren Anträgen arbeiten. Regelmäßige Netzwerktreffen im Sozialdezernat und wöchentliche Sprechstunden mit unserem Team haben jedoch dafür gesorgt, dass sich alle Teilnehmenden immer wieder mit ihren Anträgen befassen konnten.

Weitere Mini-OZG-Camps

Um noch mehr Anträge bis Ende des Jahres bürgerfreundlicher gestalten zu können und weitere ›OZG-Pionier*innen‹ ausbilden zu können, fand im Oktober 2022 eine Kurzversion des Camps statt. Dabei ging es wieder um folgende Fragen:

  • Wer beantragt unsere Dienstleistungen und wie wird der Prozess bisher erfahren?
  • Wie sieht ein optimales Formular aus Sicht der Bürger*innen aber auch der Mitarbeiter*innen aus?
  • Wie können wir unsere Anträge bürgerfreundlicher gestalten und digital anbieten?

Mit dem OZG-Camp haben wir ein Format entwickelt, das nun auch von anderen Kommunen übernommen werden kann. Die dargestellte Herangehensweise erlaubt es für Mitarbeitende selbst aktiv zu werden statt auf nachnutzbare Ergebnisse aus anderen Regionen zu warten.

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Lene Böhnke ist Projektmanagerin im Sozialdezernat in der Landeshauptstadt Wiesbaden. Zuvor arbeitete sie bei der GIZ und der niederländischen Gemeinde Stichtse Vecht.

Svenja Bickert-Appleby ist Entrepreneurin, Designstrategistin und Innovationsberaterin. Sie ist Gründerin von New Order Design und arbeitet an Projekten mit Fokus auf das Gemeinwohl.

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Svenja Bickert-Appleby
Public Service Lab

CEO @NewOrderDesign // Design Innovation consultant// entrepreneur // Researcher // #servicedesign #designthinking #reallabor #circulareconomy // Germany