Zu gerechteren Services

Wie digitale Verwaltungsservices inklusiver, barrierefreier und fairer werden

Martin Jordan
Public Service Lab
5 min readJun 14, 2021

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von Dr. Katrin Dribbisch & Martin Jordan

Eine handgezeichnete Illustration mit zwei Personen, die Verwaltungsservices auf ihren Geräten nutzen – eine Schwarze Frau, die ein Telefon hält, und eine hellerhäutige Person vor ihrem Laptop, auf dem sie ›diverse‹ als Geschlecht auswählt

Verwaltungsleistungen zu digitalisieren heißt, sie von Grund auf neu denken zu können und zu transformieren. Probleme, die mit existierenden analogen Services bestehen, können von Anfang an vermieden werden. Mit der notwendigen Aufmerksamkeit funktioniert der neue Service dann für behinderte Nutzer*innen, Menschen, deren Muttersprache nicht deutsch ist oder die aufgrund ihres Alters, biologischen oder sozialen Geschlechts, ihrer Religion oder Ethnie Benachteiligungen erfahren.

Dafür braucht es zunächst die Einsicht, dass Probleme existieren und dass in den vergangenen Jahrzehnten entwickelte Dienste nicht immer sämtliche Nutzende ermächtigten, sie nicht fair behandelten oder trotz existierendem Gleichbehandlungsgesetz gar diskriminierten. Die Erkenntnis kann für gutmeinende, auf Rechtssicherheit achtende Verwaltungsmitarbeiter*innen zunächst schmerzhaft sein. In den allermeisten Fällen ist die Wirkung nicht beabsichtigt, das Resultat jedoch das Gleiche. Eine faire Behandlung und gleicher Zugang ist bei Verwaltungsleistungen besonders wichtig: Denn anders als bei privatwirtschaftlichen Diensten haben Menschen bei staatlichen Services keine Wahl, sie müssen das Angebot der Verwaltung nutzen, ob sie wollen oder nicht.

Komplizierte Verwaltungssprache kann zu erheblichen Missverständnissen führen, Pflichtunterlagen können berechtigte Antragsteller*innen ausgrenzen und nicht berücksichtigte Lebensumstände, die Nutzung von Diensten zumindest merklich erschweren. Einschränkungen können dauerhaft bestehen, z.B. bei angeborener Blindheit, bzw. vorübergehend oder situationsbedingt vorliegen, aufgrund einer Krankheit (z.B. Augenoperation) oder herausfordernder Lebenssituationen (z.B. durch die alleinige Pflege minderjähriger oder betagter Angehöriger). Auch als Teil einer Minderheit z.B. aufgrund der eigenen Geschlechtsidentität kann man Benachteiligungen erfahren. Darüber hinaus kann erforderliche technische Ausstattung Barrieren schaffen, beispielsweise wenn man einen Drucker braucht oder keinen Laptop oder pc besitzt. Die folgenden Beispiele illustrieren verschiedene Arten von Diskriminierung:

1. Passfotoautomat nicht für dunkle Hautfarbe tauglich

In mehreren gut dokumentierten Fällen in Bonn, Hamburg und Osnabrück war amtsseitig die Hautfarbe von Antragsteller*innen als ›zu dunkel‹ für das biometrische Ausweisfoto befunden, obschon in dortigen Ämtern aufgestellte Fotoautomaten vom Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) zertifiziert waren.

2. Falsche Anrede

Obschon der Geschlechtseintrag ›divers‹ seit 2018 in Deutschland existiert und damit eine dritte rechtliche Option neben ›weiblich‹ und ›männlich‹ bietet, fragen behördliche Formulare oft weiterhin das biologische Geschlecht binär ab. Gleichermaßen sind die Anreden ›Herr‹ und ›Frau‹ in behördlichen Anschreiben vielerorts weiterhin Standard. So wird auch das soziale Geschlecht aufs Binäre beschränkt. Eine Option wie ›keine Angabe‹ existiert selten.

3. Schwerbehindertenausweis nicht barrierefrei beantragbar

Der vor Inkrafttreten des Onlinezugangsgesetzes digitalisierte Antrag auf Schwerbehindertenfestellung in Hamburg war nicht barrierefrei. Die Nutzer*innen, für die er gedacht war, konnten ihn nicht, wie es die Barrierefreie-Informationstechnik-​Verordnung (BITV) 2.0 vorschreibt, benutzen. Der Service erlaubte weder eine problemlose Nutzung mit assistiven Technologien für Sehgeschädigte wie Bildschirmlesern noch eine ausschließliche Tastatursteuerung. Auch enthielt der Service einen nicht abschaltbaren 15-Minuten-Zähler, was insbesondere für ältere und neurodiverse (1) Menschen zum unbeabsichtigten Abbruch mit Datenverlust führen kann und ebenfalls nicht BITV-konform ist.

Anders als in diesen Beispielen aufgezeigt, sollen Grundgesetz, Gleichstellungsgesetz und Barrierefreiheitsverordnungen sicherstellen, dass nicht-weiße Bürger*innen, nicht-heterosexuelle, nicht-cisgender (2) Personen und behinderte Menschen Verwaltungsdienstleistungen ebenso schnell und effektiv nutzen können wie andere.

Wie können wir inklusive, gerechte und faire Services entwickeln?

Die direkteste Art sicherzustellen, dass Verwaltungsleistungen für alle Menschen funktionieren, ist sie von divers zusammengesetzten Teams entwickeln zu lassen. Sind Menschen mit selbst gemachten Erfahrungen dabei, können im Team potenzielle Probleme früh aufgedeckt werden. So hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) den mit Abstand größten Anteil an Mitarbeiter*innen ohne deutsche Staatsangehörigkeit unter allen Bundesbehörden. Nutzerforschung und enge Partizipation von Menschen mit den beschriebenen Charakteristiken helfen jedoch ebenso, diese Probleme früh zu adressieren. Wenn auch nur ein Hilfsmittel, sollten Teams versuchen, möglichst große Empathie für ihre Nutzergruppen aufzubauen. Das kann unter anderem durch Persona-Übungen erreicht werden, wie sie im britischen Justizministerium eingesetzt werden. Mithilfe dieses Tools gewinnen Serviceteams ein Bewusstsein für die Hürden und Herausforderungen ihrer am stärksten gefährdeten Nutzergruppen und können Prozesse entsprechend gestalten, z.B. für traumatisierte minderjährige Flüchtlinge oder Menschen mit Angststörungen. Ein anderes Mittel, um Services zu testen, sind Simulationen, wie sie beim britischen Government Digital Service im Einsatz sind. Auch wenn eine Simulation niemals eine Behinderung wirklichkeitsgetreu darstellen kann, hilft dies, einen Service z.B. für verschiedene Sehbeeinträchtigungen zu testen. In der britischen Verwaltung sind solche Praktiken bereits gut etabliert: In Bezug auf einfache Sprache wird ein Lesealter von 9 Jahren für jegliche Leistungsbeschreibungen vorgeschrieben ebenso wie verpflichtende Nutzerpartizipation mit behinderten Menschen und ihre Beteiligung bei Nutzbarkeitstests. Bei einem solchen berichtete eine junge blinde Frau, die einen barrierefreien Dienst für die Erneuerung ihres Reisepasses benutzte, wie ermächtigt sie sich fühlt, weil sie keine Hilfsperson mehr braucht. Für den gleichen Service wurden Nutzertests mit tauben Nutzer*innen durchgeführt. Die tauben Nutzer*innen konnten den Onlineantrag bis auf die letzte Seite problemlos ausfüllen. Dort sollten sie ihre Telefonnummer angeben. Das führte zu der Idee, SMS als Alternative hinzuzufügen, was auch Nutzer*innen hilft, die im Nachtdienst arbeiten und tagsüber keine Anrufe entgegennehmen können.

Beim Digitalisieren von Diensten und Automatisieren von Entscheidungen muss mit großer Achtsamkeit geschaut werden, wie vorgegangen wird und sichergestellt wird, dass keine Voreingenommenheiten einprogrammiert werden, z.B. weil Maschinenlernsysteme und künstliche Intelligenz auf bisherige Datensätze aufbauen. Ähnlich der deutschen Passbildautomaten im Bürgerbüro verursachte ein britischer Dienst laut eines BBC-Berichts Probleme für Menschen mit dunkler Hautfarbe. Beim Hochladen eines Passfotos von einer dunkelhäutigen Person mit größeren Lippen gab die Webseite eine Fehlermeldung, da der Algorithmus annahm, ihr Mund sei geöffnet. Wären dunkelhäutige Menschen früher im Entwicklungsteam und unter den Testnutzer*innen gewesen, wäre es vermutlich nicht gekommen. Das Team im britischen Innenministerium beteiligt mittlerweile stets Nutzer*innen mit den vom Gleichstellungsgesetz geschützten personenbezogenen Charakteristiken.

Gerechtere Services sind Services, die für alle funktionieren und keine Menschen ausgrenzen und zurücklassen. Das ist besonders zentral, weil es bei Verwaltungsleistungen anders als bei privatwirtschaftlichen Diensten keine Wahl gibt, ob ich eine staatliche Leistung nutzen möchte oder nicht. Auch wenn nur ein kleiner Teil der Nutzenden eine potenziell schlechtere Erfahrung hat, müssen Verwaltungsdienste entsprechend des Gleichstellungsgebots dem entgegenwirken. Das ist umso wichtiger vor dem Hintergrund, dass wir alle, sei es, weil wir älter werden, aufgrund von Krankheit oder anderer Umstände, im Laufe unseres Lebens Einschränkungen erfahren werden. Ein Bewusstsein für diese Einschränkungen und die daraus resultierende Ungleichbehandlung zu entwickeln, ist nur der erste Schritt. Proaktiv Verwaltungsdienste inklusiver, barrierefreier und fairer zu gestalten, ist notwendige Konsequenz. Damit wird die Verwaltung auch dem gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskurs gerecht.

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1: Neurodiversität — neurobiologische Unterschiede werden nicht als Krankheit sondern als eine menschliche Disposition unter anderen angesehen und respektiert

2: Cisgender — eine mit dem körperlichen Geschlecht übereinstimmende Geschlechts identität habend

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Dr. Katrin Dribbisch berät Verwaltungen zu nutzerzentrierten Arbeitsweisen und besseren Onlinediensten bei der Init AG. Sie promovierte zu Design Thinking in der Verwaltung.

Martin Jordan arbeitet als Head of Service Design beim Central Digital & Data Office im britischen Cabinet Office in London.

Dieser Artikel erschien im Juni 2021 in der 1. Ausgabe des 7. Jahrgangs der Service Gazette, der Zeitung für Serviceinnovator*innen.

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Martin Jordan
Public Service Lab

Making services work better for all people; Head of Design at German govt’s Digital Service, former Head of Service Design at UK Gov; Service Gazette co-editor