Schluss mit 9 to 5 — Warum weniger mehr ist.

“Arbeite ich so, wie ich am besten arbeite?” Über ein Experiment auf der Suche nach der optimalen Arbeitskultur.

Railslove
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11 min readMay 16, 2018

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Die obige Frage habe ich mir häufig gestellt, denn viel von der Zeit, die man im Büro verbringt, wird nicht effektiv gearbeitet. Eine britische Studie hat herausgefunden, dass Menschen, die im Büro arbeiten, durchschnittlich etwa drei Stunden produktiv sind. Drei. Die übrigen fünf Stunden, das gaben die etwa 2,000 Befragten an, sind gefüllt mit Browsing durch soziale Medien (44 Min), Nachrichten lesen (1 Std), Quatschen mit Kollegen (40 Min) oder dem Zubereiten von Kaffee (17 Min). Jetzt sollten nicht nur BWLer oder Geschäftsführer in Panik ausbrechen. Was das wirtschaftlich für ein Unternehmen bedeutet, kann man sich denken.

Die ungenutzen fünf Stunden sind nämlich verlorene Zeit, die auch nicht als erholsam empfunden wird, sondern irgendwann schlicht nervt, denn sie fehlt für das Entwickeln guter Ideen, die uns zufriedenstellen, und am Ende auch für das Privatleben. Woher kommt diese Unproduktivität?

Ich kann zwar mit Sicherheit sagen, dass ich mehr als drei Stunden arbeite (echt!), ganz optimal nutze ich meine Zeit aber nicht, das spüre ich zunehmend. Und das Problem ist hausgemacht. Deshalb habe ich mich auf die Suche gemacht nach dem perfekten Arbeitsmodus für mich und meinen Arbeitgeber— und nach einer besseren Version meiner selbst.

Heute lest ihr, warum ich meine Produktivität und das Thema Arbeitskultur überhaupt hinterfragt habe und wieso wir bei Railslove das ganze als Experiment aufziehen. In den kommenden Wochen schalten sich einige meiner Kollegen dazu und ihr seid immer dabei, wenn wir von unseren Erfahrungen auf der Suche nach unserer perfekten Arbeitskultur berichten. Es wird eine interessante Reise, soviel steht fest.

Und ihr werdet euren eigenen unproduktiven Schweinehund darin wiederfinden, versprochen!

Sehr erfreut, ich bin das Problem.

Ich (Michael, 28) arbeite im circa zwanzigköpfigen Team der Web-Agentur Railslove, wo ich für Marketing und Content verantwortlich bin. Dieser Job bedeutet, dass ich meist in verschiedensten Projekten involviert bin. Ein interessanter und abwechslungsreicher Job in einem familiären, coolen Team, in dem permanent ein Austausch stattfindet und wo man stetig dazulernt.

Bei meiner Arbeit setze ich mich regelmäßig mit den Themen Innovations- und Arbeitskultur auseinander. Dabei ist mir wiederholt augefallen, dass ich gegen viele der Prinzipien, von denen man behauptet sie würden Kreativität und Innovation fördern, verstoße. Und dass das klassische 9–5 Modell überhaupt dagegen verstößt. Im letzten Jahr habe ich zudem immer mehr bemerkt, wie mein Privatleben und meine Arbeit kollidieren — etwas das jeder kennt, der eine 40-Stunden-Woche hat. Und von dem man meist denkt, so sei eben das Arbeitsleben.

“Also schau, dass du strukturierter und effektiver wirst” sagte ich mir. Und das sicher schon einige Dutzend mal in den letzten drei Jahren. Aber trotz aller Produktivitäts-Tools, Email-Hours, gemuteten Notifications und anderen Strategien— ein Phänomen zieht sich seit dem ersten Tag durch meine Arbeit:

Ich verbringe mehr Zeit im Büro, als ich wirklich produktiv arbeite.
Das habe ich so hingenommen, da es
1.) fast allen meinen Freunden und Kollegen so geht und
2.) sich eingeschliffen hat und Normalität geworden ist.

Eigentlich könnte ich alles anders machen.

Bei uns gibt es prinzipiell keine Kernarbeitszeit. Dass um 11 alle im Büro sein sollten, damit möglichst viel Austausch passiert ist aber schon seit lange vor meiner Zeit hier etabliert. Und kollidiert mit den allerwenigsten Präferenzen, was Arbeitszeiten angeht.

Railslove ist eine Agentur, wir leben also von den Arbeitsstunden, die wir den Kunden berechnen können. Wir sind in Projektteams organisiert, die relativ autark arbeiten, immer selber im direkten Kundenkontakt stehen und sich vor allem innerhalb der Teams abstimmen müssen. Das funktioniert seit Jahren, und macht aus Sicht der Kunden die Qualität unserer Arbeit aus. Und es lässt beträchtliche Freiheit, die das Vertrauen in die Fähigkeit und Selbstorganisation der Mitarbeiter voraussetzt. Daher kommt zu uns nur, wer das auch mag und kann.

Unser Büro ist Treffpunkt und Hauptquartier — Arbeit kann aber überall passieren.

Viele von uns leben diese Freiheit aus und arbeiten sehr flexibel, schauen nicht auf die Uhr, sondern bearbeiten ihre Aufgaben, wo und wie es am besten passt. Ich habe mir das aber nie wirklich angeeignet, da ich bisher eine eher konservative Vorstellung von Arbeit hatte, ein Abbild dessen, was ich mein Leben lang bei Familie und Freunden beobachtet hatte. So wie manch andere Kollegen auch. Und wir haben uns damit selber daran gehindert besser und zufriedener zu arbeiten.

Das betrifft vor allem die Generation an Mitarbeitern, die nicht schon zu Gründungszeiten mit dabei waren. Bei unseren Seniors ist der New Work Gedanke eine Selbstverständlichkeit, ist aber über die Jahre nicht zu allen Neuen durchgedrungen. Das soll sich wieder ändern und muss gleichzeitig das Ziel haben, möglichst viele produktive Stunden abrechenbar zu machen.

Die eierlegende Wollmilchsau der Arbeitswelt also. Na das kann ja was werden…

Der 8h Tag: Gelernt ist gelernt.

Meine Ansicht von Arbeit als ein Zeitblock innerhalb eines Tages ist eben erlernt worden, auch wenn ich damit eigentlich nicht perfekt klar komme, mir oft mehr Flexibilität gewünscht habe. Wieso habe ich es dann nie geändert?

Unter anderem weil unser Umfeld oft die Genügsamkeit in uns bestärkt: “So ist halt das Arbeitsleben” und “Wir sind ja hier nicht bei wünsch-dir-was”. Doch ob das Konzept 8-Stunden Tag, das stete Sich-Konzentrieren über ein Drittel des Tages, überhaupt sinnvoll ist, hinterfragt man selten. Sondern fühlt sich schuldig für das Gefühl irgdendwann einfach mal “durch” zu sein. Oder für den Wunsch, Arbeit und Privatleben besser kombinieren zu wollen. Denn dann wäre man ja faul.

Manch einer will seinen Freunden, die im Service oder bei einer Versicherung arbeiten, gar nicht erzählen, dass er flexibel arbeitet — weil Menschen, die blind am 8-Stunden Tag festhalten, einem oft vorhalten, man arbeite dann logischerweise auch weniger als sie. Aus Neid oder Frustration? Ähnliches schlägt mir bereits entgegen, wenn ich von meinem festen Dienstag im Home Office erzähle. Es gibt zahllose äußere Einflüsse, die das klassische Arbeitsmodell in uns verankert sehen wollen und Voruteile, die einem entgegenschlagen, wenn man etwas anderes propagiert. Man sollte das abschütteln und sein Tun mal unabhängig vom Zeitrahmen betrachten:

Haben nicht alle Beteiligten am Ende der Woche mehr davon, wenn ich alles Wichtiges geschafft und noch ein paar gute Ideen gehabt habe, als dass ich irgendwie 40 Stunden voll kriege? Ist ein zusammenhängender Zeitslot von 9 Stunden mit einer Stunde Pause adäquat für alle? Für mich? Für euch?

Zeit, von der niemand etwas hat.

Wie oft habe ich mich im Office von 15 bis 17 Uhr beschäftigt — das sage ich bewusst so. Fest davon überzeugt, dass ich noch bestmöglich arbeite. Unwissend, dass ich in diesen zwei Stunden, meist erschöpft, oft weniger geschafft habe, als in meiner produktivsten Stunde am Morgen zwichen 8:00 und 9:00. Dennoch zieht man durch. Frustriert sich, denn alles ist zäh in diesen Stunden. Geht dann heim und erledigt sein Privatleben, überzeugt, dass man soviel man konnte auf der Arbeit geschafft hat.

Manchmal kriegt man einfach nichts gebacken. Und bleibt trotzdem dran — umsonst.

Viele Studien* belegen eindeutig, dass sich der Mensch nicht sonderlich lange auf eine Aufgabe konzentrieren und schon gar nicht unter mentalem Druck kreativ denken kann. Blöd nur, dass viele Bürojobs genau das 8 Stunden lang verlangen. Das Ergebnis sind dann unsere Briten aus der Studie oben, die satte drei Stunden arbeiten und den Rest mit lange entwickelten Ausweichstrategien füllen. Toll.

Ich habe, als ich wirklich bewusst darauf geachtet habe, gemerkt, wie die der traditionelle Arbeitsrhytmus im Büro

meine Kreativität,
meine Produktivität,
meine Motivation,
meine Zufriedenheit, beruflich wie privat,

nach und nach aufzufressen begonnen hat. Und zack , dann ist sie da, die Sinnkrise, und man fängt plötzlich an zu zweifeln, ob das so weitergehen kann. Bin ich hier überhaupt richtig?

*Links zu verschiedenen Quellen findet ihr unter dem Artikel

Jeder Jeck ist anders.

Ich kann mich eigentlich glücklich schätzen, denn meine Arbeitsinhalte gebe ich mir zu 90% selber vor. Ich habe einige feste ToDos jede Woche, deren exakten Inhalte ich aber selber steuer. Das ist schön, hat im Rahmen von allem, was ich oben geschrieben habe, aber eine Schwierigkeit: Ich bin schwer abhängig von meiner Kreativität.

Wahrscheinlich habe ich deshalb erst die Problematik entdeckt, denn die Geistesblitze, die spontane Vernetzung von Wissen zu Erkenntnissen und neuen Ideen, sind immer häufiger ausgeblieben. Das hat verschiedene Gründe:

Diese Grafik zeigt, wie unterschiedlich die kreativsten Köpfe ihre Tage strukturiert haben, um das Beste aus sich heraus zu holen.

Was nicht deinem Rhytmus entspricht, killt deine Produktivität.
Nicht jeder arbeitet schon um 7 Uhr morgens konzentriert, manche sind aber gerade dann besonders fit. Die einen haben ein Mittagstief, andere sind am Mittag auf ihrem Höhepunkt. Viele werden erst kurz vorm Schlafengehen produktiv, müssen aber eigentlich am nächsten Morgen um 6 aufstehen — und nutzen die produktivste Zeit daher nicht.

Planen, Nachdenken, Reflektieren geht schlecht zwischendurch.
Ich habe zwar auch oft während der Zeiten im Büro gute Einfälle, diese weiter auszuführen wird aber durch die gerade zu erledigenden Arbeiten häufig blockiert, denn auch bei diesen muss ich konzentriert bleiben, damit ich nicht z.B. mitten in einem Artikel den Faden verliere. Ideen ersticken im Keim oder werden nicht weitergedacht.

Parkinson’s Law deutet auf eine Ursache hierfür hin, denn:

„Arbeit dehnt sich in genau dem Maß aus, wie Zeit für ihre Erledigung zur Verfügung steht.“

Arbeite ich also produktiver, wenn ich mir weniger Zeit für meine festen Aufgaben gebe und schaffe mir dadurch Freiräume für kreative Zeit zum Nachdenken?

Was zuviel ist, ist zuviel.
Klar, wenn es brennt muss gelöscht werden. Und manche Tage sind eben stressig, man muss hin und wieder über sein Pensum hinaus, wenn die Umstände das erfordern. Alles gut. Wenn das zum Dauerzustand wird, wird es ungesund. Das Gehirn benötigt Zeit zum Regenerieren, sonst sind auf Dauer Herz-Kreislauf- und psychische Erkrankungen die Folge. Die immer weiter steigende Burnout Rate wird oft zurückgeführt auf zu hohen Workload und fehlende Distanz zur Arbeit. Ich denke, dass es starre Struktur und schlechte Organisation sind, die ebenso mental belasten.

Eine gewisse Entschleunigung ist aber nicht nur für die Gesundheit wichtig.

Kreativität benötigt Raum. Sehr viel Raum sogar. So viel, dass Langeweile unser Freund sein kann, denn schaltet unser Gehirn in den “default mode”, wie bei monotonen Alltagstätigkeiten, steigen wir hinab in die Wirrungen unserer noch nicht ganz verarbeiteten Gedanken und unerforschten Erinnerungen. Von ganz alleine verschalten sich dadurch einst gewonnene Eindrücke zu neuen Ideen.

Trennung von Arbeit und Privatem — gesund oder ein Symptom?

Viele Faktoren stören unsere Produktivität, gerade wenn diese kreatives Denken erfordert. Ein Business Inisder Artikel zum Thema Arbeitszeiten fasst etwa eine bekannte Studie des Psychologen Frank Barron wie folgt zusammen:

“Indem man kreativen Menschen zu viel Struktur vorgibt, nimmt man ihnen ihre Problemlösungskompetenz. Sie wollen selbst entscheiden, wie sie zum Ziel kommen und wie sie sich die Zeit bis dahin einteilen.”

Das würde ich so unterschreiben. Doch gehört eine gute Portion Achtsamkeit und Reflexion dazu, damit man selber seine produktiven Zeiten erkennt. Viele Leute arbeiten aber gegen ihre eigenen Präferenzen und stellen nach Feierabend den Ordner “Arbeit” weit hinten ins mentale Regal, dort wo man nicht mehr rankommt. Schließlich ist man jetzt erschöpft und das ist ein Zeichen für einen erfolgreichen Arbeitstag.

Spoiler: Nein, ist es nicht. Gar nicht. Überhaupt nicht. Au contraire!

Passiert das regelmäßig, ist das ein Zeichen von Verdrossenheit, Abkapselung von der Arbeit. Je nachdem welchen Job man hat, ist das Gift, denn die besten Ideen hat man oft am Wochenende oder im Urlaub, wenn man erholter ist und etwas Abstand zur Arbeit hat. Und schiebt sie dann zur Seite, denn man hat sich wegen des stressigen Alltags mal absolutes Arbeitsverbot erteilt.

Das klingt für viele nach einer gesunden Einstellung, zeigt aber eigentlich ein klares Symptom eines ungesunden Arbeitsalltags.

Das ist kein gesundes “Abschalten können”, sondern geschwundenes Interesse, ein “es steht mir bis hier”. Das baut sich während der Arbeit auf und blockiert schon dann jegliche Kreativleistung — genau das, wovon meine Arbeit neben den festen ToDos lebt. Wovon sie leben sollte.

Ist das nicht furchtbar? Deshalb muss ich weg von dieser Struktur und dieser Verhaltensweise. Und ich nehme meine Kollegen mit!

In Aufgaben und Sprints denken, statt Stunden.

Wir starten ein Experiment. Das Ziel: Jeder Mitarbeiter soll für sich und innerhalb seines Projektteams seinen perfekten Arbeitsmodus finden und ausleben. Um zufriedener und produktiver zu arbeiten.

Dazu verabschieden wir uns den gesamten Juni konsequent von 9–5, dem 8-Stunden Tag oder whatever. Wir denken nicht in Tagen und Stunden sondern in ToDos, Aufgaben, Sprints, etc. Wann und wo die Arbeit erledigt wird, spielt keine Rolle, auch nicht wann wir kommen oder gehen. 30 oder 40 Stunden? Egal, erst einmal herausfinden, wieviel Zeit man wann wofür benötigt.

Mal um 13 Uhr aus dem Büro, zum Sport, den Einkauf erledigen, ein Kaffee mit Freunden und dann mit freiem Kopf am Abend noch was tun. Um 6 im Büro sein und 3 Stunden in den Tunnel während noch alles ruhig ist. Oder am Sonntagmorgen ein, zwei Stündchen frisch arbeiten, Artikel wälzen und die Gedanken dazu festhalten. Herausfinden, wann wir unser Bestes geben und dabei die beste Qualität für die Arbeit und das Leben außerhalb davon erreichen. Soweit die Vision.

Ganz wichtig aber: Kommunikation findet statt. Wann man wo ist und wie währenddessen verfügbar muss abgestimmt sein. Wir müssen uns aufeinander verlassen können und für das Team erreichbar sein.

Sonst gibt es keine Regeln.

Mit dem Experiment soll ein Bewusstsein geschaffen werden für die persönlichen Bedürfnisse bei der Arbeit und Raum für eine stetige Weiterentwicklung. Zum bestmöglichen Railslove-Ich für jede Person.

Wir wollen nicht drei Stunden produktiv sein, wir wollen so lange wie möglich so produktiv sein wie möglich, auch wenn das heißt, dass man an manchen Tagen früher das Handtuch schmeißt, damit man an anderen Tagen motiviert an die Arbeit gehen kann. Der wirtschaftliche Gedanke schwingt immer mit, dafür haben wir auch das Sales und Controlling Team mit an Bord.

Im kommenden Teil stellen wir uns alle vor mit unseren individuellen Zielen und Erwartungen an das Projekt. Alle aus anderen Bereichen, alle mit anderen Hintergründen und Problemen.

Seid live dabei, mischt euch ein und sagt uns, wie ihr am besten arbeitet — oder arbeiten würdet. Wir probieren’s für euch aus!

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