So machen wir unseren Journalismus unverzichtbar

Zehn Erkenntnisse: So kann ein regionales Medienhaus vom Zeitungsverlag zum Anbieter von Digital-First-Journalismus werden, der wirklich die Kunden in den Mittelpunkt stellt

Sebastian Pantel
SÜDKURIER // SHIFT
6 min readJul 15, 2019

--

Mit welchem Journalismus wollen wir in Zukunft Geld verdienen? Diese einfache Frage ist für traditionelle Medienhäuser, wie auch mein Verlag SÜDKURIER eines ist, zur Existenzfrage geworden. Mit der gedruckten Zeitung allein werden wir nicht überleben. Wir wollen aber nicht sterben. Also haben wir uns gefragt: Wie gelingt uns der Weg in die Zukunft? Wie transformiert sich unser Unternehmen, wenn wir unser Geschäft transformieren? Was brauchen wir dafür — und wie geht es uns eigentlich dabei?

Die New York Times hat es getan. Also haben wir es vergangenes Jahr auch getan: Uns hingesetzt und mal möglichst ehrlich ein paar Dinge aufgeschrieben. Warum es uns Journalisten eigentlich noch geben soll. Welchen Beitrag wir noch leisten können (und wollen), für die Gesellschaft und das große Ganze. Und wie sich das in der digitalen Zukunft finanzieren lässt. Im Kern also: Was wir tun sollten, um unseren Job zu sichern und ihn für junge Menschen attraktiv zu machen — denn es ist (finden wir zumindest) der beste Job der Welt.

„Wir“, das sind vier Journalistinnen und ich, wir sind alle unter 40 und arbeiten beim SÜDKURIER, einem regionalen Medienhaus im Südwesten Deutschlands. Der Rahmen unserer Überlegungen ist das Projekt SHIFT, unser Name für die Transformation unseres Geschäfts und unseres Hauses.

Wir stellten fest: Die Transformation bedeutet (vor allem für Redaktionen und Journalisten), sich schmerzhaften Wahrheiten zu stellen, um den Blick dafür freizubekommen, welche Chancen für uns im Digitalen liegen. Nicht nur wirtschaftlich, sondern auch ganz persönlich.

Also haben wir einen Report geschrieben. Eine Standortbestimmung und darauf basierend zehn Thesen, die uns bei dem leiten können, was da kommt. Den kompletten Report gibt es hier zu lesen. Das ist die Kurzform:

1 | Wir müssen keine Angst vor der Zukunft haben.

Die Digitalisierung schreitet rasend schnell voran. Statt uns überrollen zu lassen, sollten wir den Wandel gestalten. Mit dem SHIFT-Projekt entwerfen wir für den SÜDKURIER einen Plan, wie das gelingen kann: Mit hochwertigem, regionalem Journalismus, der die Fragen von Menschen beantwortet und unser Medienhaus zum Verbündeten unserer Leser macht. Dann wird unsere Arbeit auch in Zukunft relevant sein — und erfolgreich.

2 | Der permanente Wandel wird zum Status quo.

Wir werden uns an die dauerhafte Innovation gewöhnen. Wenn wir uns nicht ständig von innen heraus neu erfinden, werden wir abgehängt. Wir brauchen Agilität, Mut und Haltung für diese Transformation. Das sind die inneren Werte zukünftiger Journalisten.

3 | Das Handwerk muss stimmen.

Nutzer und Leser werden immer anspruchsvoller. Sie sind bereit zu zahlen, auch im Digitalen — aber nur für exzellente Produkte. Deshalb muss unser Handwerk stimmen — im Journalismus, in unseren Produkten, in unserem gesamten Auftreten. Wir müssen noch intoleranter Fehlern gegenüber werden. Und gleichzeitig Fehler als die beste Chance begreifen, um zu lernen.

Storytelling-Workshop in der SÜDKURIER-Redaktion
Storytelling-Workshop in der SÜDKURIER-Redaktion: Wie erzählen wir lineare Visual-Storys fürs Smartphone? Beim Bauen eines Storyboards helfen bunte Moderationskarten. Wir haben alle Redakteure des Hauses auf diese Weise geschult. Seitdem entstehen regelmäßig Storys, die unsere Nutzer begeistern.

4 | Den SHIFT schaffen wir nur im Team.

Die Umwälzungen des digitalen Wandels betreffen unsere ganze Branche. Es reicht nicht, ein paar Innovateure vorzuschicken, um diesem Wandel zu begegnen. Wir müssen uns als gesamte Organisation ändern. Das geht nur, wenn wir organisatorische Silos einreißen, von denen viele Verlage tief geprägt sind: Hier die Redaktion, dort der Vertrieb, da drüben das Marketing. Wir sollten aber nicht gegeneinander oder aneinander vorbei arbeiten, sondern produktiv und vernetzt zusammen für den Kunden.

Die Führung muss dazu klare Ziele setzen und echte Freiräume für Neues schaffen. Und jeder Einzelne sollte den Wandel als seine ganz persönliche Aufgabe sehen. Von oben oder außen verordnen lässt sich der SHIFT nämlich nicht.

Workshop-Ergebnis: Wir brauchen Journalismus, Vermarktung und Technik gleichermaßen.
Teilergebnis eines von vielen Workshops mit allen Mitarbeitern des SÜDKURIER Medienhauses: Welche Fähigkeiten brauchen wir für den SHIFT? Antwort: Journalismus, Vermarktung und Technologie müssen ineinandergreifen.

5 | Niemand muss sich der Zukunft allein stellen.

Die Transformation kann einschüchternd und anstrengend sein. Aber niemand muss allein da durch. Wer sich verändern will, muss darin unterstützt werden. In diesem Wandel müssen Fehler erlaubt sein und von der Führung akzeptiert werden, denn besonders aus Fehlern kann eine Organisation lernen und daran wachsen. Ohne den SHIFT im Kopf und fundamentale Veränderungen in der Kultur eines Unternehmens gibt es keine Transformation.

6 | Wir werden in Zukunft anders arbeiten als heute.

Die Digitalisierung krempelt die Welt um, grundlegend und unumkehrbar. Menschen verlangen von uns heute völlig andere Produkte als früher. Der Kontext unserer Arbeit (Politik, Gesellschaft, Technologie) wandelt sich permanent und immer schneller. Das wirkt sich auf unsere tägliche Arbeit aus und verändert Berufsbilder und Rollen. Die Strukturen und Workflows von heute kommen an ihre Grenzen.

Für die Redaktion etwa heißt das: Das reine Abbilden von Nachrichtenlagen und Ereignissen wird nicht mehr das sein, wofür Menschen uns bezahlen. Unsere Storys werden zeitloser, freier vom Termingeschäft, tiefer und breiter werden müssen. Weitererzählen statt nacherzählen. Das kann dann zum Beispiel so aussehen. Und je konsequenter wir das tun, desto bessere Planung werden wir brauchen.

Im SHIFT-Labor, der Lokalredaktion Konstanz, experimentieren wir mit Content-Planung nach Themenfeldern (hier arbeite ich an unserem Story-Planungsboard), abgeleitet aus den Wünschen und Bedürfnissen unserer Leser und dem Erfolgsbeitrag für unser Paid-Content-Geschäft. Darüber hat mein Kollege Matthias Kiechle hier Spannendes geschrieben.

7 | Die Zeitung wird nicht sterben. Aber sie wird sich sehr verändern.

Unser Erfolg basiert auf mehr als 70 Jahren Tageszeitungs-Geschäft. Die Zeitung wird überleben, aber nicht mehr im Zentrum unseres Tuns stehen dürfen — selbst wenn sie immer noch den Großteil unserer Gewinne sichert. Sie muss sich auf ihre Stärken konzentrieren, aber zugunsten des Neuen aus dem Zentrum der Aufmerksamkeit rücken.

Diese Neu-Einordnung kann die Zeitung sogar erfolgreicher machen als sie es heute ist. Aber diese Neubewertung von Print müssen wir ganz bewusst organisieren: Mit Trauerarbeit, mit dem teils schmerzhaften Abschied vom Alten und Bekannten, mit der mühsamen Veränderung eingeschliffener Routinen, und mit Klarheit.

Mario Garcia hat uns im SHIFT-Prozess inspiriert.
Von Beginn an haben wir uns für unseren SHIFT-Prozess Inspiration und Begleitung gesucht — zum Beispiel von Mario Garcia, legendärer Zeitungsdesigner und gleichzeitig trotz seiner 70 Jahre einer der vehementesten Vordenker für Journalismus auf dem Smartphone. Hier diskutiert er mit SÜDKURIER-Chefredakteur Stefan Lutz (links) und dessen Stellvertreter Günter Ackermann.

8 | Technik geht jeden an.

Journalistischer Inhalt und Technik sind immer weniger zu trennen. Wir lernen von Tracking, wir erzählen anhand Daten spannende Geschichten, wir arbeiten in multimedialen Redaktionssystemen. Technisches Verständnis wird deshalb immer mehr ein Teil des Journalisten-Berufs. Nur wer die technischen Möglichkeiten kennt, kann zukunftsfähige Geschichten im Digitalen erzählen. Und nur wer Technologie versteht, kann fundiert und kritisch darüber schreiben, wie sie unsere Gesellschaft verändert.

9 | Wir müssen unsere Werte nach außen leben und verteidigen, um glaubwürdig zu bleiben.

Unsere Glaubwürdigkeit wird angegriffen und in Frage gestellt — gerade im Digitalen und in Sozialen Netzwerken. Doch Glaubwürdigkeit ist unser wichtigstes Gut. Wir müssen uns deshalb wieder auf unsere Werte besinnen. Wir müssen kritisch zu uns selbst sein und zunächst einmal jede Kritik zulassen. Die Menschen in unserer Region — zumindest ziemlich viele von ihnen — wollen guten Journalismus von uns, der ihr Leben bereichert, sie selbst klüger, mündiger und selbstbewusster macht. Wir sollten ihnen sagen, dass sie genau das bei uns finden. Wir sollten ihnen zeigen, dass wir Verbündete sind.

10 | Der SHIFT kommt sowieso. Heißen wir ihn willkommen!

Der digitale Wandel ist eine Revolution. Er fegt Altes hinweg, ohne Rücksicht auf Verluste. Das ist gemein und eine Zumutung, aber es ist so. Dem SHIFT ist egal, ob wir uns bewegen. Also bewegen wir uns. Wir glauben fest daran, dass das geht: Uns wandeln und treu bleiben. Innovativ sein und traditionsbewusst. Heimatverbunden mit globalem Horizont. Anspruchsvoll bis zur Schmerzgrenze und entspannt dabei. Erfolgreich und glücklich.

Wenn Sie uns auf diesem Weg begleiten wollen, oder erstmal nur mehr erfahren, oder mir sagen, dass wir auf dem Holzweg sind: Schreiben Sie mir. Lassen Sie uns über den SHIFT sprechen. Und ihn dann machen. Denn machen ist wie wollen, nur krasser.

--

--

Sebastian Pantel
SÜDKURIER // SHIFT

Editorial Development @ SÜDKURIER. Journalist & Scrum Master. Love to make people, teams & digital journalism awesome.