Wie alles aufeinander aufbaut

oder: “Das lernst du im nächsten Semester”

Kim (sblog)
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3 min readSep 21, 2017

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Mein Kommilitone meldet sich in der ExPhy-Übung und fragt, warum die potentielle Energie in elektrischen Feldern mit W=0,5*∫ ε_0 ε_r E² dV gegeben ist, woraus wir den Zusammenhang aus der Ladung und Spannung herleiten wollen.

“Das könnte ich jetzt erklären, aber das würde viel zu lange dauern und das würdet ihr sowieso noch nicht ganz verstehen. Das lernt ihr dann im nächsten Jahr in Festkörperphysik”, antwortet unser Tutor.
Und genau diese Antwort kommt mir ziemlich bekannt vor.

“Warum müssen wir Topologien lernen und wofür brauchen wir jemals den Hilbertraum?”, wird in MaPhy gefragt. Die Antwort: “Das könnte ich jetzt erklären, aber das würde viel zu lange dauern und das würdet ihr sowieso noch nicht verstehen. Das braucht ihr dann in Quantenmechanik.”

Genauso soll uns die Hamiltonmechanik auf die theoretische Physik der Quanten vorbereiten. Das werde ich aber erst im nächsten Sommersemester hören.

Leider bleibt man dann ziemlich häufig mit diesem unbefriedigenden Gefühl sitzen, etwas verpasst zu haben, nein, etwas noch nicht einmal von der Ferne aus sehen zu können. Andererseits bekomme ich so schonmal einen Eindruck davon, wie viel noch vor uns liegt, wie viele Themen in der Physik zusammenhängen und wie vielschichtig diese sind.

in der Vorlesung Analytische Mechanik ist das Vorwissen der Newtonschen Mechanik wichtig, um so Lagrange und Hamilton besser verstehen zu können, welche wiederum zu unserem Verständnis in den nächsten Semestern beitragen sollen.

Manchmal frage ich mich auch, welche Systeme ich mit den theoretischen Modellen, die ich in AnaMech kennengelernt habe, beschreiben kann und wie staunenswert diese sein müssen, wenn ein Phasenraum anscheinend bestens dazu geeignet ist.

Was ich auch spannend finden würde, ist, zu verstehen, warum sich Teilchen in elektromagnetischen Feldern so verhalten, wie wir sie in ExPhy II beschrieben haben. Unsere Erklärungen und Beschreibungen haben zwar ziemlich gut zu den Experimenten gepasst wenn wir Elektronenstrahlen angesehen haben, die sich durch Magnete steuern ließen, doch wissen wir ja, dass Teilchen eben auch Welleneigenschaften besitzen und das keinen unerheblichen Einfluss auf deren Verhalten hat.
Bis jetzt musste ich mich damit abfinden, den Spin der Elementarteilchen und Quantenzustände zu vernachlässigen, Teilchen eben als Teilchen und nicht als Quanten zu sehen, auch um Rechnungen einfacher zu machen. Denn das alles lerne ich dann im vierten Semester in Atomphysik. Und jetzt würde es zu lange dauern, mir das zu erklären und ich würde es sowieso noch nicht richtig verstehen.

Ein wenig kann man sich auch wie ein*e Physiker*in im Wandel der Zeit sehen. Als Maxwell Mitte des 19. Jahrhunderts seine berühmten Gleichungen aufstellte, waren die Anfänge der Quantenphysik noch ein halbes Jahrhundert entfernt. Und trotzdem wurde eine Physik praktiziert, bei denen die Versuche die theoretischen Überlegungen stützte und begründete und ein System entwickelt wurde um elektrische und magnetische Effekte vorhersagen zu können.
Das dürfen wir jetzt nachempfinden und, wie die Physiker*innen vor uns, mit der Zeit ein immer weiteres Verständnis für die Prozesse auf und um diese Welt entwickeln.

Aber egal, wie reizend das klingen mag, kann es schon frustrierend sein manche Zusammenhänge einfach nicht erklärt zu bekommen, auch wenn der zweite Gedanke auch immer ein “na gut, dann muss ich wenigstens weniger lernen” sein kann, womit es sich wesentlich leichter akzeptieren lässt.

Akzeptanz ist allgemein eine große Tugend in diesem Studium; Akzeptanz und gleichzeitig eine Neugierde und Freude alles zu hinterfragen, was du gerade akzeptiert hast. Dann wirst du irgendwann mit Aha!-Momenten belohnt und kannst dir selber das Integral herleiten, welches die Macht besitzt, die Energie in elektrischen Feldern beschreiben zu können.

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Kim (sblog)
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Hi, mein Name ist Kim. Ich schreibe über das Physikstudium an der Uni Göttingen.