Herr Lehmann — Episode 1

Frank Adler
SchiefGedacht
Published in
4 min readJul 29, 2009

Endlich war der große Tag gekommen. Herr Lehmanns Herz schlug nun schon seit fast einer Woche jeden Tag, jede Stunde, jede Minute und weit mehr als jede Sekunde so schnell es nur konnte und bescherte ihm dadurch ein nicht enden wollendes Glücksgefühl. Jeden Tag war er mit einem Lächeln auf den Lippen aufgestanden und behielt es auch den ganzen Tag, bis er abends glücklich wenn auch einsam zu Bett ging. Es erschien ihm fast wie ein Wunder, dass ihm selbst auch einmal ein solches Glück zuteil wurde. Schon oft hatte er sich für andere gefreut, hatte mit ihnen gelitten und sie durch jede Stimmungsschwankung begleitet. Schon oft hatte er sich gefragt wie es wohl ist, selbst dieses Gefühl zu verspüren. Sollte er nun diese Chance bekommen?

Er hatte sie kennen gelernt und er mochte sie schon von Anfang an. Und je weiter er sie kennen lernte, desto mehr mochte er sie. Und je mehr er sie mochte, desto glücklicher wurde er, da auch sie ihn mochte. Es mögen nur Tage gewesen sein, doch für ihn war es ein Leben, denn sein Leben hatte erst begonnen, als auch ihr gemeinsames Leben begann. Sein altes, graues Leben erschien ihm als ein Schatten, ein Traum, eine Vision wie sie wohl Menschen haben, die sich unter Hypnose an ein vermeintliches früheres Leben erinnern. Es war so unwirklich für ihn. Sie hatten viel geredet und geschwiegen, gelacht und geweint, geflüstert und geschrien. Sie hatten eine wundervolle Zeit zusammen verbracht. Nun war es also soweit. Er würde sie endlich treffen. Was bisher nicht möglich war, sollte nun geschehen. Was bisher nur ein Traum, eine Fantasie, ein Wunsch war, sollte nun endlich Teil der Realität werden, die zunehmend von warmen Sonnenstrahlen durchflutet wurde, die nun endgültig den langen, fernen Winter vertreiben sollten. Herr Lehmann war aufgeregt. Sein Herz schlug fast hörbar, immer wieder zu der Melodie von „Umbrella”. Es war ihr gemeinsames Lied. Ihr? Ja es gab nun kein Er und Sie mehr, kein Ich und Du. Was blieb war nur noch das Wir. Und es gefiel ihm. Er war endlich nicht mehr allein, war endlich nicht mehr in den Mauern seines Ich’s gefangen, konnte endlich ausbrechen aus dieser dunkeln Zelle und hinaustreten, in das strahlende Farbenmehr des Wir’s.

Für einen Moment hielt er inne, lauschte nur der Melodie seines Herzens. Schon lagen ihm die Worte auf den Lippen und er summte ganz leise mit. Wie lange, wusste er nicht. Es spielte auch keine Rolle. Zeit war irrelevant. Genau so uninteressant wie all diese Menschen die er um sich herum erkannte. Auf der Straße war ein reges Treiben. Jeder war in eile und er erkannte in ihren Gesichtern, in ihren Blicken, dass sie nicht seine Gefühle teilten. Sie waren Gefangene. Sklaven ihres Ich’s oder dem eines anderen. Herr Lehmann war frei. Sie taten ihm Leid denn er war sich sicher, keiner von ihnen, nicht ein einziger, bemerkte all die kleinen, interessanten, vielleicht unwichtigen aber doch wundervollen Details um sie herum. Niemandem viel das Farbspiel in den unzähligen kleinen Regentropfen auf, den kleinen Regenbogen in jedem von ihnen, die Spiegelungen der Umgebung und das Leuchten im Inneren. Er fühlte sich, als wenn ihn ein ganzes Meer von Farben, von Licht und Wärme umgab. Für all die anderen regnete es. Bestenfalls waren sie genervt, da sie nass wurden. Doch das war nebensächlich. Der Himmel war grau und verhangen an diesem Tag.

Herr Lehmann blickte oft nach oben, doch die Sonne oder ein noch so kleines Stückchen Blau suchte er vergebens. An jedem anderen Tag hätte ihn dieser Blick, diese Suche zutiefst deprimiert, hätte ihn traurig gestimmt und ihn wieder heim gehen lassen. Doch nicht heute. Er wusste das würde sich bald geben, wusste, dass es nicht mehr lange dauern konnte bis sich auch der letzte Schatten vom Himmel verziehen und durch ein strahlendes helles Blau ersetzt werden würde. Er fieberte diesem Moment herbei, in der Hoffnung er könne ihn mit allen um ihn herum teilen, ihnen einen Teil dieser Wärme abgeben, sie an seinem Glück teilhaben zu lassen und sie nur für einen Moment all ihren Kummer und ihre Sorgen vergessen zu lassen. Er wusste, dass dies nicht möglich war. Sie würden es nicht zulassen. Niemand würde zuhören. Die Menschen liebten viel zu sehr ihre festgeschriebenen Bahnen und hatten Angst davor, von ihnen abzukommen und sich ihren eigenen Weg zu suchen. Er hatte es gewagt und war nicht enttäuscht worden. Vielleicht sollte dies noch kommen, doch im Moment sah es nicht danach aus. Im Moment war er einfach nur glücklich, denn endlich erkannten seine Augen die Umrisse einer einzelnen Person, die aus dem grauen, unwirklichen Strom von Menschen hervortrat. Sie war anders, war nicht so leblos wie all die anderen, war nicht in Eile, war nicht so blass. Sie war eindeutig anders. Sie lebte. Sie war wie er. Näher und näher kam sie, und mit ihr brachte sie das Licht, nach dem er sich so gesehnt hatte. Nur wenige Zentimeter trennten sie noch von einander und sie legte ihre Arme um seinen Hals, zog ihn zu sich heran und endlich verschwand auch die letzte dunkle Wolke vom Himmel und strahlendes, helles, warmes Sonnenlicht flutete den Platz und hüllte sie beide ein.

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