Visumspflicht tötet. Und die Auslagerung der Asylverfahren ist eine Illusion.

Balthasar Glättli
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5 min readOct 19, 2024

In der Asylpolitik ist der Verschärfungswettbewerb in vollem Gange. Aber der dritte Teil meiner Serie zur Asylpolitik macht einen Blick in die Geschichte, der zeigt: die Verschärfungen der Vergangenheit haben überhaupt erst jene Probleme geschaffen, gegen die heute neue Verschärfungen helfen sollen.

Von Balthasar Glättli

* Dieser Text wurde erstmals publiziert in der Wochenzeitung P.S. vom 18.10.2024 und hier aktualisiert *

«Schlepper beuten die Not von Flüchtlingen aus. Darum braucht es mehr Grenzkontrollen, Überwachung und härtere Strafen für Schlepper.» Von rechts bis links wiederholen dies Politiker:innen in ganz Europa. Sie haben nicht recht.

Schlepper sind Fluchthelfer. Und ihre Dienstleistung, der Menschenschmuggel, ist nicht die Ursache der illegalen Zuwanderung, sondern eine Reaktion auf die Verschärfung der Grenzkontrollen und die Ausdehnung des Visumszwangs. Der Migrationsforscher Hein de Haas führt dies in seinem auch sonst lesenswerten Buch «Migration. 22 populäre Mythen und was wirklich hinter ihnen steckt» einleuchtend aus.

Auf seinen Spuren gehe ich den Fragen nach: Warum gab es erst seit den 90er Jahren Tote im Mittelmeer? Und warum geben Kriegsflüchtlinge heute Tausende von Dollars aus, um in einem Schlauchboot oder versteckt in einem Lastwagen ihr Leben zu riskieren — statt ein viel günstigeres Flugticket zu kaufen? Die Antwort lautet in beiden Fällen: Schuld sind die Visumspflicht und die Grenzbefestigung.

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Schengen: Voraussetzung fürs Mittelmeergrab

Als 1991 Italien und Spanien im Rahmen des Schengener Abkommens eine Visumspflicht für nordafrikanische Staaten einführten, unterband das erstmals die bis dahin übliche legale zirkuläre Migration von Arbeitskräften zwischen dem Maghreb und den südeuropäischen Ländern. Neu brauchte es schwer erhältliche Visa. Immer mehr Nordafrikaner wichen auf kleine Fischerboote aus. Spanien rüstete darauf die Grenzkontrolle an der Strasse von Gibraltar mit Radar auf und baute 1993 in Ceuta, der spanischen Enklave in Marokko, einen Zaun, der mit Stacheldraht erweitert und 2005 von drei auf sechs Meter erhöht wurde. Über die Jahre wurden neue Wege übers Mittelmeer aktuell — parallel dazu wurde die ganze Mittelmeergrenze immer stärker militarisiert. Und mit jeder Verschärfung des Grenzschutzes wurde auch der Menschenschmuggel professioneller, gefährlicher und teurer. Das wahre Geschäft mit der illegalen Migration allerdings machen nicht die Fluchthelfer, sondern die Waffen und Technologieunternehmen, welche die Festung Europa aufrüsten. Auch das Frontex-Budget verzehnfachte sich praktisch von 2012 bis 2022 auf jährlich 754 Millionen Euro — und steigt weiter an.

Carrier Sanctions: Privatisierte Flüchtlingsabwehr

Warum aber, so könnte man sich fragen, kamen dann über die Mittelmeer-Route seit den 2000er Jahren auch Flüchtlinge — aus Somalia, Eritrea oder aus der demokratischen Republik Kongo, später aus Afghanistan, Syrien, Irak? Warum fliehen Schutzsuchende nicht — wie in den 1970er Jahren die in Teil 2 dieser Artikelserie erwähnten Chile-Flüchtlinge — mit dem Flugzeug rasch, sicher und günstig nach Europa?

Warum kommen Flüchtlinge nicht sicher und billig mit dem Flugzeug nach Europa?

Schuld daran ist die Carrier Sanctions Richtlinie 2001/51 der EU, die auch für die Schweiz gilt. Sie fordert hohe Bussen gegen Flug- und Schifffahrtsunternehmen, wenn sie Passagiere ohne gültige Reisedokumente transportieren. Zwar wird in der Richtlinie erwähnt, dass die Flüchtlingskonvention weiterhin gültig sei. Allerdings müsste faktisch nun das Personal einer Airline in kürzester Zeit entscheiden, ob ein Passagier ohne Visum allenfalls ein Flüchtling ist — und darum dennoch transportiert werden darf. Und weil es umgekehrt keinerlei Sanktionen gibt, wenn das Personal klar erkennbare Flüchtlinge abweist, gilt faktisch: Personen ohne Einreisevisum werden generell abgewiesen.

Damit wurde im Schengenraum generalisiert, was der damalige Kanzleramtschef Wolfgang Schäuble für die BRD erdachte und 1985 auch gegenüber der DDR einforderte (er berichtet in seiner Autobiographie “Erinnerungen” davon auf S. 257ff). Die ostdeutsche Regierung hatte ab 1983 Tamilen, aber auch andere Flüchtlinge mit der Interflug in die DDR gebracht und ohne Visum in die BRD einreisen lassen — während gleichzeitig für innerdeutsche «Republiksflüchtlinge» der Schiessbefehl galt. Schäuble seinerseits machte die westdeutsche Zustimmung zu einer Erhöhung des Swings — einer zinslosen Kreditlinie an die DDR — von der Zusage der Ostdeutschen abhängig, den Zustrom der Tamilen zu stoppen, was auch so geschah.

Auslagerung der Asylverfahren?

Zurück in die Gegenwart. Dass seit 2014 über 30'000 Geflüchtete im Mittelmeer ertranken, ist kein genügender Grund für die EU, den Visumszwang zu überdenken und legale Fluchtwege zu schaffen. Vielmehr wird alle paar Jahre wieder die untaugliche Idee propagiert, Asylverfahren aus der EU auszulagern. Erstmals auf Ebene des EU-Rats hievte das Thema 2003 Tony Blair mit einem Schreiben an den damalige EU-Ratspräsidenten Simitis; der sogenannte Blair-Schily Plan forderte ein Jahr später Auffanglager für Flüchtlinge in Nordafrika. Das Ganze wurde als humanitärer Fortschritt angepriesen. Die berechtigte Sorge von Flüchtlingsorganisationen um faire Verfahren war aber nicht der Grund, dass das Konzept nie umgesetzt wurde.

Schuld am Misserfolg hatten erstens politische Gründe: für Flüchtlingssauffanglager der EU im Ausland bräuchte es ein materiell einheitliches europäisches Asylverfahren und einen Mechanismus, der alle Länder konkret mit Quoten in die Aufnahmeverantwortung für Schutzbedürftige einbezieht. Genau das aber hat die EU auch 2024 mit dem neuen gemeinsamen Europäischen Asylsystem GEAS eben gerade erneut nicht geschafft.

Zweitens drohen enorme Kosten. Das zeigen ähnlich gelagerte Projekte: Alleine Italiens erster Transfer von 16 in Lampedusa aufgegriffenen Migranten in das neue Verfahrens-Lager in Albanien kostete pro Kopf 18'000 Euro — während gleichtags 1200 neue Bootsflüchtlinge in Lampedusa eintrafen. In den nächsten Jahren wird mit Kosten von einer Milliarde gerechnet — für 3000 Plätze, die rasch belegt sein werden. Wie der Tages-Anzeiger berichtet, sei laut Regierungskritikern der Aufenthalt in den albanischen Lagern rund zehnmal teurer, als wenn die Migranten in Italien auf ihren Asylentscheid warten. Auch das unterdessen von Labour gekündigte britische Ruanda-Abkommen für 300 Abgeschobene hätte pro Kopf über 2 Millionen Franken gekostet.

Schliesslich gibt es auch rechtliche Hindernisse. So heisst es auch beim Albanien-Abkommen Italiens nach einer aktuellen italienischen Gerichtsentscheidung zumindest fürs Erste: Ausser Spesen nichts gewesen. Ein italienisches Gericht entschied am 18. Oktober 2024 in erster Instanz, die zwölf Männer aus Ägypten und Bangladesch, die seit zwei Tagen in Albanien inhaftiert waren, müssten nun doch nach Italien gebracht werden. Bereits vorher mussten vier Minderjährige wieder nach Italien zurückgenommen werden —das Abkommen mit Albanien ist auf erwachsene männliche Migranten beschränkt.

(Erweiterte Version des Artikels in der P.S. Zeitung, ergänzt um die aktuelle Entwicklung in Italien nach Redaktionsschluss des P.S.)

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Eine kritische Serie zur Schweizer Asylpolitik

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Written by Balthasar Glättli

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