About death and other beginnings.

Mein Vater nannte es die Höchststrafe.

Mein Vater war Physiker. Er liebte sein Rennrad und Italien. Einen Bart trug er nicht. Das einzige Bild, das ihn mit einem Schnurrbart zeigt, stammt aus dem Jahre 1949 und ist beim Karneval in Andernach am Rhein entstanden.

Im Alter von 50 Jahren wurde bei ihm — so wie bei etwa 60.000 weiteren Männern im selben Jahr — Prostatakrebs diagnostiziert. Bei seiner ersten Operation haben ihn die Ärzte unverrichteter Dinge wieder zugenäht, weil das Karzinom zu gefährlich nahe an der Blase lag. So ist ihm das Schicksal eines künstlichen Harnausgangs erspart geblieben. Hormone sollten den Krebs eindämmen, veränderten aber nicht nur seinen Körper total, sondern vor allem seine Psyche, sein ganzes Wesen.

In den folgenden 12 Jahren musste er zahllose Therapien und Operationen über sich ergehen lassen. Seine letzten 1,5 Jahre verbrachte mein Vater zwischen Rollstuhl und Bett zu Hause in unserem Wohnzimmer, wo er von meiner Mutter, meiner Schwester und mir gepflegt wurde. Vor genau fünf Jahren starb er im Alter von nur 62 Jahren.

Und auch wenn es ihm zwischenzeitig manchmal wieder gut ging, er arbeiten, reisen und sogar auf sein geliebtes Rennrad steigen konnte: Der Krebs war eine dunkle Wolke, die über unser aller Köpfen hing und irgendwie immer zu wenig Licht durchließ. Das Schlimmste aber ist: Hätte man den Krebs nur ein paar Monate früher entdeckt, wäre ihm sein Schicksal — die Höchststrafe, wie er es nannte — wohl erspart geblieben.

Prostatakrebs ist in Deutschland die häufigste Krebserkrankung bei Männern und jedes Jahr für 11.000 Männer das Todesurteil.

Eine Handvoll Brombeeren.

Alles begann im Sommer 2016 mit einer Hand selbst gepflückter Brombeeren auf einer Veranda in der Uckermark. Meine Freundin Lia und ich hatten auf einer kleinen Spritztour Halt bei Lias Mutter gemacht. Diese erzählte mir von ihrem Beruf als Koordinatorin eines Ambulanten Hospizdienstes in Berlin. Als Personalreferentin in einer Großkanzlei befand ich mich schon seit längerer Zeit in einem Sinnvakuum. Die Entscheidung, mich zur ehrenamtlichen Sterbebegleiterin ausbilden zu lassen, war damit bereits gefällt.

Mein Zugang zur Sterbebegleitung ist ein sehr persönlicher. Als ich 13 Jahre alt war, ist mein Vater an Krebs erkrankt. 12 Jahre später starb er an den Folgen seiner Erkrankung, nachdem meine Mutter, meine Schwester und ich ihn zu Hause gepflegt und verabschiedet haben. Das liegt nun beinahe zehn Jahre zurück. Palliativmedizinische Versorgung eines ambulanten Hospizdienstes oder gar die Unterstützung durch ehrenamtliche Sterbebegleiter haben meine Familie und ich damals im ländlichen Umkreis von Aachen leider nicht erfahren.

Umso mehr war mir klar, wie groß der Bedarf ist, sterbenden Menschen und ihren Zugehörigen beim Abschiednehmen beizustehen. Meine Intention war die Folgende: Wenn ich Sterbenden ihre Angst vor dem Tod nehmen kann, befreie ich mich auch selbst vor meiner eigenen Angst vor der Vergänglichkeit. Gleichzeitig hatte ich großen Respekt vor dieser Aufgabe. Bereits im Vorgespräch wurde deutlich, dass ein wesentlicher Bestandteil der Ausbildung die intensive Auseinandersetzung mit eigenen Erfahrungen sein würde. Doch in dem sicheren Raum, den wir als Gruppe gemeinsam gestalteten, fiel es mir leicht, Vergangenes zu reflektieren und in einem neuen Licht zu sehen. Die Ausbildung hielt einige überraschende wie heilsame Einsichten für mich bereit.

Zu Beginn meiner Praktikumszeit wollte ich einmal voll und ganz eintauchen in die Arbeit der Hauptamtlichen im Hospiz und so entschied ich mich, am Silvesterabend eine Pflegerin auf ihrem Spätdienst zu begleiten. Erschöpft von den vielen Eindrücken lernte ich einmal mehr, wie wichtig es war, zunächst für mich selbst zu sorgen, bevor ich für andere da sein konnte.

Es folgten einige Begegnungen, die im Hinblick auf mein Verhältnis zum Tod besonders wertvoll waren. Ich machte erstmals die Erfahrung, dass zu sterben nicht immer gleichzusetzen war mit einem langwierigen, qualvollen und angsterfüllten Prozess, sondern als erlösend und befreiend erlebt wurde. Ja, ich verstand sogar, was gemeint war, mit dem so genannten “Leben bis zuletzt”. Und dass die Zeit vor dem Tod eine ganz besonders kostbare, fruchtbare ist, in der nochmals Neues entsteht. Als Sterbebegleiter sind wir vor allem auch Lebensbegleiter. Mal wurde ich mit einem Engel verwechselt, mal sang ich ein letztes Mal das gewünschte Lied, mal spielte ich die geliebte Opernmusik vor, bevor sich die Menschen am nächsten Tag aus dem Leben verabschiedeten.

Eine weitere wichtige Lektion musste ich lernen: Geduld. Aus meinem bisherigen Berufsleben war ich es gewohnt, dass Dinge nach Plan erfolgten. Der Tod kommt aber immer überraschend. So verstarben zwei Menschen, bereits bevor ich sie zum ersten Mal besuchen sollte. Eifer und Ehrgeiz stießen auf Granit, meine Frustration fand keinen Adressaten und ich lernte, dass auch dies dazugehörte zu meinem neuen Ehrenamt.

Doch was ich in den Begegnungen mit den Sterbenden immer wieder erlebte, empfand ich als ein so großes Geschenk, dass ich mich dazu entschied, die Hospizbewegung auch beruflich zu meiner Heimat zu machen. Hier wollte ich mich engagieren, langfristig und über das Ehrenamt hinaus. Im April 2017 begann ich meine Ausbildung zur Sterbeamme bei Claudia Cardinal in Hamburg. Seit November 2017 darf ich mich Heilpraktikerin für Psychotherapie nennen.

Spiel mir das Lied.

Eine meiner ersten Begleitungen führt mich zu einem Schlaganfall-Patienten, der in einem Pflegeheim im Süden Berlins lebt. Die Einrichtung hat wahnsinnig niedrige Decken und auf den Fluren kommen mir verwirrte, desorientierte Menschen entgegen. Nach jedem Besuch habe ich das Bedürfnis, mich zu duschen.

Herr E. ist 77 Jahre alt und kann sich mir nicht mehr mitteilen. Sein letzter Krankenhausaufenthalt wegen seines insgesamt 3. Schlaganfalls liegt noch nicht lange zurück, über eine Magensonde wird er künstlich ernährt. Wie so viele Menschen in diesem Heim hat Herr E. einen amtlichen Betreuer, der über seine Belange entscheidet, den ich aber nie kennenlerne. Herr E. teilt sich ein Zimmer mit Herrn K., der selbst jegliches Gespräch ablehnt, aber versucht, jeden meiner Besuche dazu zu nutzen, in meiner Begleitung eine Zigarette zu rauchen. „Schwester, seien Sie doch so nett.“

Zufällig erfahre ich von einer Pflegerin, dass eine jüngere Schwester von Herrn E. im selben Heim gleich eine Etage tiefer lebt. Da Herr E. selbst nicht mehr in der Lage ist, zu kommunizieren und mir außer seiner wichtigsten biografischen Daten und dem Gesundheitszustand keine persönlichen Informationen vorliegen, erfahre ich über sie von seiner Liebe zu Opernmusik.

Bei meinem nächsten Besuch bringe ich Lautsprecher mit. Ich habe mir ein paar Stücke berühmter Mozart-Opern auf meinen Rechner geladen. Vom Vogelfänger und der Königin der Nacht aus der Zauberflöte über Don Giovannis Madamina bis zu Figaros Hochzeit lasse ich ca. eine Stunde Opernmusik erklingen — ganz zum Leidwesen des Zimmernachbars Herr K.. Der will lieber eine rauchen — und zwar in Ruhe.

Gar nicht so leicht, mich trotz seiner Zwischenrufe („Schwester, seien Sie doch so nett.“) auf Herrn E. zu konzentrieren. Ich setze mich an sein Bett — mit dem Rücken zu Herrn K. — und stelle meine Atmung auf seine ein. Sein Gesicht regt sich, der Atem scheint sich zu entspannen, wirkt weniger schwerfällig. Der Hörsinn von Sterbenden ist meist sehr fein ausgeprägt, er ist der letzte Sinn, der schwindet.

Als ich eine Woche später durch den Eingang des Pflegheimes komme, fällt mir eine Art Hausaltar auf, auf dem Steine mit den Namen der verstorbenen Gäste der vergangene Woche liegen. Auf einem der Steine steht „Herrn E.“. Zunächst halte ich das für einen Irrtum. Das muss ein Namensvetter sein. Man hätte mich doch wie vereinbart informiert, wäre er gestorben. Ich laufe die Treppen hoch, schneller als gewohnt, über den gedrungenen Flur zu seinem Zimmer. Auf dem Schild an der Tür lese ich nur noch den Namen von Herrn K., durch die geöffnete Tür sehe ich sein leeres Bett.

Ich hätte mich gerne noch von seinem Leichnam verabschiedet. Das ist wichtig, um eine Begleitung abzuschließen und es trifft mich, dass ich dazu nun keine Gelegenheit mehr habe. Im stressigen Alltag des Pflegeheims ist es leider untergegangen, mich zu informieren.

Vom Pflegepersonal erfahre ich, dass Herr E. bereits vor sechs Tagen nur wenige Stunden nach meinem Besuch verstorben ist. Mit Mozarts Musik im Ohr sei er einfach eingeschlafen.

Laura Kroth
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11 min
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