It’s complicated: Agenturen und Startups

Und wie daraus eine neuer Art von Unternehmen entstehen kann

Silicon Pauli
Published in
9 min readApr 1, 2015

--

Als ich im Juni 2007 in Cannes war, schien noch alles in Butter: Die Branche feierte sich selbst, die Budgets waren groß genug für tolle Kampagnen.

Das Internet war zwar da, aber irgendwie noch nicht so wichtig, dass man Angst haben musste, dass es alles veränderte. In 2007 schrieb ich Strategien für Second Life und ich wurde gefragt, was man denn mit diesen Blogs machen solle. Facebook war noch verhältnismäßig klein, Twitter gerade mal ein Jahr alt und irgendwie waren sowieso alle bei StudiVZ.

Acht Jahre später feiert sich die Branche immer noch Jahr für Jahr an der Croisette, aber ein paar Dinge haben sich geändert. Google und Facebook teilen den Online-Werbemarkt unter sich auf, Kommunikation findet dezentral auf dutzenden Kanälen gleichzeitig statt.

Startups haben in diesen acht Jahren die Welt verändert — währenddessen reden Agenturen von Digitalisierung und Veränderungen, aber eigentlich soll alles beim Alten bleiben.

Ich arbeite seit fast 10 Jahren für Kommunikations-, Werbe- und Digitalagenturen. Mal fest, sehr lange frei und zwischendurch habe ich selbst eine kleine Agentur gegründet.

Vor drei Jahren habe ich ein Startup gegründet und bin damit gescheitert. Startups und Agenturen gehören seitdem zu meinem beruflichen Leben und Alltag. Aber während eines gehyped wird (Startups), ist das anderem scheinbar dem Untergang geweiht (Agenturen).

Aber schauen wir uns das ganze Dilemma mal näher an.

Agenturen sind am A§$%&

  • Die Preise sinken kontinuierlich, es gibt Aufträge, da ist der Freelancer teurer als der Tagessatz, den das Unternehmen an die Agentur zahlt.
  • Die Dienstleistung von Agenturen ist nicht skalierbar. Will man mehr Einkommen, bedeutet das mehr Arbeit und das bedeutet mehr Mitarbeiter. Peaks in der Auftragslage sind oft nur mit Freelancern zu realisieren, wenn man die Hälfte der Mitarbeiter nicht nach 6 Monaten wieder entlassen möchte.
  • Der Konkurrenzdruck ist enorm, die Differenzierung am Agenturmarkt erfolgt über Nuancen. Dabei sind alle natürlich irre digital und gleichzeitig im Sinne Don Drapers tierisch kreativ. Die eine große Idee in allen Kanälen, das muss es sein.
  • Die Abhängigkeit von wenigen großen Kunden ist groß. Wenn ein Laden wie Jung von Matt seinen Großkunden Mercedes verliert, ist erstmal ordentlich Stühlerücken angesagt.
  • Pitches sind Alltag und sie verlangen von den Agenturen hohe Investitionskosten. Da ist man schnell bei sechstelligen Summen, Pitch-Honorare werden fast nicht gezahlt, und wenn, dann sind sie eher Geste eines guten Willens als echte Aufwandskompensation.
  • Die Zeit der einfachen Antworten auf ein Kommunikationsproblem sind vorbei. Früher gab es ein gute Idee, dann einen TV-Spot, eine schöne Printkampagne und ein bisschen Out of Home — fertig ist die Laube. Funktioniert natürlich heute so nicht mehr. Und während alle Agenturchefs von Digitalisierung, integrierten Kampagnen und digital-first reden, sieht die Realität an den meisten USM-Tischen anders aus. Da hat nämlich noch die alte Garde das Sagen, und die finden nunmal einen amtlichen TV-Spot geiler als eine differenzierte Social Media Kampagne.
  • Kanäle diversifizieren sich so schnell, dass kaum noch jemand hinterherkommt. Snapchat ist an meinem Alltag komplett vorbeigegangen, mein Tumblr-Account liegt brach, Meerkat habe ich noch nie genutzt. Und ich weiß wenigstens, was das ist. Die meisten Creative Directors verstehen nicht mal Twitter.

Was bedeutet das also für Agenturen?

Langfristig überleben daher nur zwei Arten:

  1. Die großen Networks, die über Masse auch mit kleinen Margen viel Geld verdienen.
  2. Die Spezialisten, die etwas können, was niemand sonst beherrscht. Sie können aus einer Position der Stärke agieren und so höhere Tagessätze fordern und die Vertragsbedingungen mitbestimmen.

Schauen wir uns nun die andere Seite an: Die Welt, in der Milch und Honig fließen.

Startups regieren die Welt

  • Startups gelten als Innovatoren und schaffen im besten Fall echte gesellschaftliche Relevanz. Soziale Netzwerke, die Revolution der Musikindustrie, selbstfahrende Autos, virtuelle Währungen, frei zugängliche Enzyklopädien – die großen Innovationen der letzen 10 Jahre kommen von Technologie-getriebenen Startups. Die Werbebranche hat in dieser Zeit das Retargeting erfunden.
  • Erfolgreiche Geschäftsmodelle lassen sich skalieren (und damit auch die Umsätze). Mehr vom gleichen geht in technikgetriebenen Unternehmen mit relativ wenig Aufwand. Kostenseitig spielt es keine große Rolle, ob Google 1.000 oder 1.000.000 Suchanfragen in einer bestimmten Zeit beantwortet. Wenn eine Agentur das tausendfache Arbeitsvolumen abbilden will, braucht sie in der Regel 1.000 mal mehr Mitarbeiter.

Also alles super?

Nicht ganz. Denn Startups haben ein großes Problem:

  • Sie sind abhängig von Startfinanzierungen, da sie erst später monetarisieren. Wenn das Ersparte aufgebraucht ist, werden Abhängigkeiten von Kapitalgebern und späteren Shareholdern erzeugt.
  • Das nimmt im schlechtesten Fall unternehmerische Freiheit und Fundraising wird zu einer der wichtigsten Aufgaben eines Unternehmens, das sich eigentlich auf sein Produkt konzentrieren sollte.
  • 90 Prozent aller Startups scheitern.
  • Und machen wir uns nichts vor: Das liegt oft schlicht daran, dass mangelhaft umgesetzt wurde (und ich weiß, wovon ich rede) oder die Grundidee schlicht nicht relevant ist.

Ok, also alles ganz furchtbar?

Auch nicht, denn es gibt ein Geschäftsmodell, das bisher kaum betrachtet wurde.

Agenturen und Startups: vereinigt euch!

Hier kommt die These: Wenn Agenturen und Startups zusammenarbeiten kann daraus ein neue Form von Unternehmen entstehen, sozusagen das beste aus zwei Welten.

Warum kann das funktionieren?

Viele Startup-Gründer waren vorher in Agenturen: Noah Brier vom erfolgreichen Marketing-Startup Percolate war vorher Head of Strategy bei The Barbarian Group. Die Gründer von Pay with a Tweet waren bei RGA, der Entwickler sitzt in Hamburg und entwickelt neben seiner Agenturarbeit regelmäßig neue Produkte. Und vom Gründerteam des Recruiting-Startup Skjlls kann ich behaupten, dass dies einige der klügsten Köpfe sind, die ich in Agenturen kennengelernt habe.

  1. Ganz allgemein lässt sich sagen, dass in (Hamburger) Agenturen einige der besten Leute in Design, Konzept, Text und Technik sitzen, die dieses Land zu bieten hat. Leider wird dieses Talent nicht immer für die sinnvollsten Dinge eingesetzt.
  2. Agenturen haben Kontakte, und zwar oft sehr gute. Wer regelmäßig mit Marketingleitern oder Digital-Chefs großer Unternehmen zusammensitzt, baut ein wertvolles Netzwerk auf, das sich vielfältig nutzen lässt.
  3. Agenturen verdienen Geld, und zwar von Tag eins an. Startups nicht.
  4. Gute Agenturen entwickeln heute schon digitale Produkte. Es ist ja nicht so, dass diese Idee von produktfokussierten Agenturen neu ist. Basecamp hieß mal 37Signals, und 37Signals war mal eine Digitalagentur in Chicago, die sich selbst ein Projektmanagementtool baute. Das kürzlich eingestellt Studio Teehan+Lax war maßgeblich an der Entstehung von dieser Plattform (ja, Medium.com) beteiligt. Made by Many aus London entwickelt Produkte für Skype und arbeitet derzeit mit Podio aus Kopenhagen an einer neuen Projektsoftware. RGA hat mit seinem Kunden die Plattform Nike+ entwickelt und realisiert.

Und genau aus diesen Faktoren kann eine neue Art von Unternehmen entstehen: Die Startup-Agency, halb Startup, halb Agentur.

Das Geschäftsmodell: Querfinanzierung

Agenturen sind abhängig von wenigen Kunden und sind gleichzeitig gefangen in einem Geschäftsmodell, das nicht skalierbar ist. Startups auf der anderen Seite sind abhängig von externem Kapital, um ihre Innovation und ihr hochskalierbares Geschäftsmodell realisieren zu können.

Die Lösung: Einnahmen aus dem laufenden Dienstleistungsgeschäft werden reinvestiert in Innovationen, die sich später monetarisieren lassen.

Dieses Vorgehen ist sicher nicht trivial, denn es müssen zwei völlig unterschiedliche Business Cases realisiert werden: der eine sehr kurzfristig und direkt, der andere langfristig und indirekt. Zudem muss das Dienstleitunsgeschäft so gut laufen, dass genug Geld für Reinvestitionen übrig bleibt. Die Gewinnausschüttung muss in so einem Fall natürlich warten.

Die Positionierung: Enterprise Software und Service Design

Wer große Unternehmen berät, weiß wie sie ticken und was sie brauchen. Das ist der große Vorteil von Agenturen. Eine Startup-Agency tut gut daran, sich auf die Entwicklung spezialisierter Software und Services für Enterprise-Kunden zu fokussieren. Consumer-Products machen wenig Sinn, denn kein Agenturmanager von Mitte 50 wird das neue Snapchat erfinden. Die meisten wissen ja nicht mal, was Snapchat ist.

Enterprise-Software funktioniert aus einem einfachen Grund: Wer die Probleme seiner Kunden kennt, hat den sogenannten “Unfair Advantage”, in diesem Fall einen Branchen-Insight, der dem Rest unbekannt ist. Das macht sowohl die Entwicklung als auch den Verkauf von Software as a Service (SaaS) leichter.

Neben eigener Produktentwicklung können Wissen und Fähigkeiten natürlich auch genutzt werden, um digitale Produkte für die Kunden zu entwickeln. Nike+ zum Beispiel ist das Ergebnis so eines Prozesses: Gemeinsam mit RGA hat der Sportartikelhersteller einen Service konzipiert, gebaut und kontinuierlich weiterentwickelt, der heute eine der tragenden Säulen in der Digitaliserungsstrategie von Nike darstellt. Mit dem bestehenden Kunden in die Produktentwicklung zu gehen, erzeugt Vorteile auf beiden Seiten: Das Unternehmen profitiert von der Expertise der Agentur und kann neue Geschäftsfelder entwickeln und erschließen. Die Agentur wird Teil des Entwicklungsteams und kann ihre Arbeit in Rechnung stellen.

Die Spezialisierung: Branche oder Service

Wie oben erwähnt, überleben langfristig nur zwei Arten von Unternehmen: Die großen Full-Service-Anbieter und die Spezialisten. Dazwischen ist nur Platz für Mittelmaß.

Und da ein Unternehmen selten von Anfang an sehr groß startet, ist die Lösung auch für Startup-Agencies Spezialisierung. Dazu gibt es zwei Arten:

  1. Branchen-Spezialisierung, zum Beispiel auf Retail, Automotive, Digital Health. Viele dieser Branchen haben ihre ganz eigenen Regeln und Anforderungen. Nicht umsonst gibt es Dienstleister, die sich auf Themen wie Finanzkommunikation oder Healthcare spezialisieren: die Fallstricke sind vielfältig und man hat einen klaren Vorteil, wenn man sie kennt. Aber selbst weniger stark regulierte Branchen wie Automotive haben besondere Anforderungen an Services, Produkte und Kommunikation.
  2. Service- oder Kanal-Spezialisierung: Eine Fokussierung auf reine Mobile-Themen kann sinnvoll sein; es gibt Agenturen, die bieten bewusst nur strategische Beratung, um unabhängige Empfehlungen aussprechen zu können, andere Unternehmen fokussieren sich auf Social Media.

Jede Form von Expertentum hilft bei der Differenzierung, schränkt aber natürlich ein und kann bei Wachstum in weitere Felder hinderlich sein.

Das Team: schon da

Im Silicon Valley ist das Gejammer groß, weil gute Entwickler Mangelware sind und Designer, die ein digitales Produkt gestalten können, noch seltener anzutreffen sind.

In Hamburg liegen diese Leute auch nicht unbedingt gelangweilt auf Galao-Strich am Schulterblatt herum. Aber es gibt sie, sie sind bezahlbar, sie vergeuden nur oft ihre Zeit mit Arbeit, die sie eigentlich nicht so richtig interessiert.

Technologie-getriebene Agenturen haben im besten Fall alle Leute, die auch ein Startup braucht, nämlich:

  • Design
  • UX-Konzept
  • Copywriting
  • Developer
  • Project-/Product-Manager

Ich weiß aus eigener Erfahrung, was passiert, wenn man diese unglaublich talentierten Leute in einen Raum setzt und sie an etwas arbeiten lässt, das ihnen Spaß macht.

Geschäftsmodell, Positionierung, Team: fast alle Zutaten für eine erfolgreiche Startup-Agency sind bereits da.

Die größte Herausforderung: Eine neue Kultur

Das hört sich erstmal alles ganz schön an, was ich da geschrieben habe. Aber die größte Herausforderung ist es, eine eigene Kultur und Denkweise zu etablieren. Wenn man neue Produkte entwickelt, ändern sich Rahmenbedingungen:

  • Anfang und Ende: Eine Kampagne hat eine Laufzeit und damit ein klares Ende, dann ist Schluss für die Agentur. Ein Produkt ist nicht zu Ende entwickelt, niemals. Im Gegenteil: Wenn es erfolgreich sein soll, muss es konstant weiterentwickelt werden. Nur wer über bestehende Kampagnenzeiträume hinausdenkt, kann das realisieren.
  • Projektplanung: Klassische Arbeitsschritte aus Agenturen sind sehr linear. Sie starten mit der Idee, dann wird ein Grobkonzept geschrieben, erste Layouts entwickelt, Feinkonzept und detailliertes Design wird erarbeitet, eventuell noch ein Prototyp und dann geht es in die Produktion. Ein digitales Produkt kann so nicht entstehen. Die Idee wird jederzeit infrage gestellt, grundsätzliche Interaktionsmechanismen werden konstant überarbeitet, Design, Konzept und Code funktionieren nur gemeinsam.
  • Erfolgsbetrachtung: Neue Dinge gehen auch mal schief. Meistens sogar. Aber das frühe Scheitern eines Konzeptes kann durchaus ein Erfolg des Projektes sein: nämlich, wenn mit überschaubaren Mitteln erarbeitet wird, was funktionieren kann und was eben nicht. Scheitern, neudenken und weitermachen muss also Teil einer neuen Unternehmenskultur werden.
  • Idealismus: Wenn Neues entstehen soll, müssen das alle Beteiligten wollen. Wer bestehende Strukturen schützen will, torpediert Innovationen. Es braucht also Leute mit einem gewissen Idealismus, der dazu anspornt, neue Dinge auszuprobieren, alte Strukturen zu verbessern und den Status Quo ständig zu hinterfragen.

Diese Unternehmenskultur ist essentiell für das Gelingen eines neuen Unternehmensmodells — andernfalls bleibt alles oben geschriebene reine Theorie.

Fazit

Ja, Agenturen haben ein Problem. Ihr klassisches, Tagessatz-basiertes Geschäftsmodell kommt an seine Grenzen, Kundenbeziehungen erzeugen viele Abhängigkeiten, ihr Grundkonzept ist über 50 Jahre alt. Aber sie haben auch einige der besten Leute, starke Kontakte und viel Erfahrung. Es wird also höchste Zeit, dieses Potenzial zu nutzen und eine neue Art von Unternehmen zu schaffen.

Ein Unternehmen, das im Jahr 2015 angekommen ist, das Technologie nicht nur nutzt, sondern weiterentwickelt, das Komplexität annimmt und starke Lösungen und Produkte erzeugt.

Ich bin Nicolas Kittner, UX-Konzeptioner und Creative Director aus Hamburg.
Ich helfe Unternehmen dabei, digitale Produkte und Markenerlebnisse zu entwickeln. Außerdem schreibe ich einen hervorragenden
Newsletter, den solltest du abonnieren.

--

--