Führung in den Zeiten der Unsicherheit

Von transaktionaler Führung zu transformative Leadership

Marc Frey
Simplify Innovators

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In einer komplexen, unsicheren und hochdynamischen Welt braucht es auf den Kommandobrücken der Unternehmen einen neuen Führungsstil: Dieser hört auf den Namen transformative and exponential leadership. Führungskräfte bekommen damit ein neues Set an Kompetenzen, um ihre Teams in eine chancenreiche Zukunft zu führen. Was sie selbst dazu mitbringen müssen, ist allerdings die richtige Grundhaltung. Mehr dazu hier im zweiten Teil unserer Serie “The Future of Business is Exponential”.

Von Marc Frey

Die Fachblätter und Wirtschaftszeitschriften sind voll davon: Neue Führungskräfte braucht das Land. Der alte Managertypus hat ausgedient, muss dringend ausgemustert werden, wenn Unternehmen noch den Hauch einer Chance haben wollen, in der Zukunft mitzuspielen. So kann man das allerorten nachlesen. War für Führungskräfte die Luft schon immer etwas dünner als für andere, so scheint es, droht ihnen jetzt der Erstickungstod.

Brauchen wir eine also neue Führungskultur? Die Antwort ist ein klares Ja, denn in Zeiten exponentiellen Wandels brauchen wir Führungskräfte ausgestattet mit einem transformative Leadership Mindset und exponentiellem Denken. Was aber heißt das genau und wie wird man solch ein Leader?

Die Führungskräfte, die die Zukunft gestalten werden, sind solche, die ein lernendes und experimentelles Mindset kultivieren. Wir können der zunehmenden Komplexität und Unvorhersehbarkeit nicht mehr länger durch mehr Controlling und noch mehr Prozesse, Planung und dem Versuch der Vorhersage begegnen. Daran ändert sich auch nichts, wenn wir das Etikett „agil” auf unsere Maßnahmen kleben. Es geht darum, unsere lineare, reduktionistische Denkweise aufzugeben und die Selbstorganisation in den Unternehmen durch dienende Führung zu ermöglichen. Die neue Aufgabe des Leaders besteht darin, am System zu arbeiten, um eine Umgebung zu schaffen, in der Menschen gesund wachsen, ihre Potentiale entwickeln und Ergebnisse erzielen können.

Es gibt vier entscheidende Rollen und Fähigkeiten, die Führungskräfte beherrschen müssen, um erfolgreich durch eine sich schnell verändernde Welt zu navigieren — Nicht nur, um strategische Vorteile für ihre Organisationen zu schaffen, sondern auch, um die Art von integrativer, gerechter, positiver und reichhaltiger Zukunft aufzubauen, in der wir alle leben wollen.

Der Futurist

In einer Welt, die gekennzeichnet ist durch Unerwartetes und Unsicherheit gewinnen Menschen, die mutig und optimistisch neue Möglichkeiten entdecken und voller Zuversicht zur Tat schreiten. In besonderem Maße gilt dies für Führungskräfte, denen die Aufgabe zukommt, andere auf diesem Weg zu inspirieren und auch intellektuell zu stimulieren.

Heute managen Führungskräfte Risiken und Überraschendes typischerweise mit einer Vielzahl von analytischen Prozessen und Modellen, die bekannte Variablen identifizieren und quantifizieren. In den meisten Organisationen wird die Zukunft in erster Linie durch numerische Prognosen und Tabellenkalkulationen prognostiziert. Ein verhängnisvoller Fehler, denn dieses Vorgehen suggeriert Vorhersehbarkeit und limitiert das Denken zugleich auf das bereits Bekannte in der Welt. Getreu der alten Weisheit: Wenn du einen Hammer hast, ist jedes Problem ein Nagel. Gerade exponentielle Entwicklungen übersehen Führungskräfte dann regelmäßig, denn ihre Prognosen beruhen auf dem heutigen Verständnis von Ereignissen und folgen damit einer geraden Linie.

Um dieser Falle zu entkommen, brauchen Führungskräfte hier eine Prise Elon Musk und einen Schuss Jeff Bezos. Beide Unternehmer würde es in einer oben beschriebenen Unternehmensrealität nämlich nicht geben. Exponential und transformative Leader pflegen ein offenes Mindset. Sie sind neugierig auf die Zukunft, lassen unkonventionelle Denkmodelle bis hin zu Science Fiction zu und ermutigen ihr Umfeld phantasievolle Praktiken der strategischen Vorausschau zu nutzen. Sie fühlen sich wohl mit ihrer „out-of-the-box” Einstellung.

Der Innovator

Um solche Zukunftsperspektiven zum Leben zu erwecken, müssen Führungskräfte als Innovatoren agieren: Mit Kreativität und rigorosen Experimenten geht es darum, neue Ideen zu entdecken. Ein einzelner Tweet oder ein überraschender Kundenkontakt können bereits eine großartige Produktidee initiieren, die mit einem funktionierenden Prototyp in weniger als 24 Stunden getestet werden kann.

Dennoch konzentrieren sich viele Unternehmen noch immer darauf, bestehende Produkte schneller auf den Markt zu bringen, die Kosten zu senken und die Margen zu erhöhen. Man setzt auf Sicherheit, indem man Variabilität minimiert. Hat man Erfolg damit, wird diese Bastion weiter ausgebaut, das Handeln geradezu zementiert. Zu Lasten jeglicher Flexibilität und der Chance, Neues zu entdecken.

Maßgeblich hierfür ist ein fehlendes tiefes Verständnis für den Kunden. Wem dies abgeht, der tut sich auch schwer, Investitionen in die Entwicklung neuer Produkte und Dienstleistungen zu tätigen, um neue Kundenbedürfnisse und -anforderungen zu befriedigen.

Führungskräfte, die als Innovatoren agieren, stellen den Kunden immer in den Mittelpunkt. Sie fördern und nutzen Beobachtung und Befragung, um Einsichten zu gewinnen. Visuelles Denken und Storytelling helfen ihnen, sich mit anderen zu ihren Hypothesen auszutauschen. Ihre Denkhaltung ist auf kontinuierliches Lernen und geistiges Wachstum ausgelegt, was ihnen dabei hilft, ihre Ideen und Gedanken zu testen und Belege zu sammeln. Dies tun sie fortwährend und iterativ, um immer wieder neue Chancen zu identifizieren.

Der Technologe

Müssen Führungskräfte coden können? Nicht zwingend, wenngleich es niemandem schadet, aber sie müssen zumindest genügend von Technologien verstehen, um beurteilen zu können, welche Technologie sich wie auf ihre Branche auswirkt und welche auf Nachbarbranchen. Nur so werden sie die Ressourcen für Innovation und Experimente identifizieren, um neue Produkte und Dienstleistungen zu schaffen, die Bestehendes in Frage stellen und Bekanntes hinter sich lassen.

Es reicht jedoch nicht aus, die Technologie nur aus technischer Perspektive zu betrachten. Exponentielle Führungskräfte werden sich auch mit den ethischen, moralischen und sozialen Implikationen der Technologien auseinandersetzen müssen, auf denen sie ihre Organisationen aufbauen.

Was wird es tatsächlich bedeuten, wenn technologischer Fortschritt menschliche Arbeitskraft einmal so umfassend ersetzen wird, dass die meisten von uns der Arbeit fern bleiben können? Welche Auswirkung auf unsere Gesellschaft sind zu erwarten, wenn technologische Disruption ganze Industriezweige massiv verändert. Wie sieht eine Zukunft aus, in der genetische Optimierungen und Veränderungen für immer mehr Menschen zugänglich sind?

Wer als Führungskraft auf das neue Umsatzpotenzial oder die Kosteneinsparungsmöglichkeiten der Technologie setzt, der muss auch die gesellschaftlichen und moralischen Implikationen berücksichtigen, die unweigerlich folgen werden. Wir werden dies beim Thema Purpose weiter unten im Text noch sehen.

Der Humanist

Exponentielle Führungskräfte nutzen die Fähigkeiten und das Wissen von Innovatoren, Technologen und Zukunftsforschern, um das Leben der Menschen, die sie mit ihrem Handeln erreichen, und der Gesellschaft als Ganzes zu verbessern. Sie zielen darauf ab, Gutes zu tun, indem sie Gutes tun. Es ist ein Teil ihrer Haltung und damit gestalten sie ein zukunftsfähiges und sinnstiftendes Unternehmensleitbild. Sie sehen dies nicht einfach als ein Bündel von „Corporate Social Responsibility”-Aktivitäten.

Unternehmen mit solchen Führungskräften sind in der Lage, Technologien einzusetzen, um positive Auswirkungen zu erzielen. Führungskräfte solcher Unternehmen verstehen, dass man gewinnorientiert arbeiten kann und muss, aber dennoch zugleich nach strengen Standards hinsichtlich sozialer und ökologischer Verantwortung und Transparenz. Sie ermöglichen und unterstützen eine Unternehmenskultur und ein sinnvolles Arbeitsumfeld, in der Mitarbeiter und Geschäftspartner ihr volles Potenzial ausschöpfen, um gemeinsam Besseres zu erreichen.

Sie sehen jeden ihrer Mitarbeiter als Individuum, fördern auch jeden individuell und unterstützen dessen Selbstvertrauen. Es ist ihnen an einer Weiterentwicklung jedes einzelnen gelegenen.

Transformative Leader nutzen Technologie dazu, neue Geschäftsmodelle zu entwickeln, die neue Möglichkeiten und Wachstumschancen bieten, um immer mehr Teile der Welt zu nachhaltigen und autonomen Wirtschaftszentren zu machen.

Nicht eine, nein alle vier dieser Rollen muss ein „exponential and transformative Leader” beherrschen und einnehmen können. Sie sind eng miteinander verwoben und unterstützen sich gegenseitig. Sie kreieren und nähren ein ganzheitliches System des Lernens, um in einer immer komplexer und dynamischer werdenden Welt versteckte Werte zu finden, Neues zu erschaffen und zu skalieren.

Erfolgreiche „Exponential Leader” vermeiden dann die folgenden fünf Fallen, wenn sie ihr Team führen:

  • Das Fehlen von Vertrauen: Obwohl das Thema „Vertrauen” fast schon inflationär in Unternehmen gebraucht wird, fehlt es oft an der ehrlichen Absicht und richtigen Umsetzung. Exponential Leader ermutigen die Mitglieder ihres Teams, zu ihren Schwächen und Irrtümern zu stehen. Eine gute Führungskraft lässt nicht zu, dass daraus Nachteile entstehen oder einzelne Teammitglieder von Kollegen geringschätzig behandelt werden. Dazu ist es nötig, das Bedürfnis nach „Unverwundbarkeit” zu überwinden und dem Drang, in den Augen der Kollegen besser dastehen zu wollen, nicht nachzugeben. Teams, denen es an Vertrauen mangelt, verschwenden unnötig viel Zeit und Energie, um ihr Verhalten und ihre Interaktionen innerhalb der Gruppe zu managen. Dies hat negative Auswirkungen auf Moral und Leistung des Teams.
  • Angst vor Konflikten: Exponential Leader vermeiden den Zustand künstlicher Harmonie. Weil es vielen Menschen immer schwerer fällt, Konflikte offen anzusprechen und konstruktiv zu lösen, ist eine unproduktive Konsenskultur zum Standard geworden. Wenn wir es aber nicht mehr lernen, leidenschaftlich und ungefiltert darüber im positiven Sinne zu streiten, was wir tun müssen, um erfolgreich zu sein, sind wir am Ende. Gerade im Konflikt liegt das Potential zu neuen und großartigen Ergebnissen.
  • Mangelndes Commitment: Eine gute Führungskraft sorgt dafür, dass ihre Mitarbeiter in Meetings ihre auch unbequeme und nicht mehrheitsfähige Meinung auf den Tisch bringen können. Er stellt sicher, dass diese Mitarbeiter gehört und ernstgenommen werden und die Angst vor Konflikten kein Hemmnis ist. Sonst kommen diese Mitarbeiter nicht mit ins Boot. Noch einmal: Konsens ist furchtbar und der Tod von Innovation. Wenn die Führungskraft zulässt, dass bei sensiblen und wichtigen Entscheidungen immer alle „fein” sind, ist am Schluss niemand zufrieden. Stattdessen hilft hier: „Disagree and commit”.
  • Ablegen von Rechenschaft: Gerade unter gleichrangigen Teammitgliedern gibt es oft die Angewohnheit, andere, wofür diese sich verpflichtet haben, nicht in die Verantwortung zu nehmen. Nach dem Motto „Wer bin ich, meine Nase in deine Angelegenheiten zu stecken”, übt sich jeder in vornehmer Zurückhaltung. Sind aber Rollen und Aufgaben eines jeden im Team klar (buy-in and commitment), dann sorgt die Führungskraft dafür, dass sich die Teammitglieder untereinander auch die Umsetzung einfordern. Die Vorlage hierfür findet sich im Mannschaftssport und anderenfalls ist es auch kein Team, sondern ein Haufen von Individuen.
  • Fokus auf’s Teamergebnis: Der Exponential Leader sorgt für klare und transparente Teamziele und lenkt die Aufmerksamkeit des Teams als Einheit auf das Erreichen der Ziele. Dabei wird Anstrengung nicht über Ergebnis gestellt und dem Ego von Individuen kein Raum gegeben. Somit kann der Leader erfolgreich dem politische Taktieren von Mitgliedern im Team entgegenwirken. Das stärkt die Wettbewerbs- und Leistungsfähigkeit des gesamten Teams und damit seine Moral.

Und wenn es darüber hinaus aber noch eine Aufgabe gibt, derer sich eine erfolgreiche Führungskraft verschrieben hat, dann diese hier: Sie sorgt dafür, dass ihre Mitarbeiter glücklich sind. Sonja Lyubomirsky von der University of California, Laura King von der University of Missouri und Ed Diener von der University of Illinois haben in einer Metanalyse mit dem Namen „Does Happiness lead to Success?” über 220 Studien zusammengefasst. Das Ergebnis: Mitarbeitende, die sich als glücklich beschreiben, sind durchschnittlich um 31 Prozent produktiver. Sie verkaufen um 37 Prozent mehr, und sie sind 300 Prozent kreativer als ihre Kollegen, schreibt Sebastian Purps-Pardigol in seinem neuen Buch „Digitalisieren mit Hirn”.

Die Anforderungen, die an eine Führungskraft gestellt werden, die das Prädikat „exponential und transformative” verdient, sind groß. Ebenso sind es die Herausforderungen in den Organisationen, denen eine solche Führungskraft gegenüber steht. Dafür braucht es Menschen, die bereit sind große Aufgaben zu übernehmen. Aber was treibt jemanden an, einen so schwierigen, ungewissen Prozess anzunehmen und dabei zu bleiben? Was solche Führungskräfte kennzeichnet ist dieses hier: Sie haben sich einem Purpose verschrieben, sie folgen einem tiefen Sinn und Zweck.

Ihr Zweck ist es nicht, Geld zu verdienen. Geld verdienen ist ein Ergebnis. Ein Zweck, der auch andere motiviert, ihr Bestes zu geben, folgt immer einem höheren Anspruch und Ziel. Tatsächlich geht es um nichts Geringeres, als die Welt besser zu machen. Sei es durch sinnvolle Produkte und Dienstleistungen, um das Leben von Menschen zu verbessern oder ein Umfeld zu schaffen, in dem wir besser und zufriedener zusammenarbeiten und über uns hinauswachsen können. Dies ist es, was man unter Massive Transformative Purpose, kurz MTP, versteht: Finde etwas, wofür du sterben würdest und lebe dafür. Menschen, die sich einem solchen MTP verschrieben haben, fällt es oft auch leicht, andere für diese Aufgabe zu motivieren.

Und hierbei handelt es sich mitnichten um Esoterik oder Sozialromantik. Der Mehrwert ist in harter Währung messbar, wie die Unternehmensberatung Boston Consulting (BCG) in einer Studie herausgefunden hat: Unternehmen, die sich um ihren Total Societal Impact (TSI) kümmern, sind erfolgreicher. Solche Unternehmen nutzen ihre Kernkompetenzen, um einen positiven Einfluss auf unsere Welt zu nehmen. Und es ist genau diese Art von Exponential Leader, wie sie hier beschrieben wurden, die dafür sorgen, dass aus einem rein profitorientierten Unternehmen ein „Exponential Business” wird.

Laden Sie hier unsere Checkliste herunter. Sie erhalten darin weiterführende Tipps zu dem Thema dieses Artikels. Sie wollen selbst ein Transformative Leadership Mindset in Ihrem Unternehmen etablieren und suchen nach praktikablen Modellen und Vorgehensweisen? Gerne unterstütze ich Sie dabei. Ich freue mich auch über Kommentare und einen anregenden Dialog.

Der Autor

Als Management-Berater, Coach und Business Activist beschäftigt Marc Frey sich seit vielen Jahren mit der Frage, wie Führungskräfte und Unternehmen sich wandeln können, um die Herausforderungen in einer digitalen und komplexen Welt zu meistern. Er ist Mitbegründer der Unternehmens- und Innovationsberatung Simplify Business Innovators im Silicon Valley und Berlin.

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Marc Frey
Simplify Innovators

As Business Activist, Innovation and Change Facilitator and Leadership Coach my passion is to help companies and people growing to the better.